Archiv:Abschied - Geschichte einer Kindheit

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WALTER ISERNHAGEN: ABSCHIED - GESCHICHTE EINER KINDHEIT

Titelbild des Manuskriptes

Copyright by Walter Isernhagen[1]

Langer Lohberg 56, 23552 LÜBECK

Alle Rechte der Verbreitung liegen beim Verfasser.

GESTÄNDNIS

„Wenn ein reuiger Sünder seine Verfehlungen aufrichtig bekennt, kann er auf Gnade hoffen, vor Gericht und auch sonst im Leben. Ein Geständnis sollte aber gleich erfolgen und nicht erst dann, wenn der Übeltäter überführt ist und jedes Leugnen zwecklos wäre.

Deswegen gleich vorweg und ohne Ausflüchte: Hier liegt ein mittelschwerer Fall'von geistigem Diebstahl vor, denn die Grundidee zu diesem Buch stammt nicht von mir, sondern von Miguel Delibes, einem der Großen der spanischen Literatur, mehrfach mit hohen Auszeichnungen versehen.

In Delibes’ Roman „El camino“ (Der Weg) aus dem Jahr 1950 muß der elf- Jährige Daniel, Spitzname „ElMochuelo“ (der Steinkauz), sein geliebtes Dorf irgendwo im ländlichen Spanien verlassen, um in einer benachbarten Stadt auf die höhere Schule zu gehen. Das Werk,- ich lese es 2012 im Original - berührt nicht nur mich. In Spaniens Schulen gehört es zum Lektürekanon. In der Handlung entdecke ich manche Parallelen zu meinem Leben und verwebe Delibes’ Idee mit autobiographischen und fiktiven Begebenheiten.

Of, Don Miguel, wenn Dir das Ergebnis meines Schreibens gefällt, obwohl Du schon seit 2010 nicht mehr unter den Lebenden weilst, und auch Dir, fieber Leser, dann fühle ich mich freigesprochen und kann ruhig schlafen, anders als es Daniel ,El Mo-chuelo“ und seinem deutschen Pendant „Schorsch“ Schneider vergönnt ist.

Walter Isernhagen“


Umbringen müßte man sie. Einfach totschlagen, wenn kein anderer in der Nähe war. Mit einem Knüppel in der Hand von hinten anschleichen, und dann eins über den Schädel, mit voller Wucht. Oder - eine andere Möglichkeit — mit einem Stein totschmeißen, aus der Deckung heraus. Hinter einem Knick lauern, bis sie vorüberkam. Aber was, wenn er nicht traf?

Oder ihr nachspüren und sich merken, wo sie öfter vorbeiging. Dort auf dem Weg eine Grube ausheben. Zur Tarnung ein Gitterwerk aus Zweigen mit Sand drauf. Wenn sie reinfiel, dann von oben eins über den Kopf.

Doch was, wenn ein andrer vorbeikam? Das mit der Grube war auch viel Arbeit. Außerdem sagte die Oma immer: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Also doch irgendwo totschlagen. Das war sicherer. Aber wohin mit der Leiche?

Einfach liegenlassen ging nicht. Darum auf einem Feld verbuddeln, wo der Boden sandig war und leicht zu bearbeiten. Er könnte den Spaten der Mutter nehmen. Vielleicht — auch keine schlechte Idee — die Leiche ins Wasser der alten vollgelaufenen Lehmkuhle schmeißen. Da lagen schon andere drin. So ging zumindest das Gerücht im Dorf. Wenn man Einheimische danach fragte, zuckten die mit den Schultern: Ich weiß von nichts. Hochgekommen war bisher noch keiner. Die Lehmkuhle hatte noch einen Vorteil: Das Wasser war trüb. Von oben wäre die Leiche nicht zu sehen. Sie wäre weg, ein für allemal. Wer aber sollte es machen? Er selber?

Lieber nicht. Besser Spargel. Spargel war ein guter Kumpel. Mehr als das. Sein Blutsbruder. Sie hatten sich mit einem Küchenmesser der Mutter die Hand geritzt und gewartet, bis Blut gekommen war. Hatten dann die Hände aufeinander gepreßt und gesprochen: Mein Blut ist dein Blut, ich will dir treu sein und beistehen, wenn du mich brauchst, für immer und ewig bis in den Tod.

Doch Spargel war dünn und schwächlich. Bei dem konnte man die Rippen zählen. Nomen est omen, sagte die Mutter zu Spargels Spitznamen. Was bedeutete das bloß? Er traute sich nicht zu fragen, sonst kam er sich wieder einmal dumm vor. Richtig hieß Spargel Arthur Koslowski. Spargel - das Gemüse der Könige, sagte die Mutter und fügte hinzu: Mit Butter. Köstlich! Er hatte schon Spargelstangen gesehen, wußte aber nicht, wie sie schmeckten. Sie waren ja keine Könige. Die Koslowskis auch nicht. Die sind Flüchtlinge, sagte die Mutter, und haben noch weniger zu beißen als wir Ausgebombten. Nein, Spargel kam nicht in Frage. Der hatte nicht genug Kraft.

Siggi schon. Der war ein Jahr älter als er und Spargel, war der Dritte ihrer Bande. Siggi war kräftig und gut genährt. Kein Wunder. Siggis Vater besaß einen Hof von über 80 Hektar. Baute Weizen, Roggen, Gerste, Kartoffeln und Rüben an. Hatte Pferde, Kühe, Schweine, Gänse, Hühner, einen Gemüsegarten und Obstbäume. Die Familie Kreher hatte immer was auf dem Teller. Das waren keine Hungerleider wie sie, die Koslowskis und die anderen Flüchtlinge und Evakuierten.

Siggi wäre der Richtige. Der fragte auch nicht lange. Der machte, was er ihm sagte, obwohl er der Jüngere war. Fraß ihm förmlich aus der Hand. Konnte auch Blut sehen. Wenn die Krehers ein Schwein schlachteten, wechselte sich Siggi mit einer Magd beim Blutrühren ab. Den interessierte auch nicht, was Lehrer Kröger ihnen im Religionsunterricht erzählt hatte: Du sollst nicht töten. Ein ganz wichtiges Gebot, Kinder.

Siggi hatte von seinem Vater anderes gehört: Geschwätz, Siegmund! Was weiß Kröger schon von der Welt? Hat sich im Krieg in Klassenzimmern rumgedrückt, der Steißtrommler. War nie an der Front. Die Mutter hielt auch nicht viel von Kröger: Der hat Dreck am Stecken. Der hat schon vor den 1000 Jahren immer den rechten Arm gehoben und laut „Heil Hitler“ gegröhlt. Jetzt — nach ein paar Jahren Entfernung aus dem Dienst — war Kröger wieder Lehrer. Er hob auch wieder den rechten Arm, nun mit einem Lineal in der Hand oder dem Rohrstock. Schlug auf Hände, Rücken und Hinterteile der Kinder.

Siggi konnte ein Lied davon singen: Klatsch, klatsch, klatsch — immer auf den Arsch schlägt mich das gemeine Schwein. Wenn ich Blödsinn gemacht habe.-Manchmal auch nur, wenn ich mit den doofen Zahlen wieder mal durcheinander komm oder nicht weiß, wie was geschrieben wird. Zu Hause kann ich nichts sagen. Sonst krieg ich nochmal Senge von meinem Alten. Ja, Siggi konnte einstecken. Teilte auch tüchtig aus, wenn einer ihn ärgerte. Kannte auch keine Angst. Doch Siggi konnte ihm nicht mehr helfen.

Er mußte sie wohl selbst um die Ecke bringen. Nur — da gab es diese Geschichte aus der Bibel. Die hatte ihnen Kröger vorgelesen: Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir. Verflucht seist du! Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.

Er hatte etwas nicht verstanden: Herr Kröger, unstet — was heißt das? Wenn man nirgends richtig zu Hause ist, Georg. So etwas Ähnliches wie flüchtig. Das Wort kennst du doch? Ja, das kannte er. Fliehen. Flüchtig. Flüchtlinge. Das waren Spargel und dessen Familie und all die anderen mit den komisch klingenden Namen, die Anczykowskis, Gottlinskis und Schlonskis. Auch Vera Kowalski, die mit ihnen im selben Haus wohnte. Die waren geflohen. Vor den Russen. Damals — im Krieg. Der war nun schon fünf Jahre her. Doch vor den Russen hatten viele immer noch Angst. Brauchst du nicht zu haben, hatte Spargel ihm erklärt. Zu Kindern sind die nett. Aber die Männer schießen sie tot. Wie meinen Vater. Und was sie mit den Frauen machen... Spargel verstummte und hielt sich den Mund zu. Was denn, Spargel? Darf ich nicht sagen. Hat meine Mutter mir verboten.

Krögers Stimme hallte in ihm nach: Brudermord ist die größte Sünde, die es gibt, Kinder. Dabei hatte Kröger den rechten Zeigefinger zum Himmel gestreckt.

Wie aber war es bei einer Schwester? Seine Schwester war schließlich schuld an allem. Seine Schwester Dorothea, kurz Doro genannt. Die Schule war auch schuld. Wenn Doro und die Schule nicht wären, würden sie nicht aus Hohenfelde wegziehen. Er, Doro, die Mutter und die Oma. Morgen früh ist es so weit, hatte die Mutter gesagt, als sie sich schlafen legten. Dann holt uns Onkel Paul Ratjen mit seinem Leiterwagen ab und bringt uns zum Bahnhof von Neudorf. Ab da fahren wir mit dem Zug.

Es war seine letzte Nacht in Hohenfelde. Zu spät, um Doro zu beseitigen. Weg aus Hohenfelde, seinem Hohenfelde. Ihm war zum Heulen zumute. Ein deutscher Junge weint nicht, sagte Lehrer Kröger immer, wenn er zum Rohrstock griff. Sagt mein Alter auch, meinte Siggi, wenn er mich verdrischt. Georg kniff die Lippen zusammen, drehte sich auf die Seite und versuchte, einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Er wälzte sich hin und her, her und hin, drehte sich schließlich auf den Rücken und starrte zur Decke. Es begann wieder von vorn, kreiste in seinem Kopf: Doro und die Schule. Die Schule und Doro. Doro, die schon lesen, schreiben und rechnen konnte, ehe sie eingeschult wurde. Hatte die Oma ihr beigebracht: Das Kind ist ja so wißbegierig und nimmt so leicht auf.

Nach drei Wochen in der ersten Klasse kam Lehrer Kröger bei ihnen vorbei: Frau Schneider, Ihre Tochter ist ein überaus begabtes Mädchen. An allem interessiert, was die Schule zu bieten hat. Dazu eifrig und aufmerksam. Den anderen ihrer Altersstufe weit voraus. In der ersten Klasse langweilt sie sich nur. Ich schlage vor, sie gleich in die zweite zu übernehmen.

Doro und die Schule. Doro bestaunt, bewundert, gelobt. Das beste Diktat — Lehrer Kröger hob die Stimme — wie immer Dorothea Schneider. Glückwunsch, Dorothea! Deine Rechenarbeit, Dorothea, wieder ohne Fehler. Wie du das Gedicht aufgesagt hast, Dorothea, ausgezeichnet! Zu Hause ging es weiter. Die Oma: Gut gemacht, Doro! Die Mutter: Ich bin stolz auf dich, mein Kind! Stolz auf eine Stubenhockerin, eine, die sich bei schönstem Wetter hinter Büchern verkroch. Und das freiwillig. Nicht etwa bei Stubenarrest. Geradezu abartig! Und was war mit ihm?

Er kannte alle Pilze, die in den Wäldern um den Thingberg wuchsen. Sie dagegen konnte nicht einmal einen Knollenblätterpilz von einem Champignon unterscheiden. Hätte die Knollis glatt gesammelt und sie alle vergiftet. Er wußte auch, wann es so weit war, Beeren zu sammeln. Dann schwärmte er aus, die Milchkanne in der Hand. Brombeeren wuchsen am Wegesrand. Himbee11 ren im Wald. Fliederbeeren in den Knicks. Blaubeeren gab es auf dem Thingberg. Die Oma kochte daraus Marmelade oder machte Saft.

War das alles nichts? Sicher, auch ihn lobte die Mutter: Hast du fein gemacht, Georg! Doch es klang, fand er, anders als bei Doro. Nicht so stolzerfüllt. Er kam ein Jahr später als Doro zur Schule. Sie hatte damals gejubelt. Er tat es nicht. Still sitzen, aufpassen, Lesen, Schreiben und Rechnen lernen: Wozu sollte das gut sein? Bei Sonnenschein eingesperrt sein: Warum eigentlich? Tun, was Lehrer Kröger anordnete: Weswegen? Dazu kamen die lästigen Hausaufgaben.

Entwischte er nach dem Mittagessen hinaus zum Spielen, rief ihn die Mutter: Ge-org! Er stellte sich taub. Gee-org!! Er reagierte nicht. Dachte: Laß sie doch rufen. Geee-org!!! Ihr dritter Ruf war so durchdringend und laut wie eine Luftschutzsirene. Ein ihm aus dem Krieg vertrautes Geräusch. Ein Geräusch, das Gefahr bedeutete. Es war wohl besser, wenn er jetzt nach Hause ging.

Die Mutter zeigte an die Wand: Georg, dort hängt die Rute. Wer nicht hören will, muß fühlen. Erst die Hausaufgaben, dann darfst du raus. Er wußte, sie drohte nur, schlug nicht. Aber er wollte nicht, daß sie ihn mit traurigen Augen ansah und sagte: Georg, in diesen harten Zeiten darfst du mir keinen Kummer machen. Das ertrag ich nicht. Er holte seine Schulsachen hervor, kritzelte in seinem Heft herum oder versuchte zu lesen. Ohne Eifer. Lustlos. Mit den Gedanken draußen bei Spargel und Siggi. Abends im Bett wollte er von der Welt nichts mehr wissen, umzingelt von Frauen, der Mutter und der Oma, die ihn beide nicht verstanden, und einer Schwester, die eine Streberin war. Was für ein Los! Er allein gegen ihre Übermacht.

Einmal - er hatte die Decke über den Kopf gezogen und war kurz vor dem Einschlafen - hörte er, wie die Oma und die Mutter miteinander flüsterten und sein Name fiel. Oma, hörte er die Mutter sagen, was ist mit dem Jungen? Das Mädchen macht sich so gut. Er dagegen tut sich so schwer. Besonders beim Lesen. Er stockt. Stottert herum. Will er nicht? Oder kann er nicht? Ob er etwa dumm ist? So - für dumm hielten sie ihn. Nur weil er anders war. Anders als Doro. Doro — das Wunderkind. Doro — die Prinzessin. Doro - aller Leute Liebling. Grete, sagte die Oma, ich werde ihn mir vornehmen.

Am nächsten Morgen rief sie ihn zu sich: Georg, siehst du hier die Trillerpfeife? Ab sofort bleibst du in Hörweite. Wenn ich pfeife, kommst du rein. Dann üben wir das Lesen. Was ist das für ein Stück, bei dem ihr in der. Schule gerade seid? Da kommen viele drin vor, Omi. Aha, beim Buchstaben I seid ihr also. Noch einmal: Bei einem Pfiff kommst du rein. Versuch nicht auszubüxen! Sonst setzt es was! Verstanden? Er merkte, die Oma meinte es ernst. Als sie pfiff, ging er ins Haus: Spargel und Siggi, ich muß jetzt rein. Bin aber bald wieder da. Ihr wartet doch auf mich, nicht? Die Fibel lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Lies jetzt! sagte die Oma.

Hei-, Hei-, Heini und die In-, In-, di-, aner... Das muß besser werden, Georg. Noch einmal von vorn. Viel besser wurde es nicht. Noch einmal, Georg! Nach einer Weile durfte er wieder zum Spielen. Bis zum nächsten Pfiff. Hei-, Hei-, Heini u-, und die In-, In-, di-, dia-, dianer... Georg, das war janoch schlechter als vorhin. Gib dir mehr Mühe! Für heute soll es aber genug sein. Morgen geht es weiter. Er erzählte Spargel und Siggi von seinen Leiden. Siggi lachte: Dich halten sie für dumm? Dich? Quatsch! Ich, ich bin dumm. Weiß ich selbst. Hat auch mein Alter gesagt. Siegmund, hat er gesagt, du bist so dumm wie Bohnenstroh. Dein älterer Bruder ist tot, und du bist so ein Dämlack. Womit hab ich das bloß verdient? Was soll aus dem Hof werden? Mich hat der Alte auch zum Lesen verdonnert. Frau, hat er zu meiner Mutter gesagt, nimm ihn ran! Mit der Fibel von seinem Bruder. Nicht mit dieser neumodschen von den verdammten Engländern, dieser Mörderbande! Wochenlang hat meine Mutter mit mir geübt. Der Alte immer dabei. Bei A ging’s los. Weiß ich noch wie heute: SA, SA, SA ist da, hurra SA. Hab ich gestockt oder gestottert, hat mir der Alte eins übergezogen. Geholfen hat's aber nicht. Hab’s dann erst recht nicht gekonnt. Schließlich hat er aufgegeben.

Die Oma schlug nicht. Hatte — wie die Mutter - nur gedroht. Nach zwei Wochen war sie mit ihm zufrieden: Na siehst du, Georg, es geht doch. Merk dir: Ohne Fleiß keinen Preis. Preise wollte er nicht gewinnen. Aber auch nicht erneut nach einem Pfiff der Oma zum Lernen antreten müssen. Er tat das Nötige, daß die Mutter und die Oma ihn in Ruhe ließen. Machte sich im Lauf der Zeit sogar ganz gut. Kam in die zweite Klasse, danach in die dritte. Die Schule war kein Thema mehr, bis vor einigen Wochen. Sie hatten abends zusammengesessen: die Oma, die Mutter, Doro und er. Kinder, sagte die Mutter, ich muß euch etwas mitteilen. Es ist allerhöchste Zeit, daß Doro aufs Lyzeum kommt.

Mutti, fragte er, was ist das, ein Lyzeum? Eine höhere Schule für Mädchen. Da lernt sie mehr als hier auf der Dorfschule. Viel mehr. Hoffentlich wird sie noch genommen. Das Schuljahr hat ja schon begonnen. Sie käme dann in die Sexta. Sexta? Komisch, dachte er. Hatte sie nicht gerade mit der fünften Klasse begonnen? Oder hatte sie wieder eine übersprungen, das Wunderkind? Wir können, sagte die Mutter, aber erst im nächsten Monat zurück in die Stadt. So Ende Mai. Der Krieg hat Altkirchen so zerstört, daß der Wiederaufbau nur langsam vorangekommen Äst.

Aber jetzt kriegen wir dort eine Wohnung. Drei Zimmer mit Küche, Speisekammer und Toilette. Müssen nicht mehr in so einem Loch wie hier wohnen. Zu viert in einem Raum. Keine richtige Küche. Nur ein abgetrennter Verschlag mit einem Herd. Im Zimmer ein Ofen, der nichts taugt. Ein Schornstein, der nicht richtig zieht. Kein fließend Wasser. Kein Klo. Immer mit dem Eimer nach draußen zur Klärgrube. Selbst im Winter. Das ist nun bald vorbei. Endlich! Zurück in die Stadt! Ist das nicht schön, Kinder? Ihr freut euch doch mit der Oma und mir, nicht wahr? Freute er sich?

Was ihn in der Stadt sonst erwartete, wußte er nicht. Auf jeden Fall Unbekanntes. Menschen und Wege, die ihm fremd waren. Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er als kleiner Junge mitbekommen, wenn auch nicht unbedingt verstanden hatte. Jetzt war er ja schon groß. Im Herbst neun Jahre alt. Kurz vor Kriegsende war es gewesen. Zu Hunderten hatten die Soldaten in den Wäldern um den Thingberg gelegen. Hatten auf das Ende des Krieges gewartet. Hatten sich die Zeit mit Unterhaltungen vertrieben. Einer hatte gesagt: Vorsicht, Kamerad, auf unbekanntem Gelände! Wegen der Minen. Ganz übel war es in Afrika, in der Wüste. Überall Minen der Tommies. Trittste auf so'n Teufelsding: Rums! Die Ladung von unten in die Eingeweide. Kein schöner Tod. Hoffentlich ist bald Schluß mit dem ganzen Feuerzauber! Georg, sagte die Mutter, du guckst so komisch. Freust du dich nicht? Er wußte nicht, was er hätte antworten können. Einige Tage später sprach sie ihn an: Vor dem Umzug habe ich in Altkirchen noch was zu erledigen, Georg. Du kannst morgen mitkommen, wenn du magst. Und die Schule? Lehrer Kröger hat dir frei gegeben. So kommt der Junge mal raus aus dem Dorf, hat er gesagt. Doro bleibt hier. Sie muß mit Oma für die Aufnahmeprüfung am Lyzeum üben. Wir nehmen in Neudorf den Zug. Eisenbahn fahren, das ist doch was für dich, oder? Doro bleibt hier? Ja, Georg. Fein, dachte er, dann habe ich die Mutti ganz für mich.

Bis Neudorf gingen sie zu Fuß. Nicht ganz drei Kilometer. Neudorf kannte er. Neudorf - für ihn die große, weite Welt. Fast 1100 Einwohner. Geschäfte. Die Kirche. Die Sparkasse. Die Feuerwehr. Der Posten der Gendarmerie. Fünf Mann stark, für den ganzen Bezirk zuständig. Darunter Wachtmeister Rudi Otte. Der kam ab und an in Hohenfelde vorbei. Saß auf seinem Dienstrad, Marke Brennabor, an der Leine Schäferhund Hasso. Schon der zweite seines Namens. Dann gab es noch Baumanns Landmaschinenhandel, die Ziegelei, die Tankstelle, zwei Gaststätten (Zur Eiche und Zur Ziegelei), das Bahnhofshotel und schließlich - leider! - den Salon von Willy Nottelmann, dem Friseurmeister.

Zu ihm mußte die Mutter ihn fast gewaltsam schleppen: Georg, deine Haare sind wieder viel zu lang und ganz verwildert. Da geht ja kaum noch ein Kamm durch. Runter mit der Wolle! Und keine Widerrede! Er protestierte trotzdem. Manchmal ließ sich sein Widerstand nur durch Bestechung überwinden: Danach darfst du dir auch ne Brause kaufen.

Nottelmann schor ihn wie ein Schaf. Raunzte ihn an: Nun zappel nicht so rum! Nach der Schur der Blick in den Spiegel. Beinahe Glatze. Nur noch Borsten wie bei einem Schwein, das man geschlachtet hatte, bevor man sie durch Abbrühen von der Schwarte löste. Seine langen blonden Haare lagen auf dem Fußboden herum, unwiederbringlich verloren, von Nottelmann als lästiger Abfall beiseite gefegt. Guck mal, Mutti, rief er, wie ich ausseh! Schrecklich! Stell dich nicht so an, Georg! So mußt du nicht so oft zu Meister Nottelmann. Das kommt dann billiger. Merkwürdig nur, daß sie dem immer einen Groschen Trinkgeld gab: Für die Mühe, die er Ihnen macht, Herr Nottelmann. Der Zug fuhr ein. Sie stiegen in einen Wagen dritter Klasse. Holzklasse. Er zog das Fenster herunter, sah hinaus. Auf dem Bahnsteig stand ein Mann in Uniform und rief: Zurücktreten von der Bahnsteigkante! Dann pfiff er und hob eine grüne Kelle. Der Zug ruckte kurz, nahm dann Fahrt auf. Der Bahnhof blieb zurück, wurde kleiner und kleiner. Die Telefondrähte an den Pfosten neben den Gleisen schwangen auf und nieder.

In Hohenfelde versammelten sich auf den Telefondrähten im Spätsommer immer die Schwalben und zwitscherten vor sich hin. Berieten sie, welchen Weg sie auf ihrem Flug nach Süden nehmen sollten? Im Frühjahr kamen sie wieder. Jedes Jahr. Die Störche waren schon vor ihnen da. Dann sangen die Kinder: Storch, Storch, guter, bring mir einen Bruder! Oder auch: Storch, Storch, bester, bring mir eine Schwester! Das sang er nicht mit. Noch eine Schwester? Bloß nicht! Mit Doro hatte er schon mehr als genug.

Ob es in der Stadt auch Störche und Schwalben gab? Draußen zog der Rauch der Lokomotive vorbei, wehte auch ins sonst noch schmutzig! In Altkirchen stiegen sie aus. Ein Strom von Menschen spülte sie eine Treppe hinunter, einen Tunnel hindurch, an einer Sperre vorbei und zerteilte sich vor dem Bahnhof in einzelne Rinnsale. Auch hier auf dem Bahnhofsvorplatz Menschen, Menschen, Menschen.

Wo die nur alle herkamen? Er fühlte sich bedrängt und holte tief Luft. Die war anders als in Hohenfelde. Stickig. Staubig. Sie roch auch anders. Nicht nach Abteil. Mach das Fenster zu, Georg, sagte die Mutter, wir werden gemähtem Gras, nach Pferden, Kühen oder Schweinen. Sie roch nach Rauch, dem Rauch der Schornsteine von Fabriken. Die Menschen sahen auch anders aus. Nur wenige waren in Arbeitskleidung. Viele feiner angezogen als sie. Manche drängten sich an ihnen vorbei, rempelten sie beinahe an und hasteten weiter. Warum hatten die es so eilig?

Zwei Frauen standen ihnen im Weg und unterhielten sich. Die Mutter und er machten einen Bogen, um ihnen auszuweichen. Wieso grüßten die beiden nicht?

In Hohenfelde kannten sich alle und grüßten sich. Moin, sagten die Einheimischen. Die Flüchtlinge sagten: Ech wünsche eenen juten Morjen. Mancher Bauer tippte auch nur stumm mit zwei Fingern an die Mütze, wenn ihm ein Anczykowski, Gottlinski, Koslowski oder Schlonski begegnete. Siggis Vater sah zur Seite und knurrte: Hergelaufenes Bettelpack! Das Bettelpack ballte die Faust in der Tasche.

Die Oma und die Mutter waren zu jedem gleich freundlich: Guten Morgen! Guten Tag! Oder: Guten Abend! Je nach Tageszeit. Doro machte vor Erwachsenen ein Knicks. Er mußte oft ermahnt werden: Mach einen Diener! Und nimm die Hand aus der Hosentasche, wenn du Onkel Paul begrüßt! Immer diese Befehle! Er gehorchte widerwillig. Die Bekannten der Oma und Mutter waren allesamt in den Rang von Onkeln und Tanten erhoben. Ihnen war mit Respekt zu begegnen. Onkel Paul, der Bauer Paul Ratjen vom Hof gegenüber, strich ihm dann über den Kopf und sagte: Na, mien Jung, wo geiht di dat? Geiht so, antwortete er dann. Sie hatten den Bahnhofsplatz überquert und bogen in eine breite Straße ein. Auf der Straße Autos. Personenwagen. Lastwagen. Einmal ein Omnibus. Die Mutter nahm ihn bei der Hand: Georg, du bleibst bei mir. Nicht, daß du einfach so über die Straße läufst! An der Hand der Mutter laufen, das mochte er nicht. Er war doch kein kleines Kind mehr. Zur Linken und Rechten Häuser. Dicht an dicht. Aber keine Gärten davor. Ob die dahinter lagen?

Er wollte es erkunden und zerrte an der Hand der Mutter. Doch sie ließ ihn nicht los. Dann drei Trümmergrundstücke. Auf einem Schild die Aufschrift: Betreten verboten. Einsturzgefahr! Danach ein Baugerüst. Auf dem Bürgersteig ein Stapel Ziegel. Er hätte den Maurern gern bei der Arbeit zugesehen, doch die Mutter zog ihn weiter.

Ein Fuhrwerk rasselte heran. Gezogen von großen, kräftigen Pferden mit dicken Hinterbacken. Er kannte sich aus: Schleswiger Kaltblüter. Gutmütig im Wesen. Geduldige Arbeitstiere. Sie zogen einen mit Fässern beladenen Wagen. Holsten Bier stand darauf. Vor einer Gaststätte hielt das Gespann. Zwei Männer mit Lederschürzen stiegen vom Kutschbock und wuchteten ein Faß von der Ladefläche. Einer der Zossen nutze die Pause, um sich zu erleichtern. Die Pferdeäpfel klatschten aufs Pflaster und bildeten einen Haufen. Er blieb stehen: Mutti, guck mal! In Hohenfelde hätte sie gesagt: Wie schön! Dünger für unser Gartenstück. Hol schnell Kehrblech und Handeule, Georg! Hier sagte sie: Nun komm schon!

Steckte Eile an, so wie Mumps und Masern? Sie bogen von der Straße ab und erreichten eine freie Fläche. Die Mutter blieb stehen, ließ ihn los und sagte: Hier stand unser Haus. Sie wies auf eine Stelle mit Resten von Grundmauern, schwärzlich verfärbt, von Unkraut und niedrigem Gebüsch überwuchert. Hier? fragte er. Ja, hier, sagte sie. Im Oktober 1944 wurde es zerstört. Mittags kamen die Amerikaner und warfen Brandbomben. Wir saßen im Keller. Du, Doro, die Oma und ich.

Die Treppe nach oben fing an zu brennen. Da war kein Durchkommen mehr. Wir sind aber noch heil rausgekommen. Durchs Kellerfenster. Luftschutzhelfer, Jungen von der Hitlerjugend, haben uns rausgezogen. Erst dich und Doro. Danach die Oma. Zuletzt mich. Nicht lange danach fiel das Haus brennend zusammen. Du warst noch klein. Nicht mal drei Jahre alt und weißt nichts mehr davon. Das ist auch besser so.

Sie hatte recht. An den Angriff hatte er nicht die geringste Erinnerung. Wohl aber an die Zeit danach. Vergessen geglaubte Bilder, aufbewahrt in einer Kammer seines Gedächtnisses. Beim Anblick der Stelle, wo ihr Haus gestanden hatte, tauchten sie wieder auf. Ähnlich wie in dieser Nacht, der letzten in Hohenfelde, andere Ereignisse aus seinem Leben.

Damals kämpfte er jede Nacht um den Schlaf. Monatelang. Hatte er endlich Ruhe gefunden, dauerte es nicht lange, bis er einen Druck auf der Brust fühlte, so als ob jemand auf ihm kniete. Hände griffen nach seiner Kehle, schnürten sie zusammen und nahmen ihm den Atem. Er wachte auf. Wollte schreien. Es wurde nicht mehr als ein Röcheln. Er sah zum Fenster. Ersehnte die Strahlen der Morgensonne. Hoffte, das Licht könnte das Gespenst verjagen. Vergeblich. Es war noch tiefste Nacht. Wohin? Wohin?

Er flüchtete zur Mutter. Kroch zu ihr ins Bett. Sie wurde wach: Georg, du? Was ist mir dir? Mich würgt, stammelte er, mich würgt. Was denn? Weiß nicht, aber mich würgt. Sie nahm ihn in die Arme, wiegte ihn an ihrer Brust: Nun bist du doch bei mir. Niemand kann dir jetzt was tun. Er spürte ihre Wärme, beruhigte sich und schlief ein.

In dieser Nacht griff wieder etwas nach seiner Kehle. Damals war er drei. Jetzt bald neun. Sollte er wieder bei der Mutter Schutz und Trost suchen? Nein! Sie war ja auch schuld, daß sie aus Hohenfelde wegzogen. Nicht nur Doro.

Er starrte auf das Gras, das Unkraut, die Büsche, die Mauerreste. Die Mutter stieß ihn an: Träum nicht, Georg! Wir müssen weiter. Er griff nach ihrer Hand. Sie kamen an einen Teich. Schwäne gründelten auf der Suche nach Nahrung. Ein Schwan befand sich auch im Wappen der Stadt. Dazu Fabrikgebäude und ein Nesselblatt. Nach Hohenfelde verirrte sich selten ein Schwan. Wenn doch - so landete er auf dem kleinen Feuerlöschteich im Zentrum des Dorfs, rastete kurz und flog danach enttäuscht weiter. Hier fühlten sich die Schwäne offenbar zu Hause. Den Teich entlang führte eine Allee. Ab und zu fehlte ein Baum, wo vorher eine Linde gestanden hatte. Nur noch ein kahler Stumpf war zu sehen.

Hatten die Bewohner die Bäume gefällt und verheizt? Am Ende der Allee gabelte sich die Straße. Links lag ein weiter, ovaler Platz, auch er war von Linden umsäumt. Buden. Stände. Menschengewühl. Stimmengewirr. Der Wochenmarkt, sagte die Mutter. Er zog an ihrer Hand. Heut, sagte sie, haben wir keine Zeit dafür. Aber wenn wir hier erst wohnen, gehen wir auch zum Markt. Du darfst dann mitkommen.

Sie hielten sich halbrechts. Die Bomben hatten auch in dieser Straße Lücken in die Bebauung gerissen. Einmal standen von einem Haus nur noch Teile der geschwärzten Seiten- und Rückenmauern. Die Ruine erinnerte ihn an einen der Zahnstummel im Mund des Hohenfelder Altenteilers Egon Heeschen. Ein andermal war ein Haus abgetragen bis auf die Decke über dem Keller. Nicht betreten! Decke hält nicht! — warnte eine Inschrift in grellroten Buchstaben auf einer Holztafel. Daneben lag - bereit zur Wiederverwendung - ein Haufen alter Ziegel, der Mörtel sauber abgeschlagen.

Die Straße zog sich hin. Ihn drückten die Schuhe. Gern wäre er barfuß gelaufen. Warm genug war es schon. Aber die Mutter hatte gesagt: Für die Stadt ziehst du deine neuen Schuhe an! Sein Widerspruch war erfolglos geblieben. Das Pflaster der Bürgersteige war glatt und eben, anders als die holprigen Katzenköpfe der Dorfstraßen in Hohenfelde. Wie es sich wohl barfuß anfühlte?

Wenn die Sonne auf die Feldwege in Hohenfelde schien, wärmte der Sand die Fußsohlen, quoll zwischen den Zehen hindurch und kitzelte. Georg fühlte sich dann mit der Erde verbunden, wurde ein Teil von ihr. Ende des Spätsommers, sobald es kühler wurde, befahl die Mutter: Schluß mit dem Barfußlaufen! Sonst erkältest du dich noch. Von nun an ziehst du Klappersandalen an. Bei Regenwetter feste Schuhe. Klappersandalen mußten auf den Gehwegen hier in der Stadt lustig klingen: Klack, klack, klack! Aber auch die hatte die Mutter ihm verboten: Das ist nichts für Altenkirchen. Wenn uns jemand begegnet, den ich kenne, und du in Klappersandalen... Nein! Du ziehst die neuen Schuhe

Sie kamen an einen Bahndamm. Die Straße führte unterdurch. Oben ratterte ein Zug vorbei. Die Bahnlinie nach Hamburg, sagte die Mutter. Hamburg - das ist eine richtig große Stadt. Viel, viel größer als Altkirchen. Ihm war schon Altkirchen zu groß. Die Bebauung franste aus. Weniger Häuser. Kaum noch Ruinen. Vor einem Neubau blieb die Mutter stehen. Das Haus war hoch. Höher als alle Häuser in Hohenfelde oder Neudorf. Er blickte nach oben und fing an zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf. Fünf Stockwerke, Mutti. In welchem wohnen wir? Sie zeigte auf drei Fenster im Parterre: Da. Aber wir können noch nicht in die Wohnung. Die Handwerker sind noch bei der Arbeit. Neben der Eingangstür war eine Nummer an der Hauswand: 103. In Hohenfelde trugen die Häuser keine Nummern. Hier, dachte er, waren sie wohl notwendig. Schon wegen der Briefträger. Die konnten ja nicht alle Leute kennen wie ihr Dorfbriefträger Hamkens.

Das Haus war ein schlichter Bau aus rotem Backstein. Die Architektur bestimmt vom Mangel. Das Mauerwerk der großen Höfe in Hohenfelde verzierten Schmuckbänder mit gemauerten Zeichen: Glücksbringer, Abwender allerlei Übel wie Feuersbrunst und Mißernten. Zeichen aus heidnischer Zeit, wie das Donars, der mit dem Wurf seines steinernen Hammers die Äcker segnete. So hatte es ihnen Lehrer Kröger erklärt. Die Giebel krönten zwei Pferdeköpfe, aus Holz geschnitzt.

Die Straße vor dem Haus ähnelte den Dorfstraßen Hohenfeldes. Kein sauber verlegtes Pflaster wie im Zentrum. Keine Bürgersteige aus Klinkern. Vor dem Haus als gewalzter Gehweg nur ein Sandstreifen. Autos waren bisher noch nicht vorbeigekommen. Nur Radfahrer. Die Mutter ließ ihn los: Georg, gleich hier um die Ecke ist das Büro der Baugesellschaft. Da hab ich kurz was zu erledigen. Du kannst dich inzwischen etwas umsehen. Aber Vorsicht, wenn du über die Straße gehst! Augen auf! Erst nach links, dann nach rechts gucken! Dann ließ sie ihn allein.

Er ging ein Stück stadtauswärts. Kam zu einem Knick. Ein grüner Wall gegen den Wind. Auch Schutz für die dahinter liegenden Kleingärten. Vom Knick auf der Straßenseite gegenüber war nur noch der Wall vorhanden. Das Buschwerk hatten die Städter abgeholzt und verfeuert. Hinter dem Wall lag eine Koppel ohne Zaun, Pferde oder Kühe. Ein Teil lag brach, der andere war in Gartenland umgewandelt, in kleine Parzellen zur Selbstversorgung. Einige waren aufgegeben worden und verwilderten. Die Mehrzahl war frisch bestellt. Wer wußte schon, wie die Zeiten noch einmal werden würden?

Ein Mann kam über die Koppel. Weißhaarig. Mit schleppendem Gang. Bückte sich, rupfte etwas aus dem Gras, tat es in einen Korb, ging ein Stück und bückte sich wieder. Georg wurde neugierig und lief über die Straße, ihm entgegen. Er vergaß ganz, nach rechts oder links zu gucken. Wenn das die Mutter gesehen hätte! Vor dem Alten blieb er stehen. Wie sollte er ihn anreden? Mit du und Onkel? Oder mit Sie wie Lehrer Kröger?

Der Alte lächelte: Na, mein Jung. Was willst du? Georg entschied sich für das Du: Du, Onkel, was machst du hier? Löwenzahn sammeln. Hast du Kaninchen? Ja. Viele? Einen Rammler, ne Zippe und sechs Junge. Wo hast du die denn? Der Alte zeigte auf ein Haus in der Nähe: Da. Hinten auf dem Hof. Letztes Jahr stand der Stall noch hier auf unserem Gartenstück. Aber dann hat ihn nachts jemand aufgebrochen. Die Kaninchen waren alle weg. Nun steht der Stall hinter dem Haus. Wenn es dunkel wird, geh ich noch mal raus und guck nach. Willst du die Kaninchen mal sehen?

Was sollte er antworten? Du bleibst hier, hatte die Mutter gesagt, bis ich wieder da bin. Geht nicht, sagte er, ich muß auf meine Mutti warten. Aber wir wohnen bald hier. Dann sehen wir uns bestimmt wieder, sagte der Alte. Wenn du willst, schenk ich dir eins von den Jungen. Pferde gibt es hier nicht, dachte Georg. Kühe auch nicht. Immerhin Kaninchen. Vielleicht hatte er selber bald eins. Ob die Mutter das erlauben würde?

Dann stand sie vor ihm: Alles erledigt, Georg. Zurück zum Bahnhof! Wir müssen uns aber nicht beeilen und können uns unterwegs noch Doros neue Schule ansehen. Der Alte war weggegangen und suchte weiter nach Löwenzahn.

Drei Wochen war das nun her. Doro und die Schule. Die Schule und Doro. Immer dasselbe. Immer im Kreis. Wie Karussell fahren. Eine Runde. Noch ne Runde. Noch eine. Bis das Karussell in seinem Kopf zum Stehen kam und er einschlief. Es krachte. Georg schreckte hoch. War wieder wach. Was war das gewesen? Ein Schuß? Waren die Russen da? Standen sie schon vor der Tür, das Gewehr im Anschlag? Es war nur der Ofen. Einer der Buchenscheite war geborsten. Diese elende Schafskälte, hatte die Oma gestern geschimpft. Und das am letzten Tag hier. Es hilft nichts, Grete, wir müssen noch mal einheizen. Die Kinder sind ja so empfindlich.

Doro war aus seinen Gehirnwindungen verschwunden. Die Schule war noch da. Sein erster Schultag — wie war das damals noch? Ja, so war es gewesen. Die Mutter hatte ihn an die Hand genommen: Ab heute gehst du zur Schule, Georg. Ich bring dich hin. Sie traten aus dem Haus, Marie Ratjen vom Hof gegenüber zur gleichen Zeit. Als Frau von Onkel Paul Ratjen natürlich zum Kreis der Nennverwandtschaft gehörend. Für ihn damit Tante Marie. Sie hatte ihre Tochter Elisabeth an der Hand, einen Monat jünger als er. Sie wurde heute ebenfalls eingeschult.

Elisabeth nannte niemand sie im Dorf. Mit zwei Ausnahmen. Der von Lehrer Kröger und ihrer Mutter, wenn diese verärgert war N und es ihre Tochter spüren lassen wollte. Der Rest der Welt sagte Lischen zu ihr. Mit weichem Sch. Tante Marie mißfiel die plattdeutsche Kurzform des Namens. Lischen — das war ihr zu bäurisch breit mit diesem zerfließenden Zischlaut. Und das, norddeutsch ausgesprochen, lag zu dicht bei einem Ü. Lischen?

Gar Lüschen? Nein! Schließlich gehörte den Ratjens der zweitgrößte Hof im Dorf, und Elisabeth war ihr einziges Kind, die Thronerbin sozusagen. Doch sie bei ihrem Taufnamen zu rufen ging auch nicht. Hohenfelde und E-li-sa-beth? Das paßte nicht zusammen. Das klang zu abgehoben. Würde böses Blut machen: Was bildet Marie Ratjen sich nur ein? Denkt die, dass sie was Besseres ist? E-li-sa-beth? Da lachen ja die Hühner! Wi seggt Lischen to dat Gör. Und dorbi blifft dat! Nicht für Tante Marie. Sie rief ihre Tochter Lis-chen. Mit einer kurzen Kunstpause nach dem Lis-. Das -chen schob sie nach. dörflicher Enge im Geistigen und ihrem Streben nach Höherem. Ein, so meinte sie, geglückter Kompromiß zwischen plattdeutsch frei von der Gefahr, sich damit dem Dorfklatsch auszusetzen.

Guten Morgen, Marie, sagte die Mutter. Wünsch ich dir auch, Grete. Ischa heut ein großen Tag für unse beiden. Und zu ihrer Tochter: Inne Schule sprech du, Lis-chen, immer Hochdeutsch, so wie ich es jetzt tu. Lehrer Kröger lernt euch das. Georgs Mutter verzichtete darauf, Tante Marie zu verbessern. Die Oma sagte immer: Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmermehr. Lis-chen, sagte Tante Marie, willst du Georg nicht begrüßen? Moin, Schorsch! E-li-sa-beth! Wie heißt das? Sprech Hochdeutsch! Gu-guten Morgen, Schorsch, piepste Lischen. Für die Erwachsenen war er Georg. Für die Kinder Schorsch. Das ließ Tante Marie durchgehen. Schorsch klang nicht so steif wie Georg. Schorsch — das war kurz und knapp. Moin, Lischen, sagte er. Lischen — wie im Rummelpottlied. Aber das sangen sie erst im Winter, am Altjahrsabend, nicht jetzt im April.

Ihr habt zur Schule doch denselben Weg, Georg, sagte die Mutter. Geht doch gemeinsam! Und faß Lischen bei der Hand! Er verzog das Gesicht. Mit einem Mädchen Hand in Hand gehen? Er nicht. Sonst spotteten noch die andern Jungs: Hast dir ne Feundin angelacht, Schorsch? Und ausgerechnet die trutschige Lischen Ratjen? Trutschig — das war das richtige Wort für sie. Schüchtern war sie manchmal, fast ängstlich, und dann hatte sie die blonden Haare zu solch blöden Schnecken über den Ohren aufgedreht.

Und überhaupt: Mädchen waren doof. Die kreischten gleich los, wenn man sie an den Zöpfen zog. Warfen sich gegenseitig Bälle zu, statt mit Steinen nach Spatzen zu schmeißen. Sprangen Seil. Alberner Kram! Schrien huch, wenn das Seil ihren Rock hochschlug. Reine Anstellereil Was gab es da schon zu sehen? Oder sie spielten Hinkefuß. Hüpften auf einem Bein durch die Gegend.

Und - das Dämlichste von allem — spielten mit Puppen. Püppchen hier, Püppchen da. Püppchen ausziehen. Püppchen zu Bett bringen. Püppchen wieder anziehen. Püppchen im Arm wiegen. Püppchen das Fläschchen geben. Die üben, hatte Spargel gesagt, wie das ist, wenn sie Mutter sind.

Mit Lischen spielte er nur, wenn kein Junge in der Nähe war. Tante Marie sah es gern: Grete, passen unse Kinder nich gut zueinander? Ob das mit die beiden mal was wird? Er und Lischen? Niemals! Wenn — dann mit Vera. Aber die war zu alt für ihn. Außerdem hatte sie schon einen. Ihren Tommy von der britischen Armee. Den Bob. Nee, Lischen war ein Mädchen, und Mädchen waren doof. Das sagte auch Siggi.

Aber nicht alle, hatte Spargel widersprochen. Berta Heeschen nicht. Wieso nicht, Spargel? Mit der spielen Egon Schlonski und ich Onkel Doktor. Ich mach die Voruntersuchung. Danach ist Egon dran. Ich überweise dich zur Nachuntersuchung an Doktor Schlonski, sag ich der Berta dann. Kann ich da nicht mitmachen? Spargel schüttelte den Kopf: Nur Egon und ich, hat sie gesagt. Sonst kommt sie nicht mehr in unsere Sprechstunde. Spargel, wir sind doch Blutsbrüder! Das schon, Schorsch. Aber ich hab es ihr schwören müssen. Großes Indianerehrenwort. Das darf man nicht brechen. Ob er mit Lischen eine eigene Praxis aufmachen könnte? Er glaubte nicht dran. Dafür war sie einfach zu trutschig.

Tante Marie, die Mutter, Lischen und er machten sich auf den Weg. Ab heute, dachte er, jeden Tag frühmorgens dasselbe: zur Schule. Sechsmal in der Woche. Außer in den Ferien. Im Winter bei Dunkelheit und Kälte, obwohl er doch lieber noch ein wenig im warmen Bett bliebe. Doch die Mutter würde kein Erbarmen kennen: Raus aus den Federn, Georg! Die Schule wartet.

Diesmal wartete Lehrer Kröger persönlich auf die Neuen. Die Klassen zwei bis vier waren zur Begrüßung im offenen Karree angetreten. Kröger hob seinen Rohrstock. Heute als Dirigentenstab. Seine Zöglinge stimmten ein Lied an. Irgendwas mit: Willkommen... Dann führte Kröger sie in den einzigen Klassenraum. Bisher hatte er für die Dorfkinder gereicht. Jetzt nicht mehr. Durch die Flüchtlinge, Vertriebenen und Ausgebombten hatte sich die Einwohnerzahl fast verdoppelt, und damit auch die Zahl der Kinder. In dieser Woche hatten die ersten vier Klassen vormittags Unterricht. Die Klassen fünf bis acht am Nachmittag. In der Woche darauf war es umgekehrt. Schichtunterricht hieß das in der Amtssprache.

Die ersten Reihen waren frei. Reserviert für die neuen Erstkläßler. Die anderen waren nach der Versetzung nach hinten gerückt. Nur nicht in der ersten Reihe sitzen, dachte Georg, direkt im Blickfeld von Kröger! Einer saß da schon. Ein Sitzenbleiber. Ein großer, kräftiger Junge saß ganz außen. Ganz allein. Kröger winkte Georg zu sich heran: Du bist doch der Bruder von Dorothea Schneider, nicht? Ja, Herr Kröger. Wie heißt du? Georg. So, so, Georg. Du bist sicher auch so ein Schlauberger wie deine Schwester. Georg sagte nichts dazu. Kröger zeigte auf den Platz neben dem kräftigen Jungen: Georg, da setz dich hin! Zu Siegmund. Er kann Hilfe gebrauchen.

Schorsch zu Krähe, tönte es aus der Klasse. Schorsch zu Krähe. Krähe, Krähe, kra, kra, kra! Krähe statt Siegmund. Es war der Gang des Jungen, der ihn zu Krähe machte. Erst hob er das rechte Bein, warf es nach vorn, verhielt einen kurzen Augenblick, dann zog er das linke nach. Schwerfällig. Linkisch. Wie die Krähen, wenn sie im Herbst über die abgeernteten Felder hüpften, nach Nahrung suchten und ihr Kra, Kra, Kra ausstießen. Dazu kam Siegmunds Nachname: Kreher. Alles paßte zusammen. Der Gang. Der Name. Schorsch zu Krähe! Schorsch zu Krähe! schrien die Kinder. Jetzt im Chor. Krähe, Krähe, kra, kra, kra! In Krähes Gesicht zuckte es. Er wollte sich aus der Bank stemmen. Kröger ließ den Rohrstock einmal durch die Luft pfeifen. Krähe sank zurück auf seinen Platz. Dann drohte Kröger mit dem Stock in die Richtung der Schreihälse: Ruhe! Ruhe sage ich. Oder...? Es wurde schlagartig still.

Georg stand einen Augenblick unschlüssig da. Dann setzte er sich neben Krähe. Der sagte etwas. Er verstand es kaum, so leise war es: Du, Schorsch, sag doch Siggi zu mir. Wie meine Mutter. Geht klar, Siggi, sagte Georg und hielt ihm die Hand hin. Siggi drückte sie, daß es ihn schmerzte. Links von ihnen landete Arthur Koslowski: Zu mir sagt ruhig Spargel. Wie die andern auch. Paßt ja zu dir, sagt meine Mutter. Unsere Lebensmittelkar33 ten — die reinsten Hungerrationen. Sie ruft mich aber bei meinem richtigen Namen: Arthur. Klingt irgendwie doof. Find ich jedenfalls. Na, wie war dein erster Schultag, Georg? fragte die Mutter, als er wieder zu Hause war. So, so. Was soll das heißen: So, so? Er hatte keine Lust zu antworten. Neben wem sitzt du denn? Neben Siggi Kreher und Spargel. Spargel? Ich mein, neben Arthur Koslowski. Aha, neben dem Jüngsten von der Koslowski. Georg, das ist keine gute Gesellschaft für dich. Der Arthur, so jung noch, und klaut schon wie ein Rabe. Mutti, Erwachsene klauen doch auch. Aus Not, Georg. Die Not zwingt sie dazu. Und weshalb klaut Spargel? Sie sagte nichts. Nach einer Weile aber doch: Der andere, der Siegmund Kreher, der kriegt zu Hause genug. Der ist groß und kräftig. Trotzdem hat er nichts zu lachen. Erst recht nicht, seit das mit seinem Bruder passiert ist. Sein Vater kommt nicht drüber weg. Zu dem Siegmund sei nur recht nett! Aber der Arthur, vor dem sieh dich vor!

Er sagte nichts dazu. Er war doch alt genug, sich seine Freunde selbst auszusuchen. Die Mutter war noch nicht fertig: Dem Arthur fehlt der Vater. Seine Mutter läßt ihm alles durchgehen. So ist das eben in diesen Zeiten. Auch er hatte keinen Vater. Er war noch ganz klein, da hatte er mal gesagt: Mutti, Lischen hat einen Papa. Onkel Paul. Heini Kahlke hat auch einen. Ich hab keinen. Georg, dein Papa ist im Krieg geblieben. Er hatte das damals nicht verstanden: Wieso geblieben? Im Krieg? Wurde irgendwo immer noch geschossen? Und war sein Papa auch dabei? Später einmal zeigte die Mutter ihm ein Foto: Das ist das Grab deines Vaters. Auf der Insel Sizilien. Weit weg von hier. Dann weinte sie.

Da verstand er: Sein Vater war tot und würde nie wiederkommen. Jetzt aber begriff er wieder etwas nicht: Spargel hat doch Onkel Willy. Georg, Willy Falke ist nicht Arthurs Vater. Wieso? Onkel Paul ist doch auch der Vater von Lischen. Georg, Onkel Paul und Tante Marie sind aber verheiratet. Frau Koslowski und Onkel Willy nicht. Onkel Willy ist nach dem Krieg bei ihr hängengeblieben. Die beiden führen eine Onkelehe. Komisch, dachte er. Die einen Onkel sind Väter. Andere nicht. Er würde Spargel danach fragen. Vielleicht wußte der mehr darüber.

Einen wie Onkel Willy hätte er auch gern gehabt. Der war schwer in Ordnung. Nun ja, eine Ohrfeige fing Spargel sich schon mal ein. Aber Onkel Willy verprügelte ihn nicht, so wie Bauer Kreher es mit Siggi tat. Nur weil Siggi dumm war. Dafür konnte der doch nichts. Auf so einen Vater konnte er verzichten. Dann lieber gar keinen. Eines wollte er noch wissen: Mutti, warum ist bei dir kein Onkel hängengeblieben? Sie lachte: Georg, du kannst Fragen stellen! Wie soll ich dir das nur erklären? Ich weiß nicht... Vielleicht ein andermal. Ein andermal — das sagten die Erwachsenen immer, wenn sie nicht antworten wollten oder nicht weiter wußten. Oder sie sagten: Dafür bist du noch zu klein. Das verstehst du noch nicht.

Von dem Tag an war es, wie die Mutter gesagt hatte: Jeden Morgen derselbe Weg. Der Weg zur Schule. Außer am Sonntag, an Feiertagen und in den Ferien. Siggi und Spargel holten ihn ab. In der Klasse setzten sie sich, und dann begann der Unterricht. Für sie eine Form der Freiheitsberaubung. Wenn er darüber jammerte, sagte die Oma: Was klagst du eigentlich? Du hast doch deine Freunde. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Sie teilten ihr Leid durch drei. Die Zahl drei - für Siggi eine Schreckenszahl. Eine der vielen Hürden, die die Schule für ihn bereithielt. Siggi und die Drei — ein ewiger Kampf. Siggi nahm die Finger zu Hilfe. Hob zuerst den Daumen: eins. Streckte dann den Zeigefinger: zwei. Bis dahin klappte die Sache ganz gut. Beim Mittelfinger geriet er ins Stocken. Lag es am Finger? Lag es an der Zahl? Siggi fing jedenfalls an zu stottern: d-, dr-, dr-, ei-, ei... Die Kasse johlte: Krähe legt ein Ei. Krähe legt ein Ei. Krähe, Krähe, kra-, kra-, kra-! Es dauerte, bis es Siggi gelang, dr- und -ei zu verbinden: drei.

Für die Neuen begann Lehrer Kröger mit einer einfachen Übung: Kinder, vor dem eigentlichen Schreiben müßt ihr ein Gefühl für die Bewegung kriegen. Also — Tafeln raus und Griffel in die Hand! Ich mache es euch einmal vor. Kröger nahm ein Stück Kreide, ging zur Wandtafel und bedeckte sie mit verschlungenen Linien. Mit diesem Spruch, sagte er, kriegt ihr den richtigen Schwung. Nun macht mir nach und sprecht dabei: Auf und nieder, immer wieder!

Sie fuhrwerkten drauflos und leierten im Chor: Auf und nieder, immer wieder. Kröger ging durch die Reihen und kontrollierte, ob es klappte. Bei Siggi blieb er stehen: Siegmund, wie hältst du denn deinen Griffel? Nicht mit der ganzen Hand umschließen und auf deine Tafel einstechen! Du willst sie doch nicht ermorden. Guck her! Den Griffel zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger nehmen und dann... Ich weiß schon, Herr Kröger. Auf und nieder, immer wieder. Ja, Siegmund. Aber nicht so verkrampft! Locker! Locker! Georg, hilf ihm mal!

Es folgte das Schreiben der Buchstaben. Wir fangen mit dem A an, sagte Kröger, dem ersten Buchstaben. Siegmund, du kennst das ja schon vom letzten Jahr. Sprich uns mal ein A vor! Guckt jetzt alle hin zu Siegmund, Kinder! Wie sein Mund sieht das kleine A aus, nur mit einem Häkchen an der rechten Seite. A, a, a, a keuchte Siggi hervor. Kurz und hechelnd. Von hinten war Zu hören: Das hört sich an, als ob meine Mutter meinen kleinen Bruder auf den Topf setzt und er ne Wurst machen soll. Und dann folgte eine Stimme aus der Klasse: Krähe, Krähe, kra, kra, kra! Krähe macht AA. Wer war das? rief Kröger. Niemand meldete sich. Siegmund, sagte Kröger, ich mach es dir vor: ah, ah, ah. Schön lang das A. Diesmal war Kröger zufrieden: Siehst du, Siegmund. Es geht doch.

Auf das A folgte das B. Danach das C. Das war einfach. Dann das D, das E, F, G und H. Sie kamen zum I. Es gibt ein kurz und ein lang gesprochenes, erklärte Kröger. In igitt haben wir beide in einem Wort. Arthur, wann sagst du igitt? Wenn ich in Hundescheiße getreten bin. Scheiße sagt man nicht, Arthur. Spargel flüchtete sich ins Plattdeutsche: Denn pett ik eben in Peerschiet. Rin in so'n grooten Peerappel un segg: Igitt! Geiht dat, Herr Kröger? Kröger nickte und machte weiter: Nun schreiben wir ein kleines I. Setzt dazu den Griffel auf eure Tafel, auf die dicke Linie, und nun: rauf, runter, rauf — und Pünktchen drauf. Ich mach es euch an der Wandtafel einmal vor. Und jetzt ihr. Zwei Reihen i auf eurer Tafel. Ist ja nicht zum Aushalten, flüsterte Spargel, für alles hat er so'n blöden Schnack. Genau wie im letzten Jahr, sagte Siggi.

Siggi, Spargel und auch Georg taten sich schwer mit dem Schreiben. Siggi trotz seiner Tafel, Spargel und Georg wegen ihrer Tafeln. Ihre Tafeln - was für erbärmliche Dinger! Produkte des Mangels, von Egon Schlonskis Vater in Heimarbeit gefertigt. Ein Stück Zinkblech, rechteckig zugeschnitten. Auf der einen Seite die Hilfslinien zum Schreiben eingeritzt, holperig und nicht ganz gerade, auf der Rückseite Rechenquadrate. Spargel und Georg schrieben mit einem Bleistiftstummel, der oft an den Linien abglitt. Mit einem nassen Lappen rieben sie ihr Gekritzel weg, wenn Kröger anordnete: Tafeln sauber wischen! Wir kommen zur nächsten Übung.

Siggis Tafel dagegen war ein Prachtstück. Eine Schiefertafel mit exakten Linien und Quadraten, umrahmt von einer lackierten Holzleiste, daran an einem Bändsel ein kleiner Schwamm. Solide Vorkriegsware. Ein Gegenstand von Georgs Bewunderung, beinahe von Neid. Siggi, sagte er, wo hast du die her? Von Kaufmann Braasch in Neudorf. Da war meine Mutter auch. Tafeln, hat Braasch gesagt, hat er nicht. Hat er doch, Schorsch. Hinten im Lager. Hatte deine Mutter außer Geld auch ne Mettwurst dabei? Nee. Wieso? Ganz einfach: Mit Mettwurst hat Braasch Tafeln, ohne nicht. De ole Reichsmark, sagt mein Vater immer, wokeen will de as Koopmann hebben? Braasch nich. Wat schall he mit Poppier, dat nix wert is?

Die Oma und die Mutter sagten das auch. Und noch etwas: Hoffentlich kommt bald die Währungsreform! Davon sprachen sie schon seit Monaten. Was ist das, hatte Georg gefragt, Währungsreform? Dann kriegen wir neues Geld. Geld, das was wert ist. Wir auch? Ja, wir auch.

Einige Wochen später war es SO weit. Es war ein verregneter Tag im Juni. Die Oma und die Mutter hatten frische Geldscheine in der Hand: Doro und Georg, guckt mal! Endlich richtiges Geld. Plötzlich war Kaufmann Braasch Schaufenster wieder voller Ware. Schiefertafeln hatte er auch. Die gab es jetzt sogar ohne Mettwurst. Georg kriegte auch eine.

Das Schreiben ging nun besser. Bei Siggi aber nicht. Sie kamen zu den Großbuchstaben. Siggis Krakeleien schossen über die obere Linie hinaus. Beim kleinen F und P rauschten die Unter39 längen tief in den Keller. Sie verschmolzen mit den Großbuchstaben in der Zeile darunter. Georg sah es und half Siggi, die Hand zu führen. Da ging es besser. Wenn auch nicht immer. Bald schrieben sie ganze Sätze. Kröger diktierte: Hans hat einen Hamster. Stimmt nicht, meinte Siggi. Hans Heeschen hat Kaninchen. Kröger ging durch die Reihen. Kontrollierte. Half hier und da. Bei Siggi blieb er stehen: Ach, Siegmund! Wo landet denn bei dir das große H? Kinder, zur Übung gleich noch einen Satz: Hannis Huhn hat Husten. Schorsch, flüsterte Siggi und verfiel ins Plattdeutsche, nu dreiht he ganz dörch. Een Hohn kann Pips hebben. Dat gifft dat. Aver doch keen Hoosten. Dat is dumm Tüüg.

Bei Kröger hatten sie auch Musik. Das heißt: Sie sangen. Musik gab es erst in den höheren Klassen. Da kratzte Kröger auf seiner Fiedel herum, und ein paar Mädchen spielten Blockflöte. In Klasse eins bis vier bewaffnete er sich mit seinem Rohrstock, wahlweise Zuchtmittel oder Dirigentenstab, und sagte: Alle aufstehen! Beim Singen müssen die Lungen frei sein. Ihr aus Klasse zwei bis vier kennt unser heutiges Lied ja schon: Alle Vögel sind schon da. Die Neuen hören zu und lernen dabei die Melodie und den Text. Am Schluß singen alle gemeinsam. Bei drei geht's los. Ein, zwei, drei. Die Kinder krähten los: Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle. Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar... Diesmal tüdert Kröger nicht, sagte Siggi. Die Vögel sind schon da. Haben auch schon Nester gebaut. Und Eier sind auch schon drin.

Die Zugvögel kamen jedes Frühjahr. Zuerst die Störche. Dann die andern. Sie sangen, zwitscherten, suchten sich einen Partner, schnäbelten, bauten Nester, in den Hecken, in den Knicks und den Obstbäumen der Gärten. Die Schwalben klebten ihre Nester an die Mauern. Die Krähen nisteten hoch oben in Buchen, Eichen und Linden. Dann legten die Vögel Eier und fingen an zu brüten. Irgendwann schlüpften die Jungen. Sie sperrten ihre Schnäbel auf, ganz weit, hatten immer Hunger. Die Alten schafften Nahrung für sie heran, bis sie flügge waren. Danach mußten sie sich ihr Futter selbst suchen. Im Spätsommer flogen die Zugvögel nach Süden. Irgendwohin, wo es warm war. Im Frühjahr darauf kamen sie wieder.

Amseln und Krähen blieben das ganze Jahr. Die Spatzen auch. Sie mochte Georg am liebsten. Was für eine lustige Bande! Sie sangen nicht. Sie tschilpten: tschilp, tschilp, tschilp. Alle munter durcheinander. Selten waren Spatzen allein, sondern meistens in Gesellschaft. So wie er mit Spargel und Siggi.

Kurz darauf, die beiden holten ihn wie immer zur Schule ab, hielt Siggi ihm die geschlossenen Hände hin: Rat mal, was da drin ist! Keine Ahnung. Siggi öffnete die Hände: Schwalbeneier. Spargel hat auch welche. Was wollt ihr denn damit? Die schmeißen wir den blöden Mädchen auf den Ranzen. Die kommen dann bekleckert in die Schule. Prima Idee, nicht? Ich weiß nicht recht, Siggi. Schorsch, sagte Spargel, sei kein Feigling!

Er ein Feigling? Eine glatte Herausforderung. Nicht so schwerwiegend wie die Bezeichnung Muttersöhnchen, aber immerhin Muttersöhnchen verlangte nach augenblicklicher Rache. Nach Hauerei mit dem Ehrabschneider. Selbst bei Blutsbrüderschaft. Spargel wußte das, kannte die Regeln. Feigling erforderte nur den Beweis des Gegenteils. Er, Georg, würde beim Eierwurf mit dabei sein.

Sie versteckten sich hinter dem Spritzenhaus. Berta Heeschen kam als erste vorbei. Spargel sprang hervor, warf und traf. Berta kreischte und lief weg. Dann kam Lischen Ratjen. Die kriegte von Siggi ihren Segen. Ein Ei war noch übrig. Ludmilla Schlonski näherte sich. Jetzt du, Schorsch, sagte Spargel. Georg warf. Treffer! jubelte Siggi. Ludmilla floh weinend in Richtung Schule. Dort fing Kröger sie schon auf dem Schulhof ab, Berta, Lischen und Ludmilla neben sich. Die heulte noch immer. Die haben uns verpetzt, sagte Spargel. Kröger hatte den Rohrstock in der Hand, aber nicht als Dirigentenstab: Habt ihr die Mädchen mit Eiern beworfen? Die Drei schwiegen.

Kröger schritt zum Einzelverhör: Siegmund, hast du geworfen? Nein, ja, nein, ja, aber... Ja oder nein, Siegmund? Denk dran: Ein deutscher Junge steht zu seinen Taten. Ja, Herr Kröger. Siegmund, du als Sohn eines Bauern solltest wissen, daß Schwalben nützliche Vögel sind. Die fressen Insekten. Oder hat dir das dein Vater nicht erklärt? Muß ich ihm Bescheid sagen, daß er das nachholt? Bitte, Herr Kröger, sagen Sie nichts meinem Alten! Meinem Vater, heißt das, Siegmund. Gut, ich sage ihm nichts. Doch du weißt ja: Wer nicht hören will, muß fühlen. Streck die Hand aus! Mit ihr hast du geworfen. Sie soll fühlen. Siggi gehorchte. Kröger hob den Rohrstock und sagte: Merk dir, Siegmund, für alle Zukunft: Ich soll kei-ne Schwal-ben-nes-ter aus-neh-men. Bei jeder Silbe sauste der Stock herab. Siggi kniff die Lippen zusammen. Georg hatte mitgezählt. Mit Hilfe der Finger. Er benötigte beide Hände. Dann noch ein Schlag. Also elf Schläge insgesamt.

Jetzt zu dir, Arthur, sagte Kröger. Spargel war nicht so hart im Nehmen wie Siggi. Hatte weniger Übung im Einstecken. Krögers Rohrstock trat erneut in Aktion: Schwal- (au!) ben (au!) sind (au!) nütz- (au!) li- (au!) che (au!) Vö- (au!) gel (au!). Siebenmal au waren sieben Finger. Ein deutscher Junge weint nicht, dachte Georg. Hatte Spargel auch nicht getan. Au war erlaubt, war keine Schande.

Nun war er dran. Kröger sagte: Georg, von dir habe ich so etwas nicht erwartet. Siggi mischte sich ein: Herr Kröger, er hat ja gar nicht geschmissen. Hat er doch, sagte Ludmilla. Alte Petze, sagte Siggi und dann: Hat er nicht. Hat er doch. Hat er nicht. Hat er doch. Aber daneben. Ist gelogen. Kröger wurde es zu bunt: Rein mit euch allen in die Schule! Und zu Georg: Ich werde mit deiner Mutter sprechen.

Am Nachmittag kam Kröger vorbei. Die Mutter sagte: Georg hat schon gebeichtet. Es ist gut, daß Sie mit mir reden. Schläge kennt mein Sohn nicht. Seine Oma und ich halten nichts davon. Wir glauben nicht, daß schmerzende Körperteile Menschen zur Einsicht bringen können. Aber Strafe muß sein, da gebe ich Ihnen recht. Nehmen Sie ihm was von seiner freien Zeit. Lassen Sie ihn nachsitzen. Das wirkt.

Die Mutter hatte recht. Nachsitzen, drei Tage hintereinander, das paßte Georg gar nicht. In der Schule hocken, die Bank drücken und Extraaufgaben erledigen müssen, während Siggi und Spargel spielten, durchs Dorf streunten oder die Feldmark durchstreiften: Irgendwie doof! Dazu kam der Spott der Großen: Na, Kleiner, läßt Kröger dich brummen? Was haste denn angestellt? Geht euch gar nichts an, brummte er mißmutig.

Jeden Morgen gab ihm die Mutter sein Kochgeschirr mit: Laß dir von Frau Kröger einen ordentlichen Schlag geben, damit du auch satt wirst! Zum Schichtwechsel des Unterrichts traten alle Schüler zur Schulspeisung an. Wenn für die Kleinen Schluß war, sie zuerst. Dann die Großen. Für sie begann der Unterricht mit dem gemeinsamen Essen. Sie alle warteten auf Frau Krögers Signal. Sie griff zu einer Handglocke, läutete, schwang ihre Kelle und rief: Antreten zum Essenfassen!

Sie bildeten eine Schlange. Jeder mit einem Behälter. Einige mit einer Milchkanne. Andere mit einem Topf. Die meisten mit einem Kochgeschirr der Wehrmacht, wie Georg eines hatte. Es war aus Aluminium. Leicht und praktisch. Der Behälter mit drei eingestanzten Strichen zum Abmessen der Portionen. Zu tragen an einem Bügel. Der Deckel mit einem umklappbaren Flacheisengriff diente als ERnapf. Das Kochgeschirr stammte aus der Zeit, als deutsche Soldaten in den Wäldern um den Thingberg lagerten, auf das Ende des Krieges warteten und sich dann den Engländern ergaben. Ihre Waffen, die Munition und manche Ausrüstungsgegenstände blieben zurück. Dorfbewohner, vor allem die Ausgebombten und die Flüchtlinge, versorgten sich mit allem, was sie gebrauchen konnten, ehe es die Besatzer einsammelten. Antreten, Essen fassen! rief Frau Kröger erneut. Heut gibt es Erbsensuppe. Erbsensuppe, sagte Spargel, lecker. Aber laß die andern ruhig drängeln, Schorsch! Erbsensuppe — was sollen wir da am Anfang der Schlange? Oben löffelt Frau Kröger mit ihrer Kelle zuerst in ihrem Kessel rum. Das Dicke, das richtig Gute mit den Wurststücken drin, ist unten. Das kriegen dann die Letzten. Hinten sind die besten Plätze, sagt auch Onkel Willy immer. Beim Antreten zum Erbsensuppefassen und an der Front. Bei Milchsuppe ist egal, wo wir stehen. Die ist überall gleich dick. Genau wie Kakao. Den gibt's viel zu selten. Ich glaub, den schlürfen die Krögers selber.

Siggi hatte kein Gefäß dabei. Stand neben der Schlange, die Hände in den Hosentaschen. Siggi, fragte Spargel, willste nichts? Ich darf nicht. Spargel begriff die Welt nicht mehr: Es gibt was zu futtern — und du darfst nicht? Nee. Warum nicht? Hat mein Alter mir verboten. Schulspeisung, hat er gesagt, ist nichts für dich. Wir haben selber genug. Wir was vom Engländer annehmen? Niemals! Verfluchte Tommies! Mörderbande!

Spargel hatte eine Idee: Aber dir steht doch was zu. Ich bring noch ein zweites Kochgeschirr mit. Damit stellst du dich an, und ich krieg dein Essen. Einverstanden? Dann muß ich auch nicht immer um Nachschlag betteln und mir von der Kröger anhören: Du schon wieder, Arthur? Hat dein Magen ein Loch? Ein Loch hatte Spargels Magen nicht. Aber sie waren viele bei ihm zu Hause: Seine Mutter, Onkel Willy, die drei älteren Schwestern, sein Bruder Karl und er. Sieben hungrige Mäuler, und Onkel Willy ohne Arbeit. Siggi sagte: Geht klar, Spargel.

Am übernächsten Tag kam er mit roten Striemen an den Beinen zur Schule. Was war los? fragte Georg. Mein Alter hat mich verdroschen. Irgendwer hat ihm gepetzt, daß ich mich bei der Schulspeisung mit angestellt hab. Der Alte hat getobt: Ich hab dir doch gesagt, wir nehmen nichts vom Engländer! Denk an deinen toten Bruder! Und nun, Siggi? Ganz einfach. Spargel ist mein Freund. Der kriegt weiter mein Essen, und ich krieg Senge vom Alten. Das halt ich schon aus. Bin ich ja gewohnt.

Drei Tage lang nachsitzen. Viel zu lang, fand Georg. Hätte ein Tag nicht auch gereicht? Oder hätte er die Hand ausstrecken sollen, so wie es Siggi und Spargel getan hatten? Schläge waren ein kurzer Schmerz. Brummen dauerte länger und tat auch irgendwie weh. Und ausgerechnet die Mutter hatte Kröger auf diese Idee gebracht: Lassen Sie ihn nachsitzen! Drei Tage währen nicht ewig. Siggi, Spargel und er waren bald wieder den ganzen Tag zusammen. Vom Ausnehmen von Schwalbennestern hielten sie nichts mehr. Wie aber ist es mit Krähen? sagte Siggi. Sind die auch nützlich? Ich frag Kröger mal, sagte Spargel. Wie kommst du darauf, Arthur? fragte ihn Lehrer Kröger. Nur so, Herr Kröger. Die Krähe, sagte Kröger, frißt den Bauern die Saat weg. Die Krähe ist ein unnützes Tier, Kinder. Prompt ging es los. Erst nur einer: Krähe ist unnütz, Krähe ist unnütz. Krähe, Krähe, kra, kra, kra! Dann alle im Chor: Krähe ist unnütz, Krähe ist unnütz. Krähe, Krähe, kra, kra, kra! Siggi ballte die Fäuste und wollte aufstehen. Georg faßte ihn am Arm und hielt ihn fest: Mach dir nichts draus, Siggi! Siggi verzog das Gesicht, blieb aber sitzen. Kröger griff zum Rohrstock: Ruhe! Doch der Chor begann von neuem: Krähe ist unnütz... Kröger donnerte den Stock aufs Pult: Ruhe, hab ich gesagt! Der Chor verstummte, und der Unterricht ging weiter, bis draußen Krögers Frau mit der Handglocke bimmelte. Das Zeichen, daß ihr Kessel dampfte. Siggi stellte sich wieder mit an, und Spargel zog mit zwei Eßgeschirren los. Diesmal Bohnensuppe.

Am Nachmittag holten Siggi und Spargel Georg ab. Ich weiß, wo viele Krähennester sind, sagte Spargel. Und wo? In den Buchen am Hünengrab. Das Hünengrab kannten alle im Dorf. Hünen sind Riesen, sagte Siggi. Da sollen welche von begraben sein. Quatsch! sagte Spargel. Riesen gibt es nicht. Vielleicht, meinte Georg, waren die Leute früher nur größer als heute. Aber begraben sind da welche. Häuptlinge oder so. Die kriegten ihre Waffen mit ins Grab. Oder ihren Schmuck. Damit da keiner rankommt, haben die andern den Hügel aufgeschüttet. Woher willste das wissen? fragte Spargel. Von meiner Schwester. Die hat bei Kröger schon Heimatkunde. Da lernen sie sowas. So, sagte Spargel, von deiner neunmalklugen Schwester. Schorsch, werd bloß nicht so'n Klugscheißer wie die, die doofe Ziege!

Sie zogen los. Erst an Onkel Pauls Wiese mit den rotbunten Kühen vorbei. Dann am Spritzenhaus. Der Bau für die Wasserspritze diente auch als Gefängnis für eine Nacht. Den Hof von Bauer Brehm ließen sie links liegen. Es war der größte Hof im Dorf, umgeben mit einer Feldsteinmauer. Mit hochaufragenden Eichen auf dem Vorplatz. Die Auffahrt gepflastert. Die Eingangstür von zwei Säulen flankiert. Wie bei einem griechischen Tempel. Alles aus der Zeit, als es den Bauern noch gut ging. Das Geschlecht der Brehm hatte es schon immer protzig geliebt. Man war schließlich jemand. Jetzt blätterte die Farbe von den Säulen ab. Und auch die Fenster hätten einen Anstrich gebrauchen können. Dann gingen sie am Kaufmannsladen vorbei, am Hof von Kahlke, an denen von Dierks und Heeschen, an der Schule und am Hof von Henning. Danach wurde die Dorfstraße zu einem Feldweg.

Es war warm geworden in den letzten Tagen. Sie liefen barfuß. Barfuß laufen hieß: Mit den Füßen fühlen. Georg hätte die Augen schließen können und doch gewußt, wo er gerade war. Die Dorfstraße: Bucklige Steine, aus dem fernen Skandinavien von der Eiszeit verschleppt, auf ihrer Reise glatt geschliffen, von Generationen von Bauern mühsam von den Äckern gelesen, dann grob behauen und als Straßenbelag verlegt. Von der Sonne beschienen, waren sie angenehm warm. Die Feldwege: Der Sand, in den ausgefahrenen Spuren zermahlen und weich, schmeichelte den Fußsohlen. Die Äcker: Die grau-schwarze Erde kitzelte bei Trockenheit und klebte bei Regen. Die Wiesen: Morgens frisch und feucht vom Tau, ab Mittag, sofern die Sonne schien, warm und weich. Der Waldboden: Unter Buchen und Eichen von Moos durchsetzt. Dort wie ein Teppich, wenn nicht das Laub vom Vorjahr gerascheit hätte. Unter Tannen und Kiefern pieksten die Nadeln.

Paß auf, Schorsch, warnte Spargel, Kuhscheiße! Direkt vor ihnen lag eine Reihe frischer Fladen. Kuhscheiße — eklig! Trat man hinein, quoll sie zwischen den Zehen hindurch, klebte fest, trocknete, verkrustete und bildete unter den Zehennägeln einen grünen Rand, der schwer wegzukriegen war. Auch wenn man versuchte, die grünliche Masse gleich im Gras abzustreifen: Im49 mer blieb was kleben.

Sie erreichten den Acker mit dem Hünengrab, eine baumbewachsene Insel inmitten keimender Saat. Vor einer der Buchen machten sie Halt. Hoch oben in der Krone waren die Nester der Krähen.

Na, fragte Spargel, wer traut sich? Siggi zeigte nach oben: Da hoch? Ich nicht. Du weißt doch, ich kann klettern wie Fallobst. Das traf zu. Siggi war kräftig, aber ungelenk. Klettern war seine Sache nicht. Nun ja, wenn er einen Ast bequem erreichen konnte, zog er sich daran hoch. Manchmal auch einen oder zwei Äste weiter. Spätestens dann war Schluß. Und du, Schorsch? sagte Spargel. Georg überlegte. Sollte er die Frage zurückgeben: Warum nicht du, Spargel? War doch deine Idee. Nein, das ging nicht. Beim Eierwurf waren Siggi und Spargel vorneweg gewesen, er eher zögerlich. Siggi hatte sogar versucht, ihn aus der Sache rauszuhalten, als Kröger zum Rohrstock griff. Jetzt war er dran. Spätestens, falls Spargel nachfassen sollte: Haste etwa Schiß?

Georg stieg gern auf Bäume. Die Blutbuche im Garten von Onkel Paul Ratjen: ideal zum Klettern. Die ersten Äste in Griffhöhe. Die nächsten führten aufwärts wie die Stufen einer Leiter. Selbst Lischen traute sich hier hoch. Zusammen kletterten sie in die Krone und setzten sich nebeneinander auf einen Ast, verdeckt vom dichten Laub. Tante Marie konnte sie von unten nicht sehen, wenn sie nach ihrer Tochter rief: Lis-chen! Lis-chen! Georg knuffte Lischen dann in die Seite, zwinkerte und legte einen Finger an die Lippen. Pst! Lischen nickte und kicherte leise. So sa- Ren sie beieinander und gaben keinen Ton von sich, bis Tante Marie schimpfend abzog: Wo stickt dat Gör bloots?

M Dann gab es noch die Birke neben dem Spritzenhaus, Georgs Lieblingsbaum. Nicht so mächtig, nicht so ausladend wie die Blutbuche. Dafür schwieriger zu besteigen. Unten ohne Äste in Reichweite. Er schlang die Arme um den Stamm, konnte ihn aber nicht ganz umfassen, umklammerte ihn mit den Beinen, zog sich ein Stück hoch, klammerte sich wieder mit den Beinen fest und zog sich ein weiteres Stück hoch, Zug um Zug, bis er den ersten Ast greifen konnte. Von nun an ging es leichter. Im Wipfel angekommen, setzte er sich auf einen Ast und schmiegte sich an den Stamm. Der Baum - ein Freund. Natürlich keiner wie Siggi oder Spargel, obwohl auch Bäume lebten. Sie waren wie die Menschen. Anfangs klein, dann wuchsen sie, erreichten ihre von der Natur vorgegebene Höhe, wurden alt, und irgendwann starben sie.

Sprechen konnten sie nicht. Doch wenn der Wind durch das Laub fuhr und die Blätter raschelten, raunte ihm die Birke dann nicht etwas zu? Vielleicht dies: Sieh dich um, Schorsch! Die roten Dächer - das ist Hohenfelde, dein Dorf. Die Wiesen, die Felder, die Äcker - das ist dein Reich. Der Wald — dein Pilzparadies. Die Menschen da unten — du kennst sie alle. Und der Thingberg schickt dir von weitem einen Gruß.

Die Mutter sah seine Klettereien nicht gern: Sei vorsichtig, Georg! Werd nicht leichtsinnig! Sonst fällst du noch mal runter und brichst dir die Knochen. Konnte sie sich das nicht sparen? Immer diese Ermahnungen: Erst machst du deine Hausaufgaben, danach darfst du raus zum Spielen. Oder: Nimm die Hände aus den Hosentaschen, wenn du mit Erwachsenen sprichst! Oder: Es ist noch zu kühl zum Barfußlaufen, zieh die Schuhe an! Oder, am schlimmsten: Du siehst auf dem Kopf ja ganz verwildert aus. Ab zu Friseur Nottelmann!

Nun stand er vor der Buche auf dem Hünengrab. Er sah an ihr noch. Dieser Baum sah nicht wie ein Freund aus. Eher abweisend. Widerspenstig. Die Rinde glatt. Der Stamm unten zu dick, um ihn umfassen zu können. Erst weiter oben erste Äste, die Halt versprachen. Wie sollte er die erreichen können?

Na, Schorsch, drängte Spargel, was ist nun? Ich versuch’s, sagte er, doch ihr müßt mir helfen. Siggi, stell dich mit dem Rücken zum Stamm und halt mir die Hände hin! Siggi tat wie befohlen. Ertrat in Siggis Hände und stieg auf dessen Schultern. Es reichte nicht ganz für den ersten Ast. Spargel mischte sich ein: Siggi, kannste nicht Schorsch ein Stück hochheben? Siggi ergriff Georgs Beine, stemmte ihn nach oben und gab ihm einen Stoß als zusätzlichen Schub. Georg flog dem Ast entgegen und packte ihn. Er hakte sich mit dem rechten Bein ein und schwang sich hoch. Über ihm wartete der nächste Ast. Das hieß: ein weiteres Stück aufwärts. Noch einmal. Und noch einmal. Es folgte ein langes Stück Stamm. Astlos. Doch der Stamm war hier nicht mehr so dick wie unten. Er klammerte sich mit Armen und Beinen fest. Zog sich ein Stück hoch. Suchte neuen Halt mit den Beinen. Lockerte den Griff mit den Armen und rutschte ab. Fiel hintenüber. Fiel. Fiel. Fiel. Schlug gegen einen Ast. Wurde herumgewirbelt. Fiel noch ein Stück, landete mit den Füßen zuerst im dichten Laub des Vorjahrs und lag da. Lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. Dann spürte er Schmerzen im linken Fußgelenk. Er biß sich auf die Lippen: Ein deutscher Junge weint nicht. Erst recht nicht im Beisein seiner Freunde. Er blickte nach oben. Sah über sich ein Stück Himmel, das Astwerk der Buche, wie ein grünes Dach, und oben, weit oben die Nester der Krähen.

Ein Gesicht schob sich vor das Astwerk, das Laub und den Himmel. Spargels Gesicht. Er hörte dessen Stimme, weit entfernt: Haste dir weh getan? Was gebrochen? Er wußte es nicht. Versuch mal aufzustehn! Er drückte sich hoch, kam auf die Füße, schrie auf, knickte um und lag wieder. Scheiße, sagte Spargel. Sie halfen ihm hoch und nahmen ihn in ihre Mitte. Auf ihre Schultern gestützt, humpelte er dem Dorf entgegen: Was sollte er nur der Mutter sagen?

Sie brachten ihn nach Hause. Um Gottes Willen, Georg, sagte die Mutter, was ist passiert? Ich, ich..., fing er an zu stottern. Spargel unterbrach ihn: Er ist in ein Loch getreten. Von einem Kaninchenbau. Das war gar nicht zu sehen. Er hat sich den Fuß verknackst oder so. Die Oma, dachte Georg, sagte immer: Lügen haben kurze Beine. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls fragte die Mutter nicht weiter nach. Sagte nur: Marsch ins Bett, Georg! Da bleibst du erstmal liegen. Ich mach dir Umschläge mit essigsaurer Tonerde. Das hilft.

Ab ins Bett! Gleich für mehrere Tage. Dann ließen die Schmerzen nach. Er durfte aufstehen und humpelte in der Stube herum. Doro brachte ihm Aufgaben von Lehrer Kröger mit. Damit du, sagte die Mutter, den Anschluß nicht verlierst. Womit nur hatte er das alles verdient? Er zu Hause. Siggi und Spargel ohne ihn unterwegs. Die Schwester Krögers Verbündete. Es wurde Zeit, daß es Ferien gab.

Er mußte noch zwei Wochen warten. Dann war es so weit. Sechs Wochen Ferien. Sechs Wochen Freiheit. Kein frühes Aufstehen: Doro, Georg, raus aus den Federn! Ab in die Schule! Stattdessen ausschlafen.

Keine Schreibübungen bei Lehrer Kröger: Rauf, runter, rauf — und Pünktchen drauf! Oder ähnlichen albernen Kram. Keine Nachhilfestunde bei der Oma: Heini und die Indianer... Selber Indianer sein. Sich Federn ins Haar stecken. Kriegsgeheul ausstoßen.

Auf den Feldwegen um die Wette laufen. Siggi mit seinem Krä54 hengang ohne Chance. Spargel ein ernsthafter Gegner. Jubeln, wenn er ihm die Hacken zeigte: Erster! Beim Hünengrab mit Steinen nach den Krähen werfen. Er mit Rachegefühlen: Das ist für den Fall vom Baum und euer höhnisches Gekrächzel.

Durch die Feldmark stromern und bis zur Bahnlinie laufen. Den Bahndamm hochkrabbeln und auf die Schienen alte Reichsmarkmünzen legen. Warten, bis ein Zug kam und sie plattfuhr: Guckt mal, wie groß die jetzt sind! Wenn es richtig heiß war, einfach nur auf einer Wiese liegen, die Augen schließen und an gar nichts denken. Über ihnen die Wolken und der blaue Himmel. Unter ihnen das Gras. Wie das duftete! In einem Knick eine Höhle bauen. Zusammensitzen und sich etwas erzählen: Dorfklatsch. Die Höhle ihre Burg, die sie verteidigten, wenn andere sie besetzen wollten. Die Angreifer mit Stockhieben empfangen: Siggi, Spargel, immer feste!

Fangen spielen. Die Mädchen mit dabei. Sie abschlagen und an den Zöpfen ziehen. Wie die kreischten! h Plumpsack spielen. Im Kreis sitzen und gemeinsam den Vers aufsagen: Der Plumpsack geht um, und niemand dreht sich um. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel voller Schacht. Die dußlige Ludmilla Schlonski merkte nie, wenn hinter ihr der Plumpsack fiel. Wurde immer abgeschlagen: Eins, zwei, drei, faules Ei. Mußte zur Strafe in die Mitte. Geschah ihr ganz recht, der Petze!

Messerstechen war nur was für Jungs. Er mit dem Küchenmesser der Mutter. Sie schimpfte dann: Georg, das wird noch ganz stumpf! Siggi mit einem angespitzten Schraubenzieher aus der Werkzeugkiste seines Vaters: Der steckt besser, Schorsch. Einen großen Kreis ziehen und in drei gleich große Gebiete unterteilen, ihre Länder, die danach einen Namen bekamen. Er wählte immer Dänemark. Da sollte es so schmackhafte Butter geben. Und das ohne Marken! Dann die Kriegserklärung: Ich erkläre den Krieg gegen... Warum wurde eigentlich Spargel immer als erster sein Land los? War landlos und damit heimatlos. Schon wieder einmal. Doch diesmal ohne Flucht.

Auf den Thingberg steigen. Vom Gipfel in die Runde schauen. Die Namen der umliegenden Dörfer nennen: Das ist Rade. Und das da Oldenlohe. Mensch, Spargel! Haste Tomaten auf den Augen? Das ist Westerhusen. Dann von weit her die Sirene der Ziegelei in Rade heulen hören: zwölf Uhr. Mittagszeit. Schnell nach Hause rennen. Die Oma war Pünktlichkeit gewohnt: Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß essen, was übrig bleibt. Im Stall von Onkel Paul Verstecken spielen: Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muß versteckt sein. Vorder mir, das güldet nicht. Hinter mir, das gibt es nicht. Eins, zwei, drei, ich komme. Sich in der Futterkiste verkriechen und nicht entdeckt werden: Wo ist Schorsch bloß?

Bei schlechtem Wetter, wenn der Regen gegen die Scheiben klatschte, zu Hause Mensch-ärgere-dich-nicht spielen. Mit Siggi, Spargel und Doro. Das Brett mit den Steinen auf dem Küchentisch. Sie drumherum. Die richtige Zahl würfeln und Doro rausschmeißen: Ätsch, rausgeflogen! Ihr dabei die Zunge rausstrecken.

Ferienzeit: die schönste Jahreszeit. Leider viel zu kurz. Bald würde die Schule wieder beginnen. Er mochte gar nicht daran denken. Doch es gab einen Trost. Vorher kam der schönste Tag des Jahres mit Ringreiten und Vogelschießen.

Tschingderassa bum! Tschingderassa bum! Tschingderassa bum bum bum! Tschingderassa bum! Georg, Spargel und Siggi liefen der Musik entgegen. Vor dem Hof von Bauer Brehm formierte sich der Festzug. Vorneweg Onkel Paul Ratjen. Er hatte sich wieder mal breitschlagen lassen: Paul, du weetst doch, woans dat so löppt. Letzt Johr hest du dat ganz fien henkregen. Maak dat man ook düt Johr wedder. Wenn ji dat meent, will ik ni nee seggen, hatte Onkel Paul gesagt und saß nun als Organisator und Feldführer mit blauer Schärpe auf seinem Braunen. Ihm folgte mit weißer Schärpe Hein Heeschen als Fahnenträger. Danach kamen die Musiker und zuletzt die Reiter, die Pferde geschmückt mit farbigen Papierstreifen und weißen Papierrosen an Zaumzeug, Bauchriemen und Schweifgurt.

Tschingderassa bum! Tschingderassa bum! Tschingderassa bum bum bum! Tschingderassa bum! Der Zug setzte sich in Be57 wegung, Zog zuerst zum Hof des Siegers vom Vorjahr. Karl Hennings Sohn Hannes wartete schon auf seinem Holsteiner. Weiter ging es durchs Dorf bis zum Festplatz, der Wiese hinter dem Hof von Kahlke. Die Ringbäume waren am Vortag aufgerichtet worden: Zwei Pfähle mit einer in der Höhe verstellbaren Latte. Daran hing der Ring.

Der Wettkampf begann. Langsam anreiten, auf das Tor zu, die Gangart verschärfen, im Galopp durchs Tor und nach dem Ring stechen. Dann zurück zum Start, bei Bedarf einen Schluck Zielwasser nehmen und warten, bis man wieder an der Reihe war. Die Schreiber notierten die Zahl der gestochenen Ringe. Stach einer der Reiter daneben, kommentierten die Zuschauer: Dat weer nix. He hett vörbistaken. Die Kinder, unter ihnen Siggi, Spargel und Georg, höhnten: Blindsteker! Blindsteker!

Fiete Petersen, Großknecht auf Kahlkes Hof, ritt einen von dessen Ackergäulen, einen kräftigen, dickärschigen Zossen, behäbig im Schritt. Fiete ritt langsam an. Fiete, rief einer der Zuschauer, nich so lahm! Driev den Dicken an! Galopp, Galopp, keen Zuckeldraff! Fiete zog dem Dicken eins mit der Peitsche über. Das mochte der nicht und bockte. Fiete fiel vom Pferd. Die Zuschauer lachten: Keen Wunner, dat Fiete sik ni holen kunn, besapen as he is. Die Kinder johlten: Fiete — Sandrieder! Fiete — Sandrieder!

Gegen Mittag stand der Sieger fest. Auch diesmal war es Hannes Henning. Man gönnte es ihm: Sien Holstener is dat beste Peerd int Dörp un he de beste Rieder. Die Musik setzte wieder ein. Tschingderassa bum! Tschingderassa bum! Tschingderassa bum bum bum! Tschingderassa bum! Es ging zurück zum Henning- Hof, dem Hof des alten und des neuen Königs. Oma Henning kam mit einer Flasche Korn und Gläsern vor die Tür: Ik schenk ju noch’n Lütten in. Langt to, Lüüd! Fiete, meinte Paul Ratjen, giff man keen mehr. Sünst fallt he wedder vun’t Peerd. Nix dor, Oma Henning! protestierte Fiete. Schenk mi ok een in! Een kann ik noch af. Fiete irrte. Noch während er das Glas hob, rutschte er vom Pferd. Heff ik ja glieks seggt, sagte Paul Ratjen. De Keerl is sprüttenduun. Jüst as letzt Johr. Jümmers datsülvige mit em. Sie halfen Fiete hoch und legten ihn quer auf den Sattel. Bauer Kahlke ergriff die Züge! von seinem Dicken: Ik bring em na Huus. Der Zug löste sich auf. Paul Ratjen meinte noch: Wat meent ji, Lüüd? Weer doch ook dit Johr wedder schön, nich? Tschingderassa bum! Tschingderassa bum! Tschingderassa bum bum bum! Tschingderassa bum! Wieder zog die Kapelle durchs Dorf. Jetzt sammelte sie die Kinder ein. Georg rannte auf die Straße. Die Mutter hinterher, zusammen mit Vera. Vera Kowalski, Mitte zwanzig, Mitbewohnerin in dem mit Flüchtlingen und Ausgebombten vollgestopften Haus. Nicht so schnell, Georg! rief die Mutter. Gegenüber trat Tante Marie Ratjen aus .der Tür, Lischen an der Hand: Moin, Grete! Moin Vera! Heut hab ich Lis-chen richtig schmuck gemacht. Sieht ihr nich nüüdlich aus? Laß dich angucken, Lischen, sagte die Mutter. Ja, Marie, richtig süß, die Kleine. Lischen strahlte und machte einen Knicks. Sie war im Sonntagsstaat: geblümtes Kleid und weiße Söckchen. Ihre blonden Zöpfe, heut nicht zu Schnecken aufgesteckt, hingen ihr auf die Schulter. Selbst Georg mußte sich eingestehen: Lischen sah heut hübsch aus, gar nicht trutschig.

Freilich, an Vera kam sie nicht heran. Von Lischen kriegte er ja keine Schokolade. Wohl aber von Vera. Die brachte ihr Bob mit, ihr Engländer. Dazu Kekse, Bohnenkaffee, Konserven und Zigaretten der Marke Players oder Senior Service. Die Schokolade teilte Vera mit ihm: Du ein Stück, Georg, dann ich eins, nun wieder du... Sie schoben sich die Stücke gegenseitig in den Mund, lutschten und schmatzten. Von den Zigaretten kriegte er nichts ab: Dafür bist du noch zu jung. Spargel, so alt wie er, hatte schon geraucht: Ich hab Onkel Willy die Pfeife geklaut. Auch seinen selbst angebauten Knaster. Dann hab ich mich hinter einem Knick verkrochen und geschmaucht. Und, hatte Georg gefragt, wie war's? Hab gekotzt und mir beinah in die Hose geschissen. Nie wieder, Schorsch, sag ich dir. Nie wieder!

Wenn Vera und Georg eine Tafel Schokolade verputzt hatten, waren ihre Finger braun verschmiert. Erst leckte er seine Finger ab, dann ihre. Sie lachte, warf ihre schwarze Mähne in den Nacken, drückte ihn an sich und sagte: Bob ist mein großer Freund und du mein kleiner. Sie fühlte sich so an wie die Mutter, wenn sie die Arme um ihn legte: warm und weich. Aber auf eine andere Art. Eine, die er fast noch lieber hatte. Warum - das hätte er nicht sagen können. Es war einfach so.

Lischen und Georg reihten sich in den Zug der Kinder ein. Er bei den Jungen mit ihren Steckenpferden, Lischen bei den Mädchen mit ihren Bögen aus Blumen, kunstvoll geflochten. Die Mutter, Tante Marie und Vera gingen nebenher. Zusammen mit anderen Eltern und den Schaulustigen. Auf dem Schulhof hielten alle an. Lehrer Kröger wartete schon auf sie. Noch einmal tschingderassa bum - dann begann er seine Ansprache: Liebe Kinder!

Liebe Eltern! Ein Jahr ist vergangen, und heute ist es wieder so weit. Ich freue mich, euch alle zum Vogelschießen begrüßen zu dürfen. Ich danke den Eltern, die für uns Kuchen gebacken haben. Ich danke auch meiner lieben Frau. Sie hat Kakao zubereitet. Frau Kröger stand neben dem Kessel für die Schulspeisung und schwenkte zur Begrüßung ihre Kelle.

Kröger machte weiter: Jetzt zum Ablaufl Das Programm für unsere Lütten, die Unterklassen: Die Mädchen Eierlauf, Sackhüpfen und Kringelbeißen. Die Jungen Ringe stechen mit dem Steckenpferd. Eine Vorübung fürs spätere Ringreiten. Die Mädchen der Oberklassen Topfschlagen. Die Jungen schießen nach dem Vogel mit der Armbrust.

Kröger wurde lauter, seine Stimme schnarrend: Die Armbrust — keine scharfe Waffe, aber immerhin, man kann damit schießen. Die deutsche Jugend muß ja wieder eines lernen: wehrhaft zu werden. Etwas, was unserem geliebten Vaterland genommen wurde. Aber etwas, was jedes Volk braucht, um auf dieser Welt bestehen zu können. Kröger hob den rechten Arm. Marie Ratjen stieß Grete Schneider an: Markst Müüs, Grete? Kröger fangt an to bölken. Un de Jungs schüllt wedder wehrhaft warrn. Un denn geiht noch sien rechte Hand inne Hööcht. Glieks is dat so wiet. Glieks röppt he Heil Hitler. Jüst as fröher.

Grete Schneider verstand Plattdeutsch, sprach es aber nicht. Wollte es auch nicht. Ihre Heimat war die Stadt, war Altkirchen, nicht Hohenfelde. Dort sprach man Hochdeutsch, zumindest in ihren Kreisen. Sie wollte Städterin bleiben, nicht Dörflerin werden. Bei ihrem Sohn, sie ahnte es, war das anders.

Kröger reckte noch immer den rechten Arm empor. Glieks, flüsterte Marie Ratjen ihrer Nachbarin zu, glieks kümmt dat Hoch op Adolf. Sie wurde enttäuscht. Kröger streckte nur den Zeigefinger aus und wies auf die Wiese hinter der Schule: Und nun zum Festplatz! So'n Schiet, sagte Marie Ratjen. He hett sik wedder inkregen. Is nix worrn mit Heil Hitler. Un ik harr op swören kunnt. Georg, Siggi und Spargel folgten Krögers ausgestrecktem Arm. Neben den Steckenpferdreitern reihten sich die kleinen Mädchen auf, unter ihnen Lischen. Kringelbeißen, Eierlauf und Sackhüpfen: Nichts für echte Jungen! Ebenso wenig das Topfschlagen.

Mit verbundenen Augen herumgewirbelt werden, ganz tüdelig werden, womöglich stolpern und hinfallen, sich wieder aufrappeln, nicht wissen, wo der Topf stand und mit einem Kochlöffel um sich schlagen: Geradezu lächerlich! Topf und Kochlöffel: Was für Weiber!

Schießen mit der Armbrust: Das war schon eher was. Das Ziel, den Vogel aus Holz, über Kimme und Korn anvisieren, im rechten 5 Moment abdrücken, treffen, am besten den letzten, den Königs- schuß abgeben und als Sieger in der Königskutsche durchs Dorf fahren, beneidet und bewundert: Nicht übel!

Doch noch waren Georg, Siggi und Spargel Steckenpferdreiter. Der Größe der Unterkläßler angemessen, hing der Ring an einem niedrigen Galgen aus Latten. Sonst waren die Regeln wie bei den Erwachsenen: Antraben, danach in Galopp verfallen, den Ring zu treffen suchen und aus der Klemmvorrichtung ziehen. Siggi ritt ein Erbstück der Familie Kreher. Der Kopf kunstvoll geschnitzt und bemalt, mit lebhaften Augen, fast wie ein feuriger Araber, die Mähne aus echtem Pferdehaar. Der Zügel eine Lederschlaufe, mit zwei glänzenden Nägeln am Kopf befestigt. Ein Prachtstück. Siggi ritt an. Hüpfte in seinem Krähentrab auf den Ring zu. Ungeschickt und ungelenk. Verstolperte den Galopp und stach daneben. Blindsteker, Blindsteker! Krähe, Krähe, kra, kra, kra, so höhnten die andern. Siggi schlich zurück und reihte sich in die wartende Schlange wieder hinten ein, bereit zum nächsten, hoffentlich besseren Versuch.

Georgs und Spargels Pferde stammten aus dem gleichen Stall: aus der Besenecke ihrer Mütter. Ein Stück Band als Zügel — und fertig war das Steckenpferd. So, Georg, hatte die Mutter vor zwei Wochen gesagt, du möchtest eines haben wie Siegmund Kreher? Woher soll ich das denn nehmen? Etwa kaufen? Wir müssen unser bißchen Geld zusammenhalten, nicht unnütz ausgeben. Wieso, hatte er überlegt, ist ein Steckenpferd unnütz? Es kam ja nicht nur auf den Reiter an, sondern auch aufs Pferd. Warum wohl war heute morgen Hannes Henning König geworden? Sien Holstener is dat beste Peerd in’t Dörp, hatten die Bauern gesagt. Das galt auch für Steckenpferde. Er hatte nachgesetzt: Mutti, Doro hat doch neulich einen Atlas bekommen. Der hat doch auch was gekostet. Aber Georg, das ist ganz was anderes. Ein Atlas ist was für die Bildung. So war das also. Wegen der Bildung. Bildung? Was war das?

Dann war er an der Reihe. Er trieb seinen Klepper an: Hü, hül Doch das Biest wollte nicht recht. Er gab ihm imaginäre Sporen: Nun komm schon! Vergeblich. Der Besen wurde kein Rennpferd. Er stach in die Luft und mußte sich anhören: Blindsteker, Blindstekerl Spargel erging es nicht besser. Scheißgaul! fiuchte er, warf den Besen zur Erde und fing an, darauf herumzutrampeln. Arthur, sagte seine Mutter, nicht immer dieses Wort! Und laß den Besen heil! Den brauch ich noch. Ich nicht, schimpfte Spargel. Ein richtiges Steckenpferd müßte ich haben. Wie die Bauernjungs. Besser noch ein richtiges Pferd. Dann würd ich’s denen schon zeigen.

Ab dem späten Nachmittag war Tanz in Erwin Reimers Gaststätte, dem Krug zum grünen Kranz. Girlanden schmückten Eingang und Festsaal. Tische und Stühle standen, locker gruppiert, um die Tanzfläche. Neben dem Tresen, dicht bei der Tränke, hatte sich die Kapelle aufgebaut. Dort drängten sich die Männer: Erwin, schenk in! Beer un Koorn. So as fröher. Uns Geld is ja wedder wat weert. Vörbi sünd de Tieden vun dat elendige Heißgetränk. Die Mutter mit Doro und Georg, Tante Marie mit Lischen und Vera saßen an einem Tisch. Die Oma war zu Haus geblieben: Grete, was soll ich alte Frau bei Reimers? Etwa mit dem Jungvolk herumhopsen? Geh du man allein mit den Kindern!

Die Kapelle erhob sich. Es folgte ein Tusch: Willkommen in Erwin Reimers Krug! Von nun an wird getanzt. Wir beginnen mit einer Polka. Etwas für alle, auch für unsere Kleinen. Und nun — auf die Tanzfläche! Die Mutter ergriff Georg: Ach, wie lange habe ich nicht mehr getanzt! Das letzte Mal mit deinem Vater. Das war noch vor dem Krieg. Sie tobten los. Immer im Kreis herum. Ihnen hinterher Tante Marie mit Lischen und Vera mit Doro. Gehopse, Gelächter, Rempeleien im Gedränge. Dann noch eine Polka. Und - ohne Pause dazwischen - eine dritte. Die Mutter fing an, nach Luft zu schnappen: Georg, ich bin ganz aus der Übung. Ich glaub, mir wird schwindlig. Ich muß mich verschnaufen. Sie setzten sich.

Die Kapelle wechselte den Rhythmus. Humdada! Humdada! Humdada! Wiener Walzer! jauchzte Vera. Dann noch eine Ansage: Damenwahl! Marie flüsterte ihrer Tochter ins Ohr: Lischen, ran an Georg! Doch Vera war schneller: Darf ich bitten, mein Herr? Er zierte sich: Vera, ich kann doch gar nicht richtig tanzen. Sie lachte: Das bring ich dir schon bei. Sie zog ihn an sich und wirbelte ihn herum: Eins, zwei, drei! Eins, zwei, drei! Sie kamen am Tresen vorüber. Dort standen sie inzwischen in Dreierreihen. Altbauern, Jungbauern, Grootknechte, Lüttknechte, die von der Meierei, auch einige aus den Nachbardörfern. Gläserklirren: Prost, Lüüd! Lachen: Wat weer dat komisch... Wichtigtuereien: Un denn heff ik em seggt...

Schon waren Vera und Georg vorbei. Humdada! Humdada! Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Siehst du, Georg, es geht schon besser. Sie hopsten weiter durch den Saal. Noch eine Runde. Kamen wieder am Tresen vorbei. Fiete Petersen hatte den Nachmittag verschlafen. Jetzt — leicht angenüchtert — war er wieder dabei. Zur rechten Zeit. Hannes Henning schmiß eine Lage Korn: Nich lang snacken, Kopp in Nacken!

Vera schwenkte Georg herum, drückte ihn dabei an sich, lachte und ließ ihre schwarze Mähne fliegen. Bauer Kreher sah die beiden. Das Gesicht gerötet, das Schnapsglas in der Hand: Kiek an! Wat mutt ik sehn? De Kowalski. De Polackin. Ehrn Tommy is nich dor. Un wat maakt se? Grippt sik een lütten, unschülligen Jung. Pfui Deibel segg ik! Er spuckte aus. Paul Ratjen tat nur zwei schnelle Schritte. Dann stand er vor Kreher. Er war im ganzen Saal zu hören, übertönte selbst die Kapelle: Kreher, hol dat Muul! Ik segg di dat bloots eenmal. De Tieden, dat du hier wat to seggen hest, de sünd vörbi, Herr Kreisbauernführer. Kreisbauernführer auf hochdeutsch, damit es jeder verstand.

Kreher antwortete ihm nicht. Er wandte sich an Reimer: Erwin, hest du dat mitkregen? Sowat seggt een to mi in dienen Kroog. Hest dat hört, Erwin? Hest dat hört? Nix heff ik hört, sagte Reimer. Rein gor nix. Ik geef di noch’n Beer ut, un denn geihst du beter na Huus, Kreher.

Vera zog Georg von der Tanzfläche: Ich möchte gehen. Die Mutter und Doro schlossen sich ihr an. Zu fünft verließen sie den Gasthof. Hand in Hand. Georg in der Mitte zwischen den beiden Frauen. Die Kapelle spielte jetzt die neuesten Schlager. Aus dem Saal scholl es ihnen hinterher: Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versiiinkt und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes bliiinkt...

Der Tag war lang geworden. Georg war müde. Fast so müde wie diese Nacht, die letzte in Hohenfelde. Damals war er gleich eingeschlafen. Jetzt nicht. Wenn du nicht einschlafen kannst, hatte die Mutter mal gesagt, dann denk an Schafe! Laß sie über eine Hürde springen und zähl sie! Das hilft. Er schloß die Augen. Hürden gab es in Hohenfelde reichlich. Einfache Drahtzäune. Welche mit Stacheldraht bewehrt. Andere aus Holz. Um Koppeln, Wiesen und Weiden. Hohe Zäune, die das Vieh aufhalten sollten. 67 Ob da ein Schaf rüberkam? Er bezweifelte es. Niedrige Zäune gab es auch. Zum Beispiel den Jägerzaun um Onkel Pauls Vorgarten. Da müßten es Schafe doch rüberschaffen. Fehlten nur noch die Schafe. In Hohenfelde hielt kein Bauer welche. Im benachbarten Bargstedt schon. Er hatte sie ein- oder zweimal gesehen: große weiße Wollknäuel auf vier Beinen. Wollknäuel — wenn auch ohne Beine - hatte die Oma vor sich, wenn sie strickte. Sie versorgte die Familie mit Strümpfen, Handschuhen, Schals und Mützen. Auch mit Pullovern. Waren Doro oder er aus einem herausgewachsen, wurde er aufgeribbelt, die Wolle gewaschen, getrocknet und erneut verwendet. Im Moment strickte sie einen Pullover für Doro. Blau-weiß-rot gestreift sollte er werden, hatte Doro gesagt. Wie die Farben von Schleswig-Holstein. Beim Stricken saß die Oma in der Stube auf einem Stuhl und bewegte ohne Pause die Nadeln. Brauchte sie Nachschub an Garn, zupfte sie am Faden. Das Knäuel auf dem Fußboden hüpfte, rollte ein Stück und blieb liegen, bis sie wieder an ihm zog. Es sah aus, als ob es lebte. Er mußte an die Wollknäuel der Oma denken, dann würde es mit der Vorstellung von Schafen schon klappen. Blaue und rote Schafe gab es nicht. Weiße, braune und schwarze schon. Er konzentrierte seine Gedanken auf Omas weißes Wollknäuel. Es brauchte seine Zeit, doch dann veränderte es sich, wurde zum Rumpf eines Schafs, ein Kopf kam hinzu, dem Schaf wuchsen 68 " Beine und schließlich ein Stummelschwanz, mit dem das Tier aufgeregt wedelte. Es lief — wie gewünscht — auf Onkel Pauls Jägerzaun zu und sprang. Andere Schafe folgten. Er fing an zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Sein Kopf wurde schwer und schwerer. Acht, neun, zehn, elf, zwölf... Bei dreizehn schlief er ein. Er träumte. Träume gab es viele. Albträume. Träume voller Sehnsucht. Träume von Erlebtem. Albträume hatten ihn nach dem Bombenangriff gequält. Lange Monate, bis er stark genug war, den Kampf gegen die Gespenster der Nacht aufzunehmen und sie zu vertreiben. Ob er sie für immer besiegt hatte, wußte er nicht, konnte es nur hoffen. Sicher war es nicht, ob ihn die Vergangenheit nicht eines Tages wieder einholen würde. Vielleicht erst im Alter, wenn er auf sein Leben zurückblickte.

Träumen voller Sehnsucht vertraute er sich bereitwillig an. Er ließ sich von ihnen mitnehmen in ferne, nie zuvor gesehene Welten und erlebte Abenteuer, die er am nächsten Morgen, wenn die Mutter ihn weckte, meist schon vergessen hatte. Sein Traum von heute knüpfte an gerade Gesehenes an. Schaf Nummer dreizehn kehrte zurück. Doch dann verlor es seinen wolligen Pelz. Das Fell wurde glatt, behielt aber seine helle Farbe. Dem Tier wuchsen eine Mähne und ein strähniger Schwanz. Es verwandelte sich in ein Pferd, ein fahl gefärbtes Jungtier. Er wollte es fangen. Aber es rannte fort und nahm seine Gedanken mit. Hinein ins nächste Jahr. Wieder waren Sommerferien. Er rieb sich die Augen und war wach.

Dann war das Pferd wieder da. Nicht als Traumgebilde, sondern real. Es stand auf einer Koppel. Dort grasten Stuten mit ihren Fohlen, der junge Falbe eins von ihnen. Siggi, Spargel und er standen vor dem Gatter. Spargel zeigte auf das Tier und sagte: Im letzten Jahr hab ich gesagt, zum nächsten Vogelschießen brauch ich ein richtiges Pferd, nicht so'n ollen Besenstiel. Jetzt hab ich eins. Das da.

Du spinnst doch, sagte Georg. Das hier ist die Koppel von Heeschen. Denen gehören die Pferde. Das nicht mehr, sagte Spargel. Das hat mir Hein Heeschen geschenkt. Geschenkt? Na ja, nicht ganz. Neulich stand ich hier am Zaun und hab nach den Pferden geguckt. Da kam Hein Heeschen vorbei. Na, Arthur, hat er gesagt, gefallen dir meine Pferde? Klar, hab ich gesagt. Besonders der junge Falbe. So eins möchte ich auch haben. Fürs Ringreiten beim Vogelschießen. Mit meinem Besenstiel kann ich ja nicht gewinnen. Und was hat er gesagt? Das Fohlen leih ich dir, Arthur. Und vorher kannst du ein bißchen drauf reiten, damit ihr beiden euch anfreundet. Nett von ihm, nicht? Georg guckte ungläubig: Das hat er gesagt, Spargel? Genau das, Schorsch. Bei Georgs Sturz vom Baum hatte Spargel gelogen. Nun ja, es war eine Notlüge gewesen. Notlügen waren erlaubt. Und jetzt? Die Oma sagte immer: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Sprach Spargel jetzt die Wahrheit?

Was meinst du, Siggi? wollte Georg wissen. Ich glaub ihm, sagte Siggi. Hein Heeschen is’n richtig netter Kerl. Wenn Siggi Spargel glaubte, dann wollte er es auch. Doch etwas war noch zu klären: Und woher kriegen wir Sattel und Zaumzeug? Einen Sattel brauchen wir nicht, sagte Spargel. Zaumzeug ist hier im Stall. Auch Pferdedecken.

Der Stall war verschlossen. Macht nichts, sagte Spargel. Hier an der Seite ist ein Stück Brett abgefallen. War schon ganz verrottet. Das Brett lag herum, etwas morsch, aber mit frischer Bruchstelle. Spargel schlüpfte durch die Lücke und kam mit einer Decke und Zaumzeug wieder. Zu dritt kreisten sie den Falben ein. Schwenkten die Decke und hoben die Arme. Trennten ihn von der übrigen Herde. Siggi warf ihm die Decke über und legte das Zaumzeug an. Als Bauernjunge verstand er seine Sache. Dann schwang er sich auf den Rücken und rief: Das Gatter auf! Macht schon! Zwei Tage lang erkundeten sie die Feldmark, hoch zu Roß. Das hieß: Siggi und Spargel. So ungelenk Siggi zu Fuß war, als Reiter stach er sie beide aus. Spargel ritt leidliich. Georg nicht einmal das. Er hatte Scheu vor dem Tier, und der Faibe mochte ihn anscheinend nicht. Keine gute Verbindung zwischen Mensch und Tier. Kaum war er mit Siggis Hilfe oben, lag er schon wieder unten. Irgendwo im Sand eines Feldwegs. Ein Pferd war kein Baum. Es hielt einfach nicht still.

Am dritten Tag überraschte sie Hein Heeschen. Siggi war gerade dabei, den Falben aufzuzäumen. Wat schall dat bedüden? brüllte Heeschen los. Wat maakt ji dor mit mien Peerd? Weglaufen war sinnlos. Hein Heeschen kannte sie und wußte, wo sie wohnten. Er lieferte einen nach dem andern zu Hause ab. Georg als letzten. So, sagte die Mutter, ein Pferd habt ihr euch ausgeliehen, ohne den Besitzer zu fragen, und seid damit herumgeritten. Wer von euch Dreien ist bloß auf diese Idee gekommen? Ich nicht, Spargel. Und geritten hab ich auch nicht richtig. Ich bin ja immer gleich wieder runtergefallen. Georg, sagte die Oma, du versuchst, dich rauszureden. Das gehört sich nicht. Mitgegangen — mitgefangen — mitgehangen.

Zum Hängen kam es nicht. So befand es jedenfalls das Gericht, das am späten Nachmittag in der guten Stube des Heeschen- Hofs zusammentrat. Der Ankläger: Bauer Hein Heeschen. Die Anklage: Pferdediebstahl. Die Angeklagten: Georg, Siggi und Spargel. Das Hohe Gericht: Georgs Mutter, Bauer Kreher und Willy Falke. Dieser als Vertreter von Spargels Mutter. Jeh du, Willy, hatte sie gesagt. Ech schäm mir ja so fier das Arthurchen. Hein Heeschen ergriff zuerst das Wort: Wat hebbt ji Bagaluten ju denn dorbi dacht, mien Falben to klaun? Georg und Siggi sahen sich an. Gedacht? Hatten sie sich etwas gedacht? Eigentlich nicht. Das Denken hatten sie Spargel überlassen. Was das war, behielt der für sich. Georgs Mutter unterbrach die Stille: Herr Heeschen, mir wäre es lieber, wenn wir Hochdeutsch reden könnten. Platt ist der Dame wohl nicht fein genug, giftete Kreher. Schnauze, Kreher! sagte Willy Falke. Kreher brummte etwas Unverständliches. Freundlich klang es nicht.

Hein Heeschen unternahm einen zweiten Anlauf, jetzt auf Hochdeutsch: Wer von euch hatte denn die Idee, mein Pferd, sagen wir, auszuleihen? Spargel hob zögernd den Finger. Fast zur gleichen Zeit wie Siggi und Georg. Dessen Mutter mußte lachen:

Wie die drei Musketiere. Einer für alle, alle für einen. Zum Lachen find ich das nicht, Frau Schneider, sagte Heeschen. Das Tier war zum Reiten noch etwas zu jung. Auf'n großes wären wir ja nicht raufgekommen, krähte Spargel los. Batsch — schon hatte er eine Ohrfeige von Onkel Willy eingefangen. Sei nicht so vorlaut, Arthur! Das ist die richtige Medizin, meinte Kreher. Mein Vorschlag: ein ordentliches Jackvoll für alle drei. Meiner hat die erste Rate schon gekriegt. Meinen Georg, sagte seine Mutter, schlage ich nicht. Mutt Se ok nich, brummte Kreher. Ik maak dat al för Se. Hochdeutsch, Kreher! sagte Heeschen. Schlagen also nicht: Aber was dann?

Inbuchten, bullerte Kreher. So as Verbrekers. In’t swatte Lock! Er verbesserte sich, ehe ihn Heeschen ermahnen konnte: Im Spritzenhaus einsperren, mein ich. Das Wort Verbrecher ließ er aus. Man konnte ja nie wissen, wie das bei Willy Falke ankam. Geht in Ordnung, sagte der. Ich bin ebenfalls einverstanden, meinte Georgs Mutter. Aber wann und für wie lange? Gleich heute, schlug Heeschen vor. Für eine Nacht.

Die Mutter gab Georg eine Wolldecke mit: Damit du nicht frierst. Selbst jetzt im Sommer kann es nachts ja noch kalt werden. Sie lieferte ihn vor dem Spritzenhaus ab. Siggi und Spargel waren schon da. Hein Heeschen schloß die Tür auf: Rein mit euch! Von drinnen hörten sie, wie er den Schlüssel drehte. Sie waren eingesperrt. Angst hatten sie nicht. Sie waren ja zu dritt. Wie die drei Musketiere, dachte Georg. Musketiere? Was waren das für Leute? Er würde die Mutter fragen. Gleich morgen früh, wenn sie befreit würden. Es war noch hell. Sie setzten sich auf die Deichsel der Wasserspritze und unterhielten sich: Weißt du noch, Schorsch, wie du vom Pferd gefallen bist? Wie’n Mehlsack. Und du, Spargel, hast dich an der Mähne festgehalten und gerufen: Nicht so schnell! Nicht so schnell! Siggi, wo ist bei einem Pferd die Bremse?

Es wurde dunkler und kälter. Sie breiteten Georgs Decke auf dem Boden aus und legten sich hin, dicht beieinander, und wärmten sich gegenseitig. Siggi und Spargel schliefen schnell ein. Georg nicht. So wie heute. Doch irgendwann war es so wie damals im Schwarzen Loch. Er glitt hinüber in den Schlaf. Langsam, ganz langsam, ganz sanft.

Zu sanft. Zu sehr an der Oberfläche. Nicht tief genug, um das Geräusch zu überhören, das ihn weckte. War es das Schnarchen der Oma? Nein. Das war lauter und klang anders. War es der pfeifende Atem der Mutter? Vielleicht. Er spitzte die Ohren und erkannte das mehrstimmige Fiepen ihrer Mitbewohner, der Mäuse. Die Nager hausten als Großfamilie unter dem Holzfußboden. Die Dielenbretter wiesen etliche morsche Stellen auf. Schlupflöcher, gerade groß genug für die Mäuse. Tagsüber blieben sie meist im sicheren Untergrund. Bei Anbruch der Dunkelheit wagten sie sich hervor.

Im Winter waren sie besonders keck. Die Oma, die Mutter, Doro und er saßen oft noch vor dem Ofen, wenn sie hervorkrochen. Sie musterten die Menschen mit neugierigen Knopfaugen. Die Familie Schneider griff zu Vertreibungsmaßnahmen. Die strickende Oma warf mit ihrem Wollknäuel. Die Mutter, Doro und Georg bombardierten die Mäuse mit ihren Hausschuhen. Angriffe aus der Luft. Feuer frei! rief Georg dann. Die können ja nicht zurückschießen. Die haben ja keine Flak. Die Mäuseschar fiepte empört und flüchtete zurück in den Untergrund, wo sie sicher war.

Daß der Junge das noch weiß mit der Flak, wunderte sich die Mutter. So jung, wie er damals war. Erstaunlich. Grete, sagte die Oma, auch wenn der Mensch ganz klein ist, manches prägt sich ihm ein. Für ein ganzes Leben. Gutes und Schlechtes. Das Schlechte leider am besten.

Die Flak war Georgs erste Erinnerung an den Krieg. Im Frühjahr war es gewesen. Es wurde schon warm, als die Soldaten kamen. Sie bauten in Onkel Pauls Garten etwas auf, ein merkwürdiges 4 Gerät: Vier metallene Stützen, die sich spreizten, darauf eine Plattform mit einem Geschütz, dessen vier Rohre zum Himmel starrten, mit einem Sitz zur Bedienung. Lischen, Doro und er standen davor und staunten. Die Plattform ließ sich drehen. Na, lachten die Soldaten, wollt ihr mal ne Runde Karussell fahren? 4 Die Wehrmacht lädt zu Freifahrten ein.

Sie stiegen auf. Immer einer zur Zeit kletterte auf den Schoß des Soldaten auf dem Sitz. Auf ging’s! Immer im Kreis herum. Mit Juchhei und Gelächter. Onkel Paul stand dabei: Das bringt Spaß, nicht wahr? Dann brummte etwas hoch über ihnen. Alarm! schrien die Soldaten. Onkel Paul rannte mit den Kindern ins Haus. Draußen hörten sie es rattern: Rattatattatattatatt! FeuerÄ stöße aus den Vierlingsrohren. Nach einiger Zeit Stille. Onkel Paul stürmte nach draußen: Wollt ihr jetzt noch den Krieg gewinnen? Der ist in ein paar Wochen zu Ende. Ihr hetzt uns nur den Tommy auf den Hals. Wenn der Aufklärer die Jagdbomber alarmiert, dann gnade uns Gott! Ich hab Frau und Kind. Haut bloß ab in die Wälder! Da sind schon genug von euch. Ihr seid da sicher vorm Tommy und wir hier vor euren Dummheiten.

Es war eine der längsten Reden, die Paul Ratjen je gehalten hatte. Er legte all seine Wut hinein über das, was er in den letzten Jahren hatte erleben müssen: Das Gefasel von Blut und Boden, vom Volk ohne Raum, von der Gewinnung fruchtbarer Scholle im Osten, zu erwerben mit siegreichem Schwert, von Großdeutschlands neuen Grenzen am Ural, gesichert von Wehrbauern mit dem Gewehr in der Hand.

Und was war draus geworden? Wo waren die Bauernsöhne geblieben, die Zukunft der Nation? Ihr Fleisch verdorrte in den Wüsten Nordafrikas oder diente den Fischen der Weltmeere als Futter. Ihre Knochen düngten die Weiten Rußlands, die Felder der Normandie und die Weinberge Italiens. Die Russen standen jetzt vor Berlin, die Briten an der Elbe, und die Amerikaner stießen nach Bayern vor. Und da wollten diese Verrückten noch kämpfen. Der Endsieg — errungen in seinem Garten. Nicht zu fassen! Die Soldaten zogen ab. Das Geschütz nahmen sie mit. Etwas ließen sie zurück: eine leere Munitionskiste aus starkem Eisenblech mit angenieteten Tragegriffen. Verschließbar mit zwei Bügeln. Die Kiste rot gestrichen, ein Hinweis auf den Inhalt: Vorsicht, Munition! Auf dem Deckel befand sich ein Aufdruck: B. 167, 1943. Das B. für Bataillon?

Die herrenlose Kiste schleppte Georgs Mutter ins Haus: Die kann ich gut gebrauchen. Sie führte sie friedlichen Zwecken zu. Von nun an diente die Kiste als mäusesicherer Aufbewahrungsort für Lebensmittel. im Winter wurde sie zum Kühlschrank. Wenn sich an den Fensterscheiben erste Eisblumen zeigten, stellte die Mutter sie auf ein Fensterbrett.

Wenige Wochen später kamen die Engländer. Sie sammelten die deutschen Soldaten in den Wäldern ein. Auch deren Waffen. Sogar die Jagdgewehre der Zivilbevölkerung. Ob sie alles auffanden, war zweifelhaft. Manches Mordwerkzeug, so sagte man, lag im sandigen Geestboden vergraben, verborgen vor den Blicken der Sieger: Karabiner und Maschinengewehre, eingewickelt in Ölpapier, Munition unterschiedlicher Kaliber in Blechkisten, und auch Drillinge, von denen sich passionierte Jäger trotz Strafandrohung nicht trennen wollten. Sogar Handgranaten waren noch irgendwo versteckt. Ziviles Heeresgut lag noch längere Zeit herum, ehe die Engländer es holten. Inzwischen bemächtigten sich die Einwohner Hohenfeldes und der umliegenden Dörfer dessen, was sie für verwertbar hielten. Auch die Oma und die Mutter gingen auf Beutezug. Sie schnappten sich drei Wolldecken, zwei Zeltbahnen und drei Kochgeschirre. Die siegreichen Engländer blieben im Land. Ein kleines Kommando lag in Neudorf. Zu ihnen gehörte Bob, Veras Freund.

Georgs Gedankenfilm spulte im Schnelldurchlauf vorwärts. Weg von der mäusesicheren Munitionskiste wieder hin zu seinen ersten Ferien. Noch gehörte ihm, Siggi und Spargel der ganze Tag. Sie stromerten im Dorf herum. Da kam Bob an ihnen vorbei. Er hielt mit seinem Land-Rover vor dem Haus der Schneiders. Vera stieg ein, eine Wolldecke unter dem Arm. Bob fuhr an. Wo die wohl hinwollen? sagte Georg und spürte den Geschmack von Schokolade auf der Zunge. Das kriegen wir schon raus, sagte Spargel. Wie denn? Einfach hinterherrennen.

Doch Bob fuhr schneller, als sie laufen konnten. Das letzte, was sie von ihm sahen, war, wie er in den Feldweg zum Thingberg einbog. Und nun? sagte Siggi. Am Waldrand hört der Weg auf, sagte Spargel. Da kommen die beiden nicht weiter. Die finden wir schon.

Er hatte recht. Am Ende des Wegs war der Wagen abgestellt. Von Bob und Vera dagegen keine Spur. Sie schlichen sich durchs Unterholz, hörten plötzlich jemanden stöhnen. Hinter einer jungen Buche nahmen sie Deckung, bogen die Zweige auseinander und entdeckten die beiden. Die Wolldecke lag auf dem Waldboden, Vera auf der Decke, den Rock hochgeschlagen, und Bob lag auf Vera, die Uniformhose in den Kniekehlen. Er bewegte sich auf und ab. Vera stöhnte wieder.

Was machen die da? flüsterte Georg. Der tut Vera doch nicht etwa was? Das tat Bob nicht und andererseits doch. Spargel wußte Bescheid: Die ficken. Ficken? Was ist das? Mensch, Schorsch, was biste doch dämlich! sagte Spargel. Siggi, erklär du es ihm! Er deckt sie, sagte Siggi. Deckt sie? Ja, wie unser Bulle die Kühe. Das haste doch schon mal gesehen. Siggi, ist Bob der Bulle und Vera die Kuh? So ungefähr. Aber Kälbchen machen die nicht. Spargel mußte lachen. Etwas zu laut. Bob und Vera schreckten hoch. Die drei rannten weg. Abends hatte Vera Schokolade und teilte sie mit Georg. Komisch, dachte er. Heut schmeckt die irgendwie anders. Nicht so gut wie sonst.

Die Äpfel von Onkel Paul schmeckten umso besser. Klaräpfel — die ersten Äpfel des Jahres: weißlich-grün, knackig, saftig, säuerlich, aber nicht lange lagerfähig. Onkel Paul hatte einen Baum im Garten und jetzt immer welche in den Taschen seiner Joppe. Traf er Georg, sagte er: Na, mien Jung, wullt'n Appel? Geern, Unkel Paul. Ik dank ok schön.

Manchmal schenkte Onkel Paul ihm zwei, drei oder gar vier Äpfel. Einen aß er selbst. Die andern nahm er mit nach Hause: Guck mal, Mutti! Die hab ich von Onkel Paul. Wie nett von ihm, sagte die Mutter, und nett von dir, daß du auch an uns denkst. Äpfel sind ja so gesund. Da sind Vitamine drin, und die braucht unser Körper. Vitamine? Da drin? Und wie kriegt man die raus? Die Mutter lachte: Indem man die Äpfel ißt.

Spargel hatte Kirschen. Manchmal ein ganzes Kochgeschirr voll und über den Ohren noch Zwillingspaare an ihren Stielen. Wo hast du die denn her? wunderte sich Georg. Ihr habt doch gar keinen Garten. Aber Bauer Brehm, sagte Spargel. Gleich ne-* benan. Die süßen Knubberkirschen waren ein Gedicht. Geklaut schmeckten sie noch besser. Sie setzten sich auf die Mauer vor dem Hof von Henning und teilten. Die Kerne spuckten sie in die Gegend. Mal sehen, wer weiter kommt, sagte Spargel. Wenn ein Mädchen vorbeikam, spuckten sie mit den Kernen nach dem. Bei Lehrer Kröger konnte sie ja niemand verpetzen, denn noch waren Ferien.

Dann hatte Spargel keine Kirschen mehr, sondern rotgeschrubbte Beine und eine andere Hose an als tags zuvor. So eine Gemeinheit! fluchte er. Der Brehm, so ein gemeiner Hund! Was ist mit Brehm? fragte Georg. Der hat den Stamm vom Kirschbaum mit Teer eingeschmiert. Hab ich im Dunkeln erst bemerkt, als ich schon dranklebte. Die andre Hose ist hin, und ich hab mich eingesaut. Meine Mutter hat furchtbar geschimpft und wie 'ne Verrückte an mir rumgeschrubbt. Hat richtig wehgetan. Die Hose hat sie weggeschmissen. Und Onkel Willy hat getobt: Was denkt der dicke Brehm sich dabei? Der reichste Bauer im Dorf und gönnt den Jungs nicht mal ein paar Kirschen. Na, warte, dem werd ich’s heimzahlen. Am nächsten Morgen lag Brehms Kirschbaum flach, in der Nacht abgesägt.

Um die Mittagszeit erschien Wachtmeister Rudi Otte im Dorf. In Uniform samt Dienstmütze, mit den Bauchansatz zurückdrängendem Koppel, Langschäftern und Hilfspolizist Schäferhund Hasso an der Leine. Otte schwitzte. Die Fahrt von Neudorf nach Hohenfelde ging stetig bergauf. Zudem war es heiß. Der Wachtmeister lehnte sein Dienstrad an eine der Säulen des Protzportals von Brehms Hof, nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Außer der Anstrengung der Fahrt und der Hitze gab es noch etwas, was ihn schwitzen ließ. Otte kannte die meisten Leute hier. Mit einigen war er befreundet. Brehm zählte nicht dazu. Nun sollte er hier ermitteln. Schon morgens hatte Bauer Brehm in der Neudorfer Dienststelle empört angerufen.

Aber was half’s? Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps. Brehm erwartete ihn bereits. Der Wachtmeister machte sich an die Arbeit, zückte Notizblock und Bleistift. Je schneller die Sache erledigt war, desto besser: Brehm, haben Sie einen Verdacht, wer der oder die Täter sein könnten? Kloor, polterte Brehm los, ik weet genau, welkeen dat weer. De Bagalut vun Arthur Koslowski hett mien Boom plünnert, un de Keerl vun sien Mudder, de Willy Falke, hett em afsaagt. Bitte Hochdeutsch, Brehm! Wegen des Protokolls. Und dann lassen Sie uns mal die Beschuldigten hören! Die wohnen gleich nebenan, sagte Brehm. Willy Falke war beim Holzhacken. Spargel stand neben ihm. Was nun geschah, erfuhr Georg am frühen Nachmittag aus erster Hand, nämlich von Spargel selbst.

Schorsch, sagte er, das war so: Onkel Willy hackt Brennholz, und ich sammel es auf und trag es zu meiner Mutter in die Küche. Wiegt ganz schön, so’n Korb mit Holz. Da kommt Wachtmeister Otte vorbei, den dicken Brehm im Schlepptau. Moin, Falke, sagt Otte und tippt an seine Mütze. Moin, Wachtmeister, sagt Onkel Willy. Was gibt's denn? Heut, sagt Otte, komm ich dienstlich. Ich hab ein paar Fragen an Sie. Brehm sagt nichts. Nicht mal Moin. Steht nur da und glotzt böse. Onkel Willy schlägt das Beil in den Haublock und sagt: Dann man zu, Wachtmeister!

Otte hat noch gar nichts gefragt, da brüllt Brehm schon los: Der Jung da - dabei zeigt er auf mich — hat meine Kirschen geklaut, und Falke hat den Baum umgehaun! Sachte, Brehm, sachte, sagt Otte. Lassen Sie lieber mich machen! Dann fragt er mich: Stimmt das, was Bauer Brehm gesagt hat? Ich guck ganz doof und schüttel den Kopf. Otte sagte nun: Brehm, haben Sie den Jungen in Ihrem Baum gesehn? Das nicht, aber... Was aber? Er hat mit Kirschkernen nach Mädchen gespuckt, auch nach meiner Tochter. Da sagt Onkel Willy: Und auf den Kernen stand drauf: Eigentum von Egon Brehm. Oder was?

Brehm kriegt'n dicken Hals. Er sieht sich um und entdeckt Onkel Willys Säge. Die lehnt an der Holzmiete. Mensch, Otte! schreit Brehm. Sind Sie denn blind? Da, die Säge da! Das Tatwerkzeug. Sogar Sägespäne sind noch dran. Sägespäne sind hier überall, sagt Otte. Was ich brauche, sind Beweise, Brehm. Beweise? Was für Beweise denn noch? Brehm läuft rot an, schiebt Otte beiseite und will auf Onkel Willy los. Aber der hat keine Angst. Vor niemand. Erst recht nicht vor dem dicken Brehm, diesem Fettsack. Onkel Willy hat 'ne ganze Pappschachtel voller Orden. Wegen Tapferkeit vor dem Feind, sagt meine Mutter. Die hat mir die Orden mal gezeigt: Hier, Arthur, ist das EK I, das hier nennt sich Winterschlacht im Osten, Gefrierfleischorden sagt Onkel Willy dazu, das ist die Nahkampfspange, und das hier das Verwundeten- und das Panzervernichtungsabzeichen. Onkel Willy hat die Orden nach dem Krieg wegschmeißen wollen: Was soll ich mit Adolfs Blech? Meine Mutter war dagegen: Willy, man weiß nie, wozu das Zeug noch mal gut ist. Die Tommies zum Beispiel sind ganz wild auf sowas. Wir könnten die Orden gegen was zu essen eintauschen. Oder gegen Zigaretten. Die kriegen die nicht, hat Onkel Willy geknurrt. Bewahr du sie auf! Ich will den Plunder nicht mehr sehen. Der erinnert mich immer an Hitlers Scheißkrieg. Mensch, Spargel! Brehm will auf Onkel Willy los, und du erzählst mir was von seinen Orden. Hast ja recht, Schorsch. Also: Der dicke Brehm geht auf Onkel Willy los. Wachtmeister Otte geht dazwischen: Halt, Brehm! Haben Sie Beweise für Ihre Behauptungen? Beweise? bölkt Brehm. Wozu Beweise? Das weiß doch jeder im Dorf, was das hier für ’ne Familie ist. Die Koslowski-Gören klauen wie die Raben, und Falke stiftet sie dazu an. Arbeit hat er nicht. Und sonst hat er auch nichts. Am liebsten würde er uns Bauern alles wegnehmen, der Kommunist!

Da hättest du Onkel Willy sehen müssen. Ein Sprung, und er ist beim Haublock, reißt das Beil raus und... Doch Otte hält ihn fest. Falke, schreit er, machen Sie sich nicht unglücklich! Denken Sie an Frau Koslowski und die Kinder! Die brauchen Sie hier und nicht hinter Gittern. Und zu Brehm sagt er: Brehm, Sie gehen jetzt nach Haus. Ganz schnell! Und überlegen Sie sich, was Sie sagen, bevor Sie Ihr Maul aufreißen! Im Strafgesetzbuch gibt es auch Paragraphen wie üble Nachrede und Verleumdung. Dann sind Otte und Brehm gegangen. Otte immer dicht hinter .dem dicken Brehm her, bis der in seinem Haus verschwunden ist. Otte geht jetzt durchs Dorf und befragt alle möglichen Leute.

Wenn er zu euch kommt, Schorsch, du hältst doch dicht, oder? Am späten Nachmittag klopfte Wachtmeister Otte bei den Schneiders an. Unwillig. Mürrisch. Immer noch schwitzend. Weitergekommen war er nicht. In seinem Notizbuch standen nur Verdächtigungen, Wichtigtuereien und gegenseitige Anschwärzerei.

Moin, sagte Otte, ich komme... Wir wissen schon weswegen, Herr Wachtmeister, unterbrach ihn die Mutter. Hier im Dorf sind Neuigkeiten schneller als Beine. Jemand hat in der Nacht Bauer Brehms Kirschbaum umgehauen, und Sie wollen wissen, wer es war. Genau, sagte Otte. Brehm verdächtigt Willy Falke. Herr Wachtmeister, sagte die Mutter, es ist nicht meine Art, mich an Klatsch und Tratsch zu beteiligen.

Die Oma mischte sich ein: Lieber Herr Otte, Brehm hat schon längst mal eine Lektion verdient. Was ist der für ein hartherziger Mensch! Geizig bis dorthinaus. Dazu aufbrausend und tyran- nisch. Drangsaliert seine Frau. Schikaniert seine Leute. Niemand mag ihn. Sich selbst mag er, glaube ich, auch nicht. Ein Mensch, der eigentlich zu bedauern ist. Doch selbst das fällt mir alten Frau schwer. Und die Sache mit dem Kirschbaum ist doch letzten Endes eine Lappalie. Falke mag der Täter sein, ein schlechter Kerl ist er nicht. Der kümmert sich um die Witwe Koslowski und deren Kinder. Den wegen Brehms Kirschbaum zu verraten: Ich nicht, selbst wenn ich wüßte, daß er den Baum umgesägt hat. Sie kennen ja den Spruch: Das größte Schwein im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant. Diese Zeiten, sagte der Wachtmeister, 85 sind doch nun vorbei. Ich hoffe es, sagte die Oma. Aber sicher bin ich mir nicht.

Georg hatte nicht alles verstanden: Was war das - ein Denunziant? Eines aber doch. Man verpfiff andere nicht. Jedenfalls nicht wegen so einem wie dem dicken Brehm. Otte wandte sich noch einmal an die Mutter: Frau Schneider, ich möchte Ihren Jungen gern noch was fragen, wenn es Ihnen recht ist. Nur zu, Herr Wachtmeister! Mein Jung, sagte Otte, du hast doch mit Arthur Koslowski zusammen Kirschen gegessen? Ja. Und hat er gesagt, wo er die her hat? Nee. Das war dann alles, sagte Otte und ging.

Für Georg nicht: Mutti, was ist ein Kommunist? Wie kommst du denn plötzlich darauf? Ach, nur so. Georg, wie soll ich dir das erklären? Also... Ich versuch’s mal so: Die Kommunisten wollen, daß alles allen gehört. Georg überlegte. Dann fragte er: Können andere sich dann was von unserem Feuerholz nehmen? Oder muß ich, wenn ich viele Pilze finde, anderen davon welche abgeben? Nein, Georg. So weit geht das nicht. Aber das Land, also Wiesen, Weiden, Felder und Äcker, auch der Wald, das soll allen im Dorf gemeinsam gehören. Dazu die Tiere wie Pferde, Kühe und Schweine. Auch Scheunen und Ställe. Alle arbeiten gemeinsam und bekommen was von der Ernte ab, ebenso von der Milch und dem Fleisch, wenn geschlachtet wird. Niemand soll hungern, wie wir es getan haben, während andere mehr als genug hatten. Mutti. Ja. Und die Leute in der Stadt? Was machen die? Da gibt es ja keine Bauernhöfe. Aber Fabriken, Georg. Die sollen dann denen gehören, die darin arbeiten. Auch das, was sie herstellen. Das verkaufen die dann und haben dadurch was zu essen. Das hört sich doch gut an, Mutti. Das meinen viele, Georg. Aber ob das funktioniert? Ich weiß nicht recht. Es gibt immer welche, die lieber zugucken, statt zu arbeiten. Und auch welche, die befehlen wollen, während andere sich abrackern. Und schließlich gibt es welche, die nichts abgeben wollen. Denk an Bauer Brehm!

Georg begriff: Aus Bauer Brehm würde nie und nimmer ein Kommunist werden. Was sollte man mit so einem machen? Spargel hatte die Antwort gefunden: Dem klaute man die Kirschen. Doch jetzt war Brehms Baum umgesägt. Die Absägerei hatte nichts gebracht. Kirschen trug der Baum nicht mehr. Auch nicht im nächsten Jahr. Vielleicht sollten Siggi, Spargel und er mal wieder angeln gehen. Fische schmeckten schließlich auch. Am besten Forellen, sagte die Mutter.

Forellen gab es in der Rader Au. Noch mehr in den Fischteichen des Gutes Bargstedt. Die Teiche waren terassenförmig angelegt, nur durch niedrige Erdwälle getrennt. Schotten regulierten das Aufstauen und Ablassen des Wassers. Die meisten Teiche waren mit Karpfen besetzt, einige mit Forellen. Im Herbst wurde das Wasser der Karpfenteiche abgelassen, und Männer in langen Gummihosen sammelten die auf dem schlammigen Grund zappelnden Fische ein, sofern sie die richtige Größe erreicht hatten. Die Forellenteiche dienten dem Angelsport des Gutsherrn und seiner Gäste. Ein Wächter hielt Eindringlinge fern.

Dann fluteten die Soldaten der geschlagenen Wehrmacht zurück in den Norden des immer kleiner werdenden Großdeutschen Reiches, bedrängt von den Russen, Briten und Amerikanern. Die Soldaten angelten nicht. Sie ließen auch nicht das Wasser ab. Wozu gab es Handgranaten? Die Zündschnur gerissen, bis drei gezählt, und dann rein damit in einen Teich! Rumms! Ein Wasserschwall stieg empor und mit ihm tote Fische. Nun hinein ins Wasser! In Unterhose oder nackt, unter Gejuchze und Gespritze, und die Beute eingesammelt. Die Offiziere sahen über die Fischräuberei hinweg. Warum auch nicht? Der Krieg war verloren. Bald würden sie, Offiziere wie Mannschaften, hinter Stacheldraht die dünnen Suppen der Kriegsgefangenen löffeln. Also in die Kessel der Feldküchen mit dem Fang! Karpfen oder Forelle blau: ein Festschmaus. Oder gebraten nach Art der Müllerin: auch nicht übel. Noch einmal Fettlebe machen und singen: Juppheida, juppheidi - lustig ist die Infantrie!

Nach dem Krieg wurden die Fischteiche wieder bewacht. Nur einige Wagemutige aus den umliegenden Dörfern warfen dort nachts ihre Angeln aus. Andere - nicht so dreist — angelten in der Rader Au. Ganz selten krachte es auch noch mal. Dann hatte jemand durch Zufall ein Versteck mit Handgranaten gefunden, das die Engländer nicht aufgespürt hatten, und kehrte zu den Methoden der Wehrmacht zurück. Prompt wurde Veras Freund Bob in Alarmbereitschaft versetzt, und Streifen durchkämmten die Wälder. Rührten sich letzte Werwölfe des untergegangenen Tausendjährigen Reiches? Bereiteten sie gar einen Aufstand gegen die Besatzer vor? Man konnte nie wissen. Diesen Deutschen war nicht zu trauen.

Auch Siggi ging zum Angeln an die Au. Anfangs allein. Nur er besaß eine Angel. Ein Erbstück von seinem toten Bruder, ein Vorkriegsmodell. Georg fragte die Mutter: Kannst du mir nicht ne Angel kaufen? Wie denn? sagte sie. Es gibt ja nicht mal Haken. Vielleicht, wenn wir neues Geld kriegen. Geld, das was wert ist. Man redet ja schon viel davon, daß es bald so weit sein soll. Aber wann genau, das weiß keiner. Er war enttäuscht. Haken hätten ihm schon genügt. Eine Angel könnte er sich dann selber basteln. Doch vielleicht gab es eine andere Lösung. Lehrer Kröger hatte im Religionsunterricht gesagt: Der liebe Gott sieht alles, weiß alles und hilft in der Not. Ihr müßt nur fleißig beten. Er, Georg, war in Not. Vor dem Einschlafen betete er nun: Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm! Und denk auch an die Angelhaken! Damit Gott wüßte, wo er die abzuliefern hatte, stellte er eine Untertasse neben sein Bett. Doch Angelhaken lagen am nächsten Morgen nie darin.

Als es das neue Geld gab, waren Angelhaken wieder zu haben. Die Mutter kaufte inm welche. Ja, Georg, sagte die Oma, so ist das: Geld regiert die Welt. Er kam ins Grübeln. Wer hatte nun recht? Lehrer Kröger: Gott hilft in der Not? Oder die Oma: Geld regiert die Walt? Die Oma schien mehr von der Sache zu verstehen, sofern es um Angelhaken ging. Vielleicht aber überhaupt. Er gab Spargel einen seiner Haken ab. Siggi hatte für sie beide noch ein wenig Sehne. Angelruten schnitten sie sich aus einem Knick. Haselnußgerten, gerade gewachsen, schlank und biegsam. An die Sehne banden sie einen Korken als Schwimmer. Wenn der im Wasser auf und ab tippte, hatte ein Fisch angebissen. Fehlten nur noch Köder. Ich versuch es mit Regenwürmern, sagte Siggi. Mit einem Spaten stech ich rein in unsern Komposthaufen und wipp damit auf und ab. Das mögen die Würmer gar nicht. Sie krabbeln dann aus der Erde, und ich schnapp sie mir. Hier, guckt mal! Er hielt ihnen eine Konservendose hin. Es wimmelte darin von Würmern.

Zu dritt zogen sie los an die Rader Au. Kleinere Würmer spießten sie als ganzes auf die Haken. Längere zerteilten sie. Die Würmer wanden sich. Ob die Schmerzen haben? sagte Georg. Ist mir egal, meinte Siggi. Hauptsache, sie locken Forellen an. Hast du, fragte Spargel, überhaupt schon mal welche gefangen? Nee, sagte Siggi, bisher noch nicht.

Im klaren Wasser der Au waren die Fische vom Ufer aus deutlich zu sehen. Sie warfen ihre Angeln aus. Weg waren die Fische. Warum nur? Konnten die Fische sie sehen, so wie sie die? Oder hörten sie, wenn die Korken aufschlugen und waren dadurch gewarnt? Konnten Fische überhaupt hören? Sie versuchten es an einer anderen Stelle. Den ganzen Vormittag über. Auch noch am Nachmittag. Die Forellen dachten nicht daran anzubeißen. Warum nur? Lag es an ihren Ködern? Mochten Forellen keine Regenwürmer? Handgranaten müßten wir haben, sagte Siggi. Handgranaten? Ja, Handgranaten. Das funktioniert. Hat mir mein Alter erzählt. Haben die Soldaten so gemacht. Rein damit ins Wasser und rumms! Die Fische treiben dann tot im Wasser. Die brauchen wir nur noch einzusammeln. Handgranaten hatten sie nicht. Sie gingen zur Lehmkuhle. Da gab es Karauschen. Kruutschen sagten die Einheimischen. Die Karauschen bissen. Lag es am Wasser? Schlammig war es. Konnten die Fische sie mit ihren Angeln deswegen nicht sehen? Oder mochten Kruutschen gern Regenwürmer? Oder waren sie einfach dümmer als Forellen und schnappten nach allem, was zappelte?

Georg nahm seinen Fang mit nach Hause: zwei Fische, keine großen, aber immerhin. Karauschen, sagte die Oma. Was soll ich damit? Doch nicht etwa braten? Die haben entsetzlich viele Gräten. Außerdem schmecken die muffig. Muffig? Ja, richtig muffig. Wegen der Leichen in der Lehmkuhle, Omi? Wo hast du das mit den Leichen her? Im Dorf sagen sie, da liegen welche drin. Gerede, Georg. Gerede. Ich weiß nur, daß bei den Bauern hier Kriegsgefangene gearbeitet haben. Bei Brehm zwei Serben. Bei Henning ein Franzose. Bei Kreher ein Russe. Bei Heeschen waren, glaube ich, Polen. Woanders waren noch welche. Kurz vor Kriegsende waren die meisten plötzlich weg. Die wollten sich wohl nach Hause durchschlagen. Manchmal hat ein Bauer die, die bei ihm waren, schlecht behandelt. Nach dem Krieg hätten die sich rächen können. Oder bei den Engländern anschwärzen. Und der Bauer hat die vorher beiseite geschafft. Möglich wäre es, denn das waren damals wilde Zeiten. Ein Menschenleben galt nicht viel.

Georgs Fang kriegte Spargel. Auch den von Siggi: Meine Mutter mag keinen Fisch. Von nun an brachte Spargel einen Eimer mit. Seine Mutter briet die Kruutschen. Wie schmecken die denn? wollte Georg wissen. Nach Modder, Schorsch. Meine Mutter hat gesagt: Arthur, mit Forellen kann man die wirklich nicht vergleichen. Aber besser als gar kein Fisch. Und Onkel Willy hat um sich gespuckt: Scheiß-Gräten!

Dann passierte das mit der Mütze. Hätte Siggi die bloß nicht rausgefischt! Oder gleich wieder in die Lehmkuhle reingeschmissen. Aber nein, Siggi rief: Schorsch, Spargel, guckt mal den Schwimmer! Wie der tippt! Da hat'n ganz dicker angebissen. Wie der sich wehrt! Was Siggi an Land zog, war ein triefender Haufen Filz. Verdreckt, von Pflanzenresten durchsetzt, modrig riechend. Siggi untersuchte seinen Fang. Es war eine Mütze. An den Seiten Ohrenklappen. Auf der Stirnseite ein roter Stern, kaum noch erkennbar. Das ist ne Russenmütze, sagte Spargel. Ne Russen- mütze? Ja, die Mütze von einem russischen Soldaten. Von einem von der Roten Armee. Deswegen der Stern. Woher willste das wissen, Spargel? Mensch, Siggi! Solche Mützen hab ich viele gesehen. Als die Russen uns auf der Flucht eingeholt haben. Als sie meine Mutter holten und... Spargel schlug sich auf den Mund. Nun hab ich doch was gesagt. Dabei hat meine Mutter gesagt: Arthur, nie ein Wort davon. Zu keinem Menschen. Hast du gehört? Aber ihr sagt doch nichts weiter, nicht? Versprochen, sagte Siggi. Und Schorsch auch.

Ich find die Mütze prima, sagte Siggi. Die nehm ich mit. Die ist doch hinüber, meinte Georg. Sag das nicht! Meine Mutter wäscht die. Dann zieh ich sie über einen Kohlkopf, damit sie wieder in Form kommt. Siggi, sagte Spargel, der Kohlkopf bist du. So’n oller, vergammelter Lappen. Das ist doch nichts. Denkst du, Spargel. Ne Russenmütze mit Ohrenklappen — die ist schön warm im Winter. Ne echte Russenmütze. Sowas hat sonst keiner im Dorf. Sie trafen sich am nächsten Tag wieder an der Lehmkunhle.

Siggi ohne Angel. Haste heut keine Lust? fragte Georg. Doch. Und wo ist deine Angel? Zu Haus. Hier darf ich nicht mehr angeln. Wieso nicht? Hat mein Alter mir verboten. Verboten zu angeln? Ja. Als er die Mütze gesehen hat, hat er mir die gleich aus der Hand gerissen und ist ganz bleich geworden. Siegmund, hat er gesagt, wo hast du die Mütze her? Aus der Lehmkuhle gefischt, hab ich gesagt. Mein Alter hat die rechte Hand gehoben. Ich denk: Jetzt klebt er mir eine. Er aber stützt nur den Kopf auf und sagt: Weiß noch jemand davon? Ich hab eure Namen genannt. Mein Gott! hat er gestöhnt. Auch das noch! Dann hat er auf die Mütze gestarrt und ne ganze Zeit nichts gesagt. Schließlich aber doch: Siegmund, da darfst du nicht mehr angeln. Und die andern beiden auch nicht. Wer weiß, was ihr da sonst noch alles rausholt? Über die Mütze reden dürft ihr auch nicht. Die beiden sind doch deine Freunde. Die hören doch auf dich, oder? Ich glaub schon. Also, Siegmund, mach ihnen klar: Zu keinem ein Wort von der Mütze! Und zum Angeln geht ihr woanders hin. Tu, was ich gesagt habe! Bitte, Siegmund, bitte! Ich denk, mich laust der Affe. Bitte hat der Alte gesagt. Ich wußte gar nicht, daß er das Wort kennt. Die Mütze hat meine Mutter dann verbrannt. Mit dem Angeln an der Lehmkuhle war es nun vorbei. Sie gingen wieder zur Rader Au. Die Forellen bissen nach wie vor nicht. Nur einmal eine ganz kleine. Aus Versehen? Oder weil sie noch jung und dumm war? Sie warfen das Fischlein zurück ins Wasser.

Geld regiert die Welt. Wie recht die Oma hatte! Als das Geld wieder etwas wert war, hatte Doro einen Atlas bekommen und er eine Schiefertafel. Beides wegen der Bildung. Er danach noch die Angelhaken. Jetzt waren die Erwachsenen dran. Grete, sagte die Oma, auch wir sollten uns was gönnen. Was hältst du von einem neuen Radio? Kaufmann Braasch soll Geräte reinbekommen haben, die gar nicht mal so teuer sind. Ich kann unsern alten Kasten aus Bakelit, die Goebbelsschnauze, einfach nicht mehr sehen. Immer, wenn ich das Ding einschalte, denk ich, gleich brüllt der Hinkefuß wieder los. Oder Robert Ley, natürlich angetrunken. Oder der Adolf. Und wir alle müssen zuhören, so wie früher, wenn der Führer sprach: Die Volksgenossen versammeln sich vor dem Volksempfänger zum Gemeinschaftsempfang. Grete, das Ding muß weg!

Der Volksempfänger stammte aus dem Besitz von Onkel Paul. Als die Engländer nach Kriegsende alle Radios beschlagnahmten, war er damit nicht zu einer der Sammelstellen gegangen, sondern hatte das Gerät auf dem Dachboden versteckt, bis den Deutschen der Besitz von Rundfunkgeräten wieder gestattet wurde. Aus dem Lautsprecher des Bakelitkastens klangen nun die Bekanntmachungen der Sieger und das, was sie dem Volk an Unterhaltung erlaubten, darunter Jazz, vordem als Niggermusik verpönt.

Dann ging Onkel Paul eines Tages zu Kaufmann Braasch in Neudorf: Braasch, ik wull Se wat fragen. Man to, Buer Ratjen! Seggt Se mal, Braasch, hebbt Se noch een Sabbelkassen op Lager? Ik meen, een richtiges Radio, nich so'n swatten Lögenkassen, as ik noch een heff. Kümmt op an, Buer Ratjen. Un op wat? Dor op, womit Se betahlen wüllt. Alleen mit Reichsmark warrd dat nix. Womit denn? Mit een Schinken, nich to lütt. Un denn noch dree Mettwüß. Noch Mettwüß dorto? Glieks dree? Is dat nich’'n beten veel, Braasch? Ik segg: den Schinken un eene Mettwuß. Mehr nich. Inverstaan. Sie gaben sich die Hand.

Kaufmann Braasch bekam den Schinken, dazu die Mettwurst, Onkel Paul ein neues Radio und die Schneiders als Geschenk Onkel Pauls Goebbelsschnauze, Modell DKE 38, Deutscher Kleinempfänger Baujahr 1938. Nett von dir, Paul, sagte die Oma, daß du an uns denkst, wo wir doch alles beim Bombenanpgriff verloren haben. Endlich können wir wieder Rundfunk hören! Das neue Radio der Schneiders, von Braasch geliefert, hatte Lang-, Mittel- und Kurzwelle und verfügte über ein grünlich blinkendes Etwas: das magische Auge zur Feineinstellung der Sender. Gekauft wurde es auf Abstottern. So kauften jetzt viele. Das neue Geld war knapp, doch Kaufmann Braasch gewährte seiner Kundschaft bereitwillig Kredit.

Der alte Volksempfänger ging in den Besitz der Familie Koslowski über. Grete, sagte die Oma, wir haben das Ding geschenkt bekommen und verschenken es weiter. Ein Radio haben die nicht. Das weiß ich. Geld dafür haben sie auch nicht. Bei so vielen hungrigen Mäulern müssen die noch bös knapsen. Dabei ist Willy Falke politisch sehr interessiert, würde gern Nachrichten hören.

Die hörten die Oma und Mutter auch. Dazu Opern und Hörspiele. Opern fand Georg furchtbar: Mutti, warum schreien die Leute da nur so? Georg, die schreien nicht, die singen. Für ihn konnte nur einer so singen, daß das Zuhören lohnte: Theo Lingen. Das war doch was! Die Musik schmissig, nicht so ein albernes Geheule wie bei den Opern. Und dann noch der Text:

Der Theodor, der Theodor,

der steht bei uns im Fußballtor.

Wie der Ball auch kommt,

wie der Schuß auch fällt,

der Theodor, der hält.

Die Männeraugen werden wach,

die Mädchenherzen werden schwach.

Wie der Ball auch kommt,

wie der Schuß auch fallt,

der Theodor, der hält.

Schwache Mädchenherzen interessierten Georg nicht. Wohl aber Fußball. Ob der Theodor auch einen Schuß von ihm halten würde? Wie gern hätte er Fußball gespielt! Am besten in einem Verein. Den gab es in Hohenfelde nicht. Einen Fußballplatz auch nicht. Und einen Ball hatte er auch nicht. Ebensowenig Siggi. Spargel erst recht nicht. Überhaupt keiner der Jungen im Dorf. Das Wollknäuel, das er der Oma gemopst hatte, war dabei, sich in einzelne Fäden aufzulösen. Zu oft hatten er, Siggi und Spargel es schon übers Dorfpflaster getrieben.

Es war Herbst geworden, als Siggi sagte: Schorsch, Spargel, morgen komm ich nicht zur Schule. Lehrer Kröger weiß Bescheid. Wir schlachten. Ich werd auf dem Hof gebraucht. Auf dem Weg zur Schule hörte Georg von fern, wie ein Schwein quiekte. In hohen, durchdringenden Tönen. Ein Quieken, das nicht aufhörte. Fast wie ein Schrei um Hilfe. Oder wie ein verzweifelter Protest gegen das nahende Ende. Ob Schweine ahnten, wenn man ihnen ans Leben wollte? Manche Menschen sehen vorher, wann ihre Stunde gekommen ist, hatte Spargel mal behauptet. Hat mir Onkel Willy erzählt. Im Krieg, hat er gesagt, sagte manchmal einer: Kamerad, ich fühl es: Heut werd ich fallen. Die gingen dann ganz ruhig in den Tod.

Das Schwein war kein Mensch. Es quiekte und quiekte, bis der Schlachter es mit einem wuchtigen Schlag der Rückseite seiner Axt betäubte. Georg mochte so etwas nicht sehen. Auch nicht, was nun folgte: das Abstechen des Tiers und das Auffangen des Bluts. Siggi machte das nichts aus. Jetzt mußte er ran: Blut rühren. Das durfte nicht gerinnen. Es wurde gebraucht. Für Blutwurst und Schwarzsauer. Schwarzsauer— die Oma, Mutter, Doro und er ekelten sich davor. Für Siggi war es ein Leibgericht. Auch deswegen rührte er. Es war leichte Arbeit, eine für Kinder. Das Aufleitern des Schweins am Zugbalken von Bauer Krehers Einspänner war Männerarbeit. Kreher packte mit an. Die Öffnung der Bauchhöhle übernahm der Schlachter, der Fachmann, denn der Schnitt durfte nicht die Gallenblase treffen. In einer Wanne fing Siggis Mutter die Innereien auf. Als Lohn für das Blutrühren bekam Siggi die Blase.

Am Nachmittag stand er vor Georg und Spargel, die Blase in der Hand, stramm aufgepustet, die Öffnung abgebunden. Er ließ sie einmal auf dem Dorfpflaster auftippen: Na, was sagt ihr dazu? Fast wie’n richtiger Fußball, was? Aber nur fast, sagte Spargel. Wenn du damit schießt, eiert das Ding doch. Noch’n bißchen Wind dazu, und du weißt überhaupt nicht, wo es hinfliegt. Aber immer noch besser, sagte Siggi, als das Wollknäuel von Georg seine Oma.

Sie fingen an zu kicken. Mitten auf der Dorfstraße. Eins — aus nannte sich das Spiel. Spargel und Georg stürmten abwechselnd auf Siggis Tor aus zwei abgelegten Jacken als Pfosten. Als Feldspieler war Siggi untauglich. Zu ungeschickt mit seinem Krähengang trickste er sich beim Fummeln selber aus, nicht den Gegner. Oder er verhakte sich in den eigenen Beinen, stolperte und fiel. Im Tor machte das nichts. Wenn er beim Fallen nur den Ball erwischte.

Das Spiel Spargel gegen Georg war ein lautstarker Kampf und lockte Lischen aus dem Haus: Darf ich mitmachen? Bin dagegen, sagte Spargel, is nix für Mädchen. Ach, laß sie doch! meinte Georg. Warum nicht? sagte Siggi. Lischen durfte mitspielen. Andere kamen hinzu. Die Straße wurde als Spielfeld zu eng. Wir gehen auf die Koppel von meinem Papa, schlug Lischen vor. Sie kletterten über den Stacheldrahtzaun. Weit hinten auf dem anderen Ende grasten Onkel Pauls Kühe. Die Bolzerei störte sie nicht. Eine Zeit lang ging alles gut. Dann schoß Spargel auf Siggis Tor. Der warf sich der eiernden Blase entgegen, griff daneben, landete in einem Kuhfladen und schrie: Scheiße! Scheiße schrie auch Spargel. Er meinte die Schweinsblase. Sie stak auf dem Stacheldrahtzaun. Zischend entwich die Luft: Pffffft!

Pffft. Pffft. Pffft. Was war hier los? Die Blase war doch längst ein luftleerer Hautlappen. Pffft. Pffft. Wo kam das her? Ach ja, er lag ja im Bett: Pffft - so pustete die Mutter, wenn sie schlecht schlief. Ein stetig sich wiederholendes Geräusch. Nicht laut, aber eintönig und ermüdend. Georg glitt in einen leichten Schlummer, rhythmisch begleitet: Pffft. Pffft. Pffft.

Es war ein Geräusch, das ihn einschlafen ließ. Ein anderes weckte ihn wieder: ein Rasseln. Er schreckte hoch. War wieder Krieg? Kroch wieder dieses merkwürdige Ungetüm auf der Dorfstraße heran? Er spitzte die Ohren. Es war das Schnarchen der Oma. Hart und heiser. So ähnlich hatte es sich damals angehört, als das Ungetüm ins Dorf einrollte, nur metallischer und begleitet von einem Fauchen und Dröhnen. Neugierig war er hinausgerannt. Omal! rief die Mutter. Der Junge ist ausgebüxt. Hinterher, ehe ein Unglück passiert!

Das rasselnde Ungetüm war ein großer Wagen aus Metall, grö- Rer als Onkel Pauls Kastenwagen. Vorn fuhr er auf Rädern, hinten auf Ketten. Die waren es, was so rasselte. Der Wagen war unregelmäßig gefleckt und gestreift. Grün, sandfarben und braun. An den Seiten befand sich ein schwarzes Kreuz, weiß umrandet.

Omi, fragte er, was ist das? Ein Panzerspähwagen, Georg. Panzerspähwagen — was für ein langes Wort! Panzer war kürzer.

Panzer — das hatte er schon mal gehört. So sah ein Panzer also aus. An der Frontseite waren zwei Schlitze. Hinter einem ein Augenpaar, das auf die Straße gerichtet war. Ob die Augen dem Fahrer gehörten? Im hinteren Teil standen zwei Soldaten, zur Hälfte von der seitlichen Panzerung verdeckt. Sie winkten. Er winkte zurück. Im Schrittempo rasselte der Panzer an ihnen vorbei. Omi, sagte er, hinterher! Grete, sagte die Oma, darf er? Die Mutter meinte: Wenn der Panzer ihn so fasziniert, meinetwegen. Aber nimm ihn an die Hand, damit er nicht auskneifen kann!

Am Spritzenhaus hatten sie den Panzer eingeholt. Beim Hof von Brehm bog er ab und schlich über den Feldweg dem Thingberg zu. Ehe er den Waldrand erreicht hatte, röchelte er kurz auf und blieb stehen. Die zwei Soldaten kletterten herunter. Der Fahrer kroch aus dem Bauch des Panzers hervor und sagte: Kein Sprit mehr. Was nun? In den Wald zu den andern, sagte einer der beiden. Georg hatte zugehört: Omi, was ist das — Sprit? Georg, Onkel Pauls Pferde brauchen Futter. Sonst arbeiten sie nicht. Das weißt du, nicht? Ja, Omi. Ein Panzer braucht auch Futter: Sprit. Kriegt er den nicht mehr, bleibt er stehen.

Da stand er nun, der Panzer. Vor ihnen, mitten auf dem Weg, von seiner Besatzung verlassen. Georg umkreiste ihn, klopfte mal hier, mal da an die Panzerung, hielt das Ohr daran, inspi101 zierte Räder und Ketten, entdeckte den Auspuff, schnupperte daran und faßte ihn an. Autsch, war das heiß! Bloß Hände weg davon! Dann versuchte er hochzuklettern. Aber wie? Die glatten Wände boten keinen Halt. Er kroch unter die Ketten. Nicht, Georg! sagte die Oma. Er zog eine Schippe.

Nun, wo du alles gesehen hast, sagte die Oma, können wir ja nach Hause gehen. Omi, sagte er, weiter zum Thingberg! Da wollte er schon immer mal hin. Ganz hoch sollte der sein, ganz dicht beim Himmel, wo der liebe Gott wohnte. Wird das nicht zu viel für deine kurzen Beine? Denk dran, wir müssen auch wieder zurück! Wenn ich nicht mehr kann, Omi, nimmst du mich huckepack. So, so, lachte die Oma, abpuckein soll ich mich mit dir, du Schlingel! Er quengelte: Bitte, Omi, bitte! Der Tag war sonnig und warm, fastschon ein Sommertag. Und dann die Natur! Ein Wachsen und Werden. Wenn der Panzer nicht wäre, wie im Frieden. Meinetwegen, sagte die Oma.

Sie begannen den Aufstieg, einen Sandweg hoch. Links und rechts lag Wald. Fichten, Tannen, Kiefern. Die Bäume dicht an dicht. Ein schützendes Dach für die da lagernden Soldaten. Stimmen und der Geruch nach Essen drangen von dort her. Dann trat der Wald zurück. Über eine Heidefläche, durchsetzt von Blaubeerbüschen und einzelnen Birken, erreichten sie den Gipfel.

Geschafft, sagte die Oma und setzte sich auf einen Findling, die Markierung des höchsten Punkts. Was für eine Aussicht! Auf die Weiden an der Rader Au, auf die Dörfer der Umgebung, Rade, Oldenlohe und Westerhusen, und auf die Häuser, die klein wie Spielzeuge waren. Bargstedt war nicht zu erkennen, war vom Wald verdeckt.

Georg stand neben ihr. Die Oma ließ ihn los. Hier konnte ja nichts passieren, konnte er keine Dummheiten machen. Er blickte nach oben. Der Himmel war ein helles Blau, durchzogen von Sonnenstrahlen. Der liebe Gott war nicht zu sehen, dafür hoch, ganz hoch über ihm silbern glänzende Pfeile. Sie spannen ein Netz aus weißen Streifen, die hinter ihnen verwehten. Georg vernahm ein weit entferntes Brummen, kaum zu hören.

Er zupfte am Rock der Oma und zeigte nach oben: Omi, was ist das? Die Oma sah hoch und zuckte zusammen. Silbervögel, Georg, murmelte sie, als habe sie Angst, laut zu sprechen. Das I sind Silbervögel. Wo kommen die her, Omi? Von England. Wo ist das - England? Weit weg, Georg, sehr weit weg. Was wollen die hier? Die suchen was zu fressen. Wie die Zugvögel. Haben die denn in England nicht genug? Ach, Georg, was du alles wissen willst! Du fragst der Kuh noch das Kalb ab.

Zwei der Silbervögel lösten sich aus der Schar, stießen herunter und flogen über die Wiesen der Rader Au auf den Thingberg zu. Bald mußten sie über ihnen sein. Georg jauchzte: Silbervögel! Er breitete die Arme aus, um sie zu begrüßen. Komm, Georg! rief da die Oma. Wir spielen mit ihnen Verstecken. Sie ergriff ihn, riß ihn an sich und warf sich hinter den Findling. Vor sich hatte sie eine frisch in den Stein gemeißelte Inschrift:

20.4.1945

Führer befiehl, wir folgen dir

Wolf Kreher

Kameradschaftsführer Hohenfelde

Darunter ein Hakenkreuz.

Auch Georg sah die Inschrift. Lesen konnte er sie erst Jahre später. Doch da war etwas rausgeschlagen worden: Führer befiehl, wir folgen dir, Kameradschaftsführer und das Hakenkreuz. Die Silbervögel brausten über den Thingberg hinweg, verschwanden eine kurze Zeit hinter den Wipfeln der Fichten, tauchten über dem Dorf wieder auf, zogen eine Schleife, stiegen dann steil empor und schlossen sich dem großen Schwarm am Himmel wieder an. Komm, Georg, sagte die Oma, schnell nach = Haus! Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Das rasselnde Schnarchen der Oma wurde leiser und wandelte r sich zu einem kaum hörbaren Atmen, friedlich und gelöst von den Mühen des Tages. Kein Rasseln mehr, und damit auch kein Panzer in Georgs Gedankenwelt. Auch keine Silbervögel mehr über dem Thingberg.

Dafür setzte das pfeifende Pusten der Mutter wieder ein. Pfft. Pffft. Pffft. Es führte Georg zum Fußballspielen zurück. Die Schweinsblase war ja nun kaputt. Der blöde Stacheldrahtzaun! Und bei Krehers wurde erst wieder im nächsten Jahr geschlachtet. Könnte ihm die Mutter nicht zu Weihnachten einen richtigen Ball schenken, einen aus Leder? Jedenfalls würde er auf seinen Wunschzettel schreiben: einen Fußball!!! Mit drei Ausrufezeichen. Lehrer Kröger hatte ja gesagt: Das Ausrufezeichen könnt ihr auch dann setzen, wenn etwas ganz wichtig ist. Ein Fußball war wichtig. Doch noch war Herbst. Er würde warten müssen. Herbstzeit war Windzeit. Wind wehte in Hohenfelde so gut wie immer. Wegen der Lage des Landes zwischen zwei Meeren, der Nord- und der Ostsee, und wegen der des Dorfes. Hohenfelde — der Name erklärte es. Meist fegte der Wind von West oder Südwest über den Thingberg und fiel von dort ins Dorf ein. Selten nahm er den Weg von Ost, kam aus der Richtung von Neudorf. Im Sommer brachte der Ostwind klare, sonnige Tage, im Winter begleitet von beißender Kälte.

Im Herbst begann der Wind, kühl zu werden. Er steigerte sich oft zum Sturm und riß die Blätter von den Bäumen. Setz die Wollmütze auf, Georg! sagte die Mutter dann. Und kletter nicht in Bäume! Du erkältest dich sonst noch. Die Ermahnung war unnötig. Es lohnte nicht mehr, seinen Lieblingsbaum, die Birke am Spritzenhaus, zu besteigen. Längst war sie ein kahler Besen geworden, ohne raschelndes Laub, das ihm Geschichten erzählte.

Mit dem Wind kam der Regen. Als tagelanges Nieseln, als kräftiger Landregen oder als peitschende Schauer. Der Regen hinterließ Pfützen, sehr zur Freude von Georg, Siggi und Spargel. Sie wurden zu Wasserbautechnikern und verbanden die Pfützen durch Kanäle. Kanäle bauen, Papierschiffchen fahren 105 lassen, mantschen und plantschen — was für ein Vergnügen! Die Mutter war anderer Meinung: Schon wieder kommst du mit nassen Schuhen nach Haus, Georg! Dabei bist du doch so empfindlich gegen Nässe. Und die Schuhe werden davon auch nicht besser. Das hört jetzt auf! Verstanden? Was hatte sie nur dauernd herumzumeckern?

Die Ermahnungen und Verbote der Mutter waren ohnehin so gut wie nutzlos. Ob er sie befolgte oder nicht — jeden Herbst war er erkältet, alle Jahre wieder. Doro auch. Die verdammten Hungerjahre! klagte die Mutter. Zu wenig zu essen, zu wenig Vitamine. Kein Wunder, daß die Kinder so anfällig sind. Es fehlen ihnen die Abwehrkräfte.

Beim ersten Hüsteln, Schniefen oder Niesen hieß es: Georg, ab ins Bett! Widerreden waren zwecklos: Wir müssen die Erkältung im Entstehen bekämpfen. Die Erkältung kam. Unweigerlich. Die Oma griff zu ihrer Heilmethode: heiße Umschläge und ordentlich schwitzen. Dazu türmte sie zwei Federbetten über ihm auf und beschwerte diese mit einer Wolldecke: So kannst du dich nicht freistrampeln. Seine Nase ragte gerade noch wie der Schnorchel eines getauchten U-Boots aus dem Aufbau heraus. Das Atmen mußte ihm ja gestattet werden, sonst wäre der Tod durch Ersticken eingetreten. Ansonsten hatte er still zu liegen. Meist eineinhalb Stunden lang. Ab und zu trat die Oma ans Bett und fragte: Schwitzt du auch tüchtig, Georg? Er hütete sich, das zu verneinen. Sonst wäre die Schwitzhaft womöglich noch verlängert worden. Kurz vor der endgültigen Verflüssigung wurde er befreit: Für heute reicht es, Georg.

Spätestens ab Herbst wurde geheizt. Gekocht werden mußte das ganze Jahr. Schon im Sommer sagte die Mutter: Kinder, es ist Zeit, daß wir in den Wald gehen. Zu dritt zogen sie mit Körben, Säcken und dem Bollerwagen zum Sammeln von Tannenzapfen und Kienäpfeln los. Die Oma war nicht dabei: Das müßt ihr machen, ich kann das nicht mehr. Das viele Bücken geht nicht mehr. Mein Rücken ist zu alt dafür. Sie nahmen auch Bruchholz mit, verstauten alles in den Säcken und Körben und luden sie auf den Handwagen. Dann ging es wieder nach Hause. Bergauf halfen Doro und Georg mit Schieben. Bergab durften sie aufsitzen. Der Brennvorrat lagerte in einer Ecke der Küche.

Tannenzapfen und Kienäpfel erzeugten im Herd schnelle, heiße Glut. Der Geruch von Essen mischt sich mit dem nach Harz. Der Ofen im Wohnraum verlangte nach Brennholz oder Kohlen. Kohlen waren Mangelware. Holz hatten die Bauern. Es galt die Devise der Oma: Der Schornstein muß rauchen, der Mensch nicht. Sie und die Mutter tauschten ihre Tabakmarken gegen Holz: Ich frag Bauer Heeschen mal, was er für sein Buchenholz haben will. Sie wurden handelseinig. Heeschen kippte die Fuhre auf den Hof neben dem Haus. Einen großen Stapel dicker Kloben. Und wer hackt die klein? fragte die Mutter. Ich nicht, sagte Heeschen. Aber das ist doch Arbeit für Männer! Kann schon sein, Frau Schneider. Aber Sie haben Raummeter bei mir bestellt, nicht Festmeter.

Die Mutter griff zum Beil. Georg wollte helfen. Nett von dir, Georg, sagte sie. Aber das Beil kriegst du nicht in die Finger. Nachher fehlt einer davon. Aber beim Aufstapeln, da pack ruhig mit an! Sie schichteten die Scheite zu einer Miete auf, obendrauf die beiden Zeitbahnen der Wehrmacht. Die Oma begutachte den Stapel: Grete, ich glaube, das ist genug. Der Winter mag kommen. Wir sind gerüstet.

Der Winter kam immer. Nur nicht immer dann, wann Winteranfang im Kalender stand. Manchmal kam er schon Ende Oktober, zumindest seine Vorboten. Manchmal war er erst im Januar da. Aber er kam, in seinem Gefolge Schnee und Kälte, und damit ein weiterer Anlaß für Ermahnungen der Mutter: Georg, zieh die Wollstrümpfe an! Die Wollstrümpfe — lange braune Dinger, die an ein Leibchen geknöpft wurden. Die Knöpfe drückten. Und wie das Ganze aussah! Die Beine wie Würste. Furchtbar. Er schrieb auf seinen Wunschzettel für Weihnachten: Strümpfe, aber nicht’ für dies plöde Knöpfdinks!! Strümpfe waren nicht so wichtig wie ein Fußball, aber doch zwei Ausrufezeichen wert.

Gegen die Wurststrümpfe hatte er was, gegen Schnee nicht. Siggi, Spargel und er stapften bei Neuschnee wie auf einem Teppich zur Schule und hinterließen Spuren. Vor der Schule führten die Fährten der Kinder zusammen. Schon flogen die ersten Schneebälle, in den Pausen unter der Aufsicht von Lehrer Kröger: Nicht die Großen gegen die Kleinen! Auch keine Eisbälle! Und nun - Wurf frei! Zielen und treffen, das ist eine gute Übung — beinahe wäre ihm rausgerutscht — für das Schießen bei der Wehrmacht. Er biß sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Nach Schulschluß galten keine Regeln mehr. Die Jungen jagten die Mädchen. Immer ins Gesicht mit dem Schnee! Einseifen nannten sie das. Auch hinein damit unter den Kragen! Die Mädchen kreischten und flohen nach Haus. Es folgten die Schlachten der Jungen. Hof gegen Hof. Oder Einheimische gegen Flüchtlinge. Mit Geschrei und Beleidigungen: Polacken! Blödes Bauernpack!

Georg, Siggi und Spargel als gemischte Truppe schlugen sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Spargel mit seiner Spezialwaffe: gefrorenen Pferdeäpfeln, zur Tarnung mit Schnee umhüllt. Geschosse mit erstaunlicher Wirkung. Beim Aufprall erst ein schmerzerfülltes Au! Wenn der Ball sich zerlegte, folgte ein angeekeltes Igitt! Danach der Ausruf: Wer war die Sau? Na, warte, wenn ich den erwische! Spargel setzte deshalb diese Waffe nur bei Salvenfeuer ein - jetzt alle auf einmal! — und hoffte, unentdeckt zu bleiben.

Schneezeit war Schlittenzeit. Doro und Georg besaßen keinen. Woher auch? Ihrer war Opfer der Brandbomben geworden. Lischen hatte einen großen Hörnerschlitten mit Platz für mehrere: Ihr dürft gern bei mir mitfahren. Aber nur, wenn einer von euch beiden zieht. Ihr Vater war großzügiger. Bei weißen Weihnachten schirrte Onkel Paul seinen Braunen an: Hüüt is Wiehnachten, Kinners. Hüüt treckt ju de Brune. Und zum Pferd: Hü, mien Dickmoors! An Lischens Schlitten hängten sich andere an. Der Braune zog die Karawane durchs Dorf, bis Onkel Paul sagte: Nu langt dat. De Brune mutt sik verpusten, un ji mööt na Huus. De Wiehnachtsmann is al ünnerwegens. Ik heff em vörhen sehn, mit'n groten Sack op’n Rüüch.

An den Weihnachtsmann glaubte Georg schon längst nicht mehr. Erst recht nicht an seine Leistungsfähigkeit. Wenn selbst der liebe Gott bei Angelhaken versagte, wie sollte denn sein Angestellter, der Weihnachtsmann, seine Wünsche erfüllen können? Geld regiert die Welt, hatte die Oma gesagt. Hatte der Weihnachtsmann Geld? Und wenn ja - reichte es für die Wünsche all der Kinder, die an ihn glaubten? Wenn es den Weihnachtsmann gäbe und wenn er Kommunist wäre wie Onkel Willy, dann könnte es mit dem gewünschten Fußball vielleicht was werden. Und Lischens Schlitten würde ihnen allen gehören. Und sie müßte auch mal ziehen. Aber so, wie die Dinge lagen? Er hatte wenig Hoffnung.

Die Oma hatte mal wieder recht. Sein Geschenk hatte die Mutter gekauft. Er hatte den Kasten mit bunten Bauklötzen wochenlang im Schaufenster von Kaufmann Braasch bewundert. Nun lag er unter dem Weihnachtsbaum. Für einen Fußball hatte das Geld wohl nicht gereicht. Er würde es damit zu seinem Geburtstag erneut versuchen. Vielleicht hatte die Mutter dann mehr in ihrer Kasse.

Neben dem Kasten mit Bauklötzen lag ein Buch für ihn. Ein Bilderbuch von einem Bauernhof mit Scheunen und Ställen, mit Tieren und Geräten, mit Wiesen, Feldern, Weiden und Äckern. Der Bauer und seine Frau ähnelten Onkel Paul und Tante Marie. Unter jedem Tier war eine Linie mit freiem Platz und der Frage: Wie heißt dies Tier? Er kannte sie alle, blätterte weiter und kam zu den Arbeitsgeräten: Leiterwagen, Trecker, Pflug, Egge -— schrieb man das mit gg oder cke? — Heuwender und... Mutti, fragte er, wie heißt das Ding noch, mit dem Onkel Paul die Kartoffeln ausbuddelt? Ich weiß es auch nicht, sagte sie. Gefällt dir das Buch, Georg? Ganz prima, Mutti. Danke schön!

Die Oma hatte fleißig gestrickt. Für ihn eine Mütze mit Puschel und zwei Paar Strümpfe. Sind das die richtigen, Georg? fragte sie. Er probierte sie an. Es waren Kniestrümpfe, keine Wurststrümpfe für das Leibchen. Auf die Oma war eben Verlaß, anders als auf den lieben Gott. Er gab ihr einen Kuß: Danke, Omi!

Das Jahr ging zu Ende. Am Altjahrsabend zogen die Kinder in Gruppen durchs Dorf. Jedes mit einem Schnappsack für das Rummelpottlaufen. Rummelpott — herrlich! Am schönsten, wenn Schnee gefallen war, wenn die Wiesen und Äcker von weißen Laken bedeckt waren und die Häuser weiße Kappen trugen. Die Fußstapfen der Kinder im Schnee wiesen den Weg zu den Häu111 sern und Höfen. Vor den Haustüren bauten sie sich auf und sangen, so laut sie konnten:

„Lischen, maak,de Döör op,

de Rummelpott is dor.

Hau de Katt den Swanz af,

hau em ni to lang af,

faat'n fütten Stummel stahn,

denn wi wüllt noch wiedergahn.

Een Huus wieder

wahnt de Snieder.

Een Huus achter

wahnt de Slachter.

Un een Huus nebenan

wahnt de Wiehnachtsmann.“

Georg, Siggi und Spargel hatten ihre feste Runde. Erst zum Hof gegenüber, zu Onkel Paul. Der gab gern und reichlich. Dann zu Henning. Die Hennings waren knauserig. Gaben ein paar Walnüsse vom Baum in ihrem Garten. Nicht viel, aber besser als gar , nichts. Danach zu Heeschen. Die Bäuerin holte Bratäpfel aus der Ofenröhre: För jeden twee, Kinners. Weiter zu Onkel Pauls Cousin, Detlef Ratjen. Da gab es Plätzchen. Braun, krosch und knackig. Nun zum Hof von Kahlke. Ik heff wedder Stollen maakt, sagte die Bäuerin. Ook för ju. Een Stück för jeden. Den Hof von Brehm ließen sie aus. Der dicke Brehm gab nie was, so laut sie auch sangen.

Zum Hof von Siggis Vater gingen sie zuletzt. Aber nur er und Siggi. Spargel setzte sich vorher ab. Seine Mutter hatte ihn gewarnt: Arthur, zu dem Kreher brauchst jar nich zu jehen. Dir als Flichtling jiebt der nuscht. Nur beese Worte. Verirrten sich doch mal Flüchtlingskinder auf den Kreher-Hof, bölkte der Bauer: Wat wülltj i hier? Rünner vun mien Hoff! För Polackengörn heff ik nix. Georgs Runde war beendet. Er wog den Schnappsack in der Hand. Hatte sich doch mal wieder gelohnt. Rummelpott laufen — es gab nichts Schöneres auf der Welt. Unversehens überfiel ihn ein Gedanke: Liefen die Kinder in Altkirchen auch Rummelpott? Und wenn ja — wie kam man in die großen Mietshäuser hinein?

In so eins, in dem sie selbst bald wohnten. In Hohenfelde waren alle Türen immer geöffnet. Wie war das in Altkirchen? Und noch etwas - das Wichtigste. Gaben die Leute in der Stadt auch was? Anfang Januar wurde es kalt. Die Oma strickte für Doro und ihn noch schnell Handschuhe. Ganz außer der Reihe von Weihnachten. Er spielte weiter draußen. Schneemänner bauen. Schnee- \ ballen. Schleisterbahnen anlegen. Mit Lischen auf ihrem Schlitten fahren. Das heißt bergab. Bergauf diente er als Zugtier. Gegen die Kälte schützen ihn die neue Mütze, die wollenen Kniestrümpfe und die Handschuhe.

Dann wuchsen Eisblumen an den Fenstern. Georg, sagte die Mutter, mit dem Spielen draußen ist es vorbei. Es ist zu kalt geworden. Er maulte: Darf ich denn nicht mal mit Lischen auf Onkel Pauls Heuboden spielen? Da im Stall ist es gar nicht kalt. Wegen der Kühe. Die Mutter überlegte: Aber nur auf dem Heuboden, hast du gehört? Draußen nicht.

Die Eisblumen wurden mit jedem Tag größer, ihre Holzmiete kleiner und die Säcke mit Tannenzapfen und Kienäpfeln immer leerer. Die Oma sah es mit Sorge: Hoffentlich wird es nicht so schlimm wie vor zwei Jahren, im Eiswinter 46/47! Damals schien der Winter kein Ende zu nehmen, wohl aber ihre Vorräte an Heizmaterial. Was nun, Grete? hatte die Oma gesagt. Hören wir auf zu kochen oder zu heizen? Kochen müssen wir, sagte die Mutter. Schon wegen der Kinder. Die brauchen was Warmes im Bauch. Also frieren, sagte die Oma. Sie krochen schon nachmittags ins Bett, bedeckt von den Federbetten und den Wolldecken der Wehrmacht, wie bei den Schwitzkuren der Oma. Nur schwitzte niemand. Trotz der Deckentürme wurde es darunter nicht richtig warm.

So kann es nicht weitergehen, sagte die Mutter. Die Kinder holen sich noch den Tod. Ich geh ungern betteln, aber jetzt geh ich rüber zu Paul Ratjen und frag ihn, ob er etwas Holz für uns hat. Onkel Paul half ihnen, und der Tod machte einen Bogen um sie. Damals dauerte der Winter bis Anfang April. Diesmal schlug schon Anfang März das Wetter um. Es wurde warm und trocken.

In der Schule sangen die Kinder: Im Märzen der Bauer die Rosse anspannt... Siggi meldete sich: Herr Kröger, ich hab ne Frage. Frag nur, Siegmund! Rosse — was ist das? Das ist ein anderes Wort für Pferde, Siegmund. Pferde? Mein Alter spannt jetzt keine Pferde an. Er hat'n Trecker. Der schafft mehr. Siegmund, das ist doch ein Lied aus der Zeit, als es noch keine Trecker gab. Und noch etwas. Sag bitte mein Vater, nicht mein Alter!

Ende März gab es Zeugnisse. Georg, Spargel und auch Siggi wurden versetzt in die zweite Klasse. Georg und Spargel mit der Bemerkung: Die Leistungen waren gut. Siggi rutschte gerade so durch. Bei der Zahl drei geriet er noch immer ins Stocken, besonders, wenn er aufgeregt war: d-, dr-, ei-, ei-... Die Drei und Siggi würden wohl nie Freunde werden. Das sah auch Lehrer Kröger so: Siegmund, mit manchem tust du dich noch schwer. Doch es geht voran dank meiner Entscheidung, Georg neben dich zu setzen. Als echter Kamerad hat er dir geholfen, so guter konnte. Die Kameradschaft — haltet sie hoch, ihr deutschen Jungen! Im Mai sangen sie: Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus... Siggis Finger ging in die Höhe: Herr Kröger, ich möcht was fragen. Nur zu, Siegmund! Herr Kröger, die Bäume schlagen aus — das versteh ich nicht. Ein Pferd schlägt aus. Aber Bäume? Siegmund, das heißt so viel wie: Die Bäume kriegen frische Triebe. Aber warum heißt das im Lied nicht so? Siegmund, das soll sich doch reimen. Im Lied tut es das. Aus reimt sich auf Haus.

Denk an die nächste Zeile: Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus. Herr Kröger, so was krieg ich auch hin. Der Mai ist gekommen, die Bäume kriegen Triebe. Und dann geht es weiter mit... Hiebe, meinetwegen auch Liebe. Ist doch auch nicht schlecht, oder? Kröger wußte nicht mehr weiter. Was sollte er sagen? Könnte ein Lob Siegmund zufriedenstellen? Er versuchte es: Siegmund, ich freue mich, wie aufmerksam du mitarbeitest. Weiter so!

Auf dem Schulhof sangen die Kinder in den Pausen ein anderes Lied vom Mai: Maikäfer, flieg! Dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Sie sangen es wegen der ersten Zeile. Spargel brachte die Krabbeltiere mit in die Schule und setzte sie im Papierkorb aus. Von dort aus starteten sie mit Gebrumm und schwirrten durch den Klassenraum. Lehrer Kröger gab sie frei zur Jagd: Hinterher, Kinder! Fenster auf und raus damit! Seine Frage — Wer war das? — ' blieb ohne Antwort. Nicht einmal Ludmilla Schlonski petzte. Maikäfer im Unterricht fliegen zu lassen, das gehörte einfach zum Mai dazu.

Maikäfer, flieg... Für Bernhard Gottlinski war das Lied eine Beschreibung eines Teils seines Lebens. Man mußte in den folgenden Zeilen nur das Wort ist durch andere ersetzen.

Maikäfer, flieg! Dein Vater blieb im Krieg. Deine Mutter hiegt in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt.

Den kleinen Bernhard, vielleicht zwei Jahre alt, hatten die Gottlinskis auf der Flucht neben seiner toten Mutter weinend im Schnee am Straßenrand gefunden. Sie hatten ihn mitgenommen. Seinen Vornamen hatte der Kleine gewußt, seinen Nachnamen nicht. Nun hieß er Gottlinski. Irgendeinen Familiennamen hatte das Kind ja bekommen müssen. Das Jahr schritt weiter voran, so wie der Kalender es verlangte, in Tagen, Wochen und Monaten.

Juni: Die erste Mahd. Georg und Lischen saßen hoch oben auf Onkel Pauls Heuwagen, rollten ins Dorf ein und winkten herab wie ein Königspaar seinen Untertanen.

Juli: Endlich Ferien! Hitze. Barfuß laufen. Georg trat in einen rostigen Hufnagel. Die Mutter schleppte ihn zum Arzt nach Neudorf: Herr Doktor, geben Sie ihm eine Spritze gegen Tetanus! Vorsichtshalber. Er humpelte zwei Wochen und mußte Klappersandalen anziehen. Vorsichtshalber.

August: Spargel klaute Kirschen. Wie im Vorjahr. Nun aus dem Garten von Heeschen: Bei Brehm ist ja nichts mehr zu holen. Der Stumpf treibt wieder aus, aber das ist auch alles. Heeschen hat auch mehr Bäume. Da fällt es nicht so auf, wenn ein paar Äste kahl werden.

September: Es goß in Strömen. Tagelang. Auch Gewitter. Die Bauern klagten: Die Felder stehen völlig unter Wasser. Georg, sagte die Oma, merk dir eins: Bauern jammern immer. Mal ist es zu heiß, mal zu kalt, mal zu trocken, dann zu naß. Wie jetzt. Nie kann Petrus es ihnen recht machen.

Oktober: Wieder Ferien. Vierzehn Tage lang. Kartoffelferien. Die Bauernkinder mußten beim Sammeln helfen. Spargel sammelte auch: Bauer Kahlke zahlt mir'n Groschen pro Stunde. Nicht übel, was? Das viele Bücken schaff ich schon. Die vollen Körbe muß ich aber nicht tragen. Die sind zu schwer für mich, hat der Bauer gesagt.

November: Lang anhaltender Nieselregen. Die Mutter kaufte für Doro und ihn Gummistiefel: Damit ihr keine nassen Füße kriegt. Er erkältete sich trotzdem. Marsch ins Bett, sagte die Oma, und schwitzen!

Dezember: Unter dem Weihnachtsbaum der ersehnte Fußball. Georg, sagte die Mutter, bedank dich ganz doll bei der Oma! Sie hat sich den Ball für dich von ihrer Rente abgespart. Und viel kriegt sie nicht, das weißt du ja.

Januar: Feuchter Schnee, der gut backte. Lehrer Kröger erzählte ihnen von den Eskimos im hohen Norden: Die wohnen in Schneehütten, in Iglus. Georg, Siggi und Spargel bauten auch eins. Komisch, sagte Siggi, ne Hütte aus Schnee. Und gar nicht kalt drin.

Februar: Der Winter war früh vorüber. Das Holz hatte gereicht. Es war sogar noch eine Menge übrig. Auch von den Tannenzapfen und Kienäpfeln. Die Oma freute sich: Eine Sorge weniger, außer es gibt noch mal starken Frost. Im März war wieder Zeit für Zeugnisse. Jetzt, in der zweiten Klasse, gab es Noten. In Georgs Zeugnisheft stand:

Betragen: gut

Fleiß: gut

Aufmerksamkeit: gut

Ordnungsliebe: gut

Auch in Deutsch — unterteilt in mündlich, schriftlich und Handschrift - hatte er als Note gut. Ebenso in Rechnen und Gesang. Mehr konnte die Mutter doch nicht verlangen. Bei Doro stand natürlich überall: sehr gut. Deswegen sollte sie ja auch nach Altkirchen aufs — wie hieß das noch? — aufs Lyzeum, die Streberin. Wie schnell das Jahr vergangen war! Ging es nun so weiter? Anscheinend. April. Mai. Juni. Juli. August... Georg, sagte die Oma, für mich alte Frau vergeht die Zeit noch schneller. Ich komm gar nicht mehr mit. September, Oktober. November. Dezember... Schneller. Immer schneller. Januar. Februar. März... Noch schneller. April. Mai. Aber warum war diese Nacht so lang? Die Monate drehten sich in seinem Kopf. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim vierten Mal schlief er ein.

Irgend etwas schien ihm ins Gesicht. Er fing an zu blinzeln, öffnete dann die Augen, sah direkt in die Sonne, war geblendet und schloß sie wieder. Um diese Zeit, dem ersten Licht des Morgens, schien die Sonne durchs Fenster genau dorthin, wo sich sein Kopf befand. Die Strahlen rückten vor, Minute um Minute, und wanderten zur Wand hinüber. Es dauerte nicht lange, dann lag er wieder im Schatten und war doch wach. Zum wievielten Mal in dieser Nacht?

Vorhin war die Zeit so schnell vorangeeilt. Jetzt schien sie stillzustehen. Zeit, die still stand. Zeit zum Grübeln. Zeit für die Erinnerung an Siggi. Armer Siggi! Wie hatte es mit ihm begonnen? Oder müßte es heißen: geendet? Mit dem Angeln? Vor ein paar Wochen hatten Siggi und Spargel gesagt: Schorsch, wir gehen wieder angeln. Kommste mit? Wohin denn? An die Rader Au. Die Forellen bissen so wenig wie im Vorjahr. Nur einmal zog Spargel eine an Land, gerade groß genug für die Pfanne. Wahrscheinlich war es die vom letzten Jahr, die sie wieder ins Wasser geworfen hatten. Nun war sie größer geworden, klüger aber anscheinend nicht. Sie wußte wohl immer noch nicht, daß Regenwürmer unter Tage lebten, nicht im Wasser, und damit keine Beutetiere waren, sondern eine Falle der Menschen, die ihr und ihren Artgenossen nachstellten.

Dummheit schützt vor Strafe nicht, sagte die Oma immer. Die Strafe vollzog Spargel. Er schlug dem Fisch mit einem Knüppel so lange auf den Kopf, bis er aufhörte zu zappeln. In den Tagen darauf fingen sie nichts. Kein Biß. Nicht einmal ein Lutschen am Köder. Ich komm nicht mehr mit, sagte Georg. Wir fangen ja doch nichts.

Er stieg zur Abwechslung auf den Thingberg. Lange war er nicht mehr dort gewesen. Der Findling mit der Inschrift lag unverrückt auf dem höchsten Punkt. Er las:

20.4.1945

Wolf Kreher

Hohenfelde

An drei Stellen war etwas aus dem Stein herausgeschlagen worden. Was hatte da gestanden? Er würde die Oma fragen. Die Oma wußte alles. Oder fast alles.

Georg, sagte sie, erinnerst du dich noch an den Tag, als wir zum ersten Mal auf dem Thingberg waren? Nur wir beide. Ja, Omi. Sie war verwundert: So ist das mit uns Menschen. Das Gute vergessen wir leicht. Das Schlechte stapeln wir im Gedächtnis, werden es einfach nicht los. Wieso das Schlechte, Omi? Das war damals doch ganz lustig. Wir haben da doch Verstecken gespielt. Das war kein Versteckspiel, Georg. Was denn? Wir haben hinter dem Stein Deckung gesucht. Deckung? Wovor? Vor den Silbervögeln? Das waren keine Vögel. Das waren Tiefflieger. Die griffen alles an, was sich am Boden bewegte: Züge, Lastwagen, Panzer, Soldaten. Und manchmal auch Leute wie uns. Eine Bäuerin aus Westerhusen, die morgens zum Melken auf die Koppel zu den Kühen fuhr, haben sie vom Rad geschossen. Einfach so. Vielleicht aus Langeweile. Der Krieg bringt alles Schlechte zutage, was in uns Menschen steckt.

Das mit der Frau hab ich schon mal gehört, Omi. Aber was ist nun mit der Inschrift? Georg, ich war lange nicht mehr auf dem Thingberg. Bergauf ist nicht mehr meine Sache. Da gerate ich zu leicht aus der Puste. Also: Was steht noch auf dem Stein? Und wo fehlt jetzt was?

Ganz oben steht ein Datum: 20.4.1945. Haben die das damals an dem Tag in den Stein gehauen? Ich nehme es an, aber genau weiß ich es nicht. Am 20. April hatte Hitler Geburtstag. Das wurde immer groß gefeiert. Vielleicht auch mit der Inschrift. Omi, von Hitler hab ich schon was gehört. Georg, das war ein ganz schlechter Mensch. Omi? Ja. Lehrer Kröger hat aber mal gesagt, daß nicht alles schlecht war, was er gemacht hat. Georg, das sagen immer noch manche von denen, die ihm damals hinterhergelaufen sind. Aber es ist nur eine Ausrede, weil sie mitgemacht haben. Wem sollte er glauben? Der Oma? Oder Lehrer Kröger? Kröger hatte schon mal was Falsches gesagt. Bei der Sache mit den Angelhaken und dem Beten: Der liebe Gott hilft in der Not. Ihr müßt nur fleißig beten. Kein Wort war wahr gewesen. Die Oma hatte sicher auch jetzt recht.

Unter dem Datum fehlt eine Zeile, Omi. Da stand früher: Führer, befiehl, wir folgen dir. Das versteh ich nicht. Georg, hast du schon mal was von der Hitlerjugend gehört? Onkel Willy hat Spargel und mir erzählt, da mußten alle Jungen drin sein, ob sie wollten oder nicht. Und Hitler war ihr Anführer. Das ist richtig. Deswegen ja: Führer, befiehl, wir folgen dir.

Was steht noch da, Georg? Der Name von Siggis Bruder: Wolf Kreher. Siggi sagt, den haben die Engländer erschossen. Das stimmt. Aber warum haben sie ihn denn erschossen? Dazu komm ich gleich. Vorher muß ich aber wissen, was noch fehlt. Vor Hohenfelde ist noch was rausgeschlagen. Georg, ich muß einen Moment nachdenken. Was stand da noch? Ja, jetzt hab ich's wieder. Vor Hohenfelde stand: Kameradschaftsführer. Das ist Wolf Kreher hier im Dorf gewesen, also der Anführer der Hitlerjungen hier. Omi, hat er auch getan, was Hitler von ihm wollte?

Deswegen ist er ja gestorben. Deswegen? Ja, deswegen. Es war kurz vor dem Ende des Kriegs. Der war schon längst verloren. Trotzdem hat Hitler befohlen: Wir ergeben uns nicht. Wir kämpfen weiter. Und genau das wollten Wolf Kreher und noch ein paar Jungen aus dem Dorf. Schießen konnten sie alle. Das hatten sie bei der Hitlerjugend gelernt. Aber die Väter hier haben zu ihren Söhnen gesagt: Das mit dem Kämpfen, das läßt du schön bleiben. Bauer Henning hat zu seinem Hannes gesagt - ich weiß es von ihm selber - Hannes, wenn du diesen Unfug mitmachst, kriegst du solche Senge von mir, daß du sie dein Lebtag nicht vergißt. Aber Wolf Kreher und zwei andere waren nicht zu halten. Sie sind zu den Soldaten in den Wäldern gegangen und haben sich Gewehre und Handgranaten besorgt.

Die Oma machte eine Pause. Wollte sie nicht weiterreden? Er drängte: Omi, haben die Soldaten denn nicht kämpfen wollen? Georg, die haben gesagt: Wollt ihr drei euch jetzt noch totschießen lassen? Wir nicht. Wolf Kreher hat da gesagt: Feiglinge seid ihr. Alle. Lieber feige als tot, haben die Soldaten geantwortet. Wolf Kreher war damit aber noch nicht fertig: Der Führer hat in Berlin auch bis zum Ende gekämpft und ist als Held gefallen. Die Soldaten haben gelacht: Quatsch! Selbst erschossen hat sich der Adolf. Hat sich einfach davongemacht. Und wir müssen die Sache jetzt ausbaden. Alles Lüge! hat Wolf Kreher gebrüllt. Und dann sind die drei losgezogen.

Die Oma holte ein paarmal tief Luft. Danach machte sie weiter: Es war ein schöner Tag Anfang Mai. Die Engländer kamen die Straße von Neudorf hoch. Eine lange Reihe von Soldaten, vorneweg ein Panzer. Wolf Kreher hat einmal geschossen. Zu einem zweiten Schuß ist er nicht gekommen. Die beiden andern sind weggelaufen. Bauer Kreher hat seinen Sohn tot im Straßengraben gefunden. Auf dem Kirchhof von Neudorf ist er begraben. Nun weißt du alles. Aber versprich mir eins, Georg: Red nicht mit Siegmund darüber! Wenn man nicht dauernd an etwas erinnert wird, vergißt man es leichter. Und vergessen ist das Beste, was es für ihn gibt.

Omi? Ja. Ganz unten ist aus dem Stein noch was rausgeschlagen worden. Georg, da befand sich ein Hakenkreuz. Ein Hackenkreuz? Nein, ein Hakenkreuz. Sie zeichnete es ihm auf: Siehst du, hier? So sah es aus. Das Hakenkreuz war das Zeichen von Hitler und seinen Leuten. Jetzt ist es weg. Aber die Zeiten von damals leben weiter. Was einmal war, bleibt unvergessen, solange noch welche da sind, die dabei waren. Sogar noch, wenn die alle tot sind. Die Menschen brauchen es nur aufzuschreiben. Bücher, Georg, sind das Gedächtnis der Menschheit. Auch deswegen lernst du in der Schule lesen.

Er hatte nicht alles verstanden, fragte aber nicht nach. Die Oma sah erschöpft aus. Er merkte, sie wollte nicht mehr reden, sah an ihm vorbei und blickte an die Wand hinter ihm, als ob da etwas Wichtiges geschrieben stünde.

Siggi und Spargel gingen weiterhin zum Angeln. Er nicht. Kein Wort zu Siegmund, hatte die Oma gesagt. Wenn er nicht mitging, rutschte ihm nicht etwas aus Versehen heraus, wenn sie sich langweilten, weil kein Fisch anbiß, und sie ins Schwatzen kamen. Auch sagte Onkel Willy immer: Ein Mann - ein Wort, eine Frau - ein Wörterbuch. Er war doch fast schon ein Mann und keine Klatschtante wie die Frau von Kaufmann Braasch. Alles, was sie im Laden ihres Mannes an Neuigkeiten aufschnappte, trug sie gleich weiter: Haben Sie schon gehört...? Nein, er würde nichts zu Siggi sagen.

Einige Tage später — er war gerade von der Schule nach Hause gekommen - drückte die Mutter ihm eine Tafel Schokolade in die Hand: Von Vera. Du sollst es dir gut schmecken lassen. Er guckte erstaunt: Vera und ich haben die Schokolade doch immer geteilt und zusammen gegessen. Damit ist es vorbei, sagte die Mutter. Vera ist heute morgen gegangen. Für immer. Sie ist weg? Warum denn? Leute im Dorf reden schlecht von ihr. Sie sagen, sie ist in Schande gefallen.

Er verstand nicht, was sie meinte. Spargel war beim Angeln mal in die Au gefallen. Hatte zu dicht am Ufer gestanden, war ausgerutscht, und schon lag er im Wasser. Nicht weiter gefährlich, denn die Au war nicht tief. Siggi hatte Spargel eine Hand gereicht und ihm rausgeholfen.

Er selbst war schon zweimal in einen Graben gefallen. Die Gräben entwässerten die Wiesen, und manche waren so zugewuchert, daß man sie schlecht erkennen konnte. Er hatte sich nasse Füße geholt. Aber was war das schon? Die Füße trockneten wieder. Die Strümpfe auch. Die durchgeweichten Schuhe mußte man mit Zeitungspapier ausstopfen. Dann behielten sie ihre Form.

Böse hätte die Sache ausgehen können, als Ludmilla Schlonski in den Feuerlöschteich fiel. Der war tiefer als die Au, und Ludmilla konnte nicht schwimmen. Sie ging unter, tauchte wieder auf, schrie und versank wieder. Zum Glück kam Onkel Willy gerade vorbei. Er sprang in den Teich, ergriff sie bei den Zöpfen und zog sie ans Ufer.

Ins Wasser konnte leicht jemand fallen, aber in Schande? Was war das? Vera kriegt ein Kind, sagte die Mutter. Jetzt wurde die Sache klarer. Etwas zumindest. Bob fuhr mit Vera immer in den Wald. Dort deckte er sie. So hatte Siggi es ihm erklärt, als sie gesehen hatten, wie er auf ihr rumzuckelte. Davon kriegte sie jetzt ein Kind.

Aber Mutti, sagte er, deswegen muß sie doch nicht weg aus Hohenfelde. Die Frau von Hannes Henning hat neulich auch ein Baby gekriegt, und die ist noch hier. Aber die beiden sind verheiratet, Georg. Vera nicht. Bob und sie können doch auch heiraten. Georg, die Zeit von Bob bei den Soldaten ist vorbei. Er ist schon wieder in England und hat nicht im Traum daran gedacht, Vera zu heiraten. Eine Deutsche! Unmöglich!

Georg überlegte: Vera kriegte ein Kind. Der Vater war Engländer. Sie Deutsche. Was war daran so schlimm? Nichts, fand er. Schlimm war, daß beide nun weg waren. Er mochte Vera, die Schokolade von Bob aber auch. Das Problem war offensichtlich, daß Bob als Vater des Kindes sie nicht geheiratet hatte und auch nicht wollte. Die Sache war wirklich verzwickt, so verzwickt, daß er noch mal nachfragen mußte: Mutti, ist das Kind nun die Schande, in die Vera gefallen ist? Nicht für mich, sagte die Mutter. Auch nicht für die Oma, Onkel Paul und Tante Marie. Aber viele im Dorf denken anders darüber. Da ist sie gegangen. Irgendwohin, wo keiner sie kennt.

Aufgeregt und zappelig war Siggi am nächsten Tag schon morgens auf dem Schulweg. Im Unterricht wurde es nicht besser. Unruhig rutschte Siggi auf der Bank hin und her. Was ist los mit dir? flüsterte Georg. Jetzt nicht, Schorsch. Später. Später war nach Schulschluß auf dem Heimweg. Siggi führte ihn und Spargel hinter einen Knick, guckte sich um, ob jemand sie beobachten konnte, und hielt ihnen seinen geöffneten Ranzen entgegen: Na, was sagt ihr dazu? Handgranate, sagte Spargel. Kenn ich von früher, als ich noch klein war. Lagen damals massenweise im Wald rum, bis die Tommies sie eingesammelt haben.

Sie sahen sich das Ding an: Eine Art Topf aus Metall an einem hölzernen Stiel. In der Länge paßte die Granate gerade in Siggis Ranzen. Wo haste die her? fragte Georg. Gefunden. Bei uns im Geräteschuppen. Lag da in ‘ner Ecke unter einem alten Getreidesack. Hat wohl mein Bruder dort versteckt. Haste noch mehr davon? Insgesamt drei. Prima! rief Spargel. Jetzt geht's den Forellen in der Au an den Kragen. Rein damit und rumms! Danach brauchen wir die Fische nur noch einzusammeln. Hat mir Onkel Willy erzählt. Weißte auch, wie so'n Ding funktioniert? fragte Siggi. Keine Ahnung, sagte Spargel. Und du, Schorsch? Auch nicht. Ich erst recht nicht, sagte Siggi.

Endlich Aussicht auf Beute - und nun das! Siggi steckte die Granate wieder in seinen Ranzen, legte zur Tarnung sein Lesebuch und Hefte darauf und wollte gehen. Doch Spargel rief: Moment! Er ergriff die Granate, knöpfte sein Hemd auf und steckte sie darunter. Halt! protestierte Siggi. Das ist meine. Was willste damit? Wirste früh genug erfahren, sagte Spargel und war weg. Zu Hause zeigte er die Granate Onkel Willy. Willy Falke war plötzlich wieder Soldat. War weit weg. War in Norwegen, auf dem Balkan, in Rußland oder der Normandie, wo auch immer er im Krieg gewesen war. Stielhandgranate der Wehrmacht, sagte er, Modell 24. Geeignet für Grabenkampf. Auch zur Bekämpfung von Bunkern. Dann als geballte Ladung. Fünf bis sechs Sprengtöpfe um eine Granate in der Mitte zusammengebunden. Bei Zündung detoniert das gesamte Bündel mit erheblicher Sprengwirkung.

Dann kehrte Willy Falke zurück in die Gegenwart: Arthur, wo hast du das Teufelszeug her? Hab ich gefunden. Wo? Im Wald. Das war zur Hälfte wahr — gefunden, wenn auch von Siggi — und ein bißchen gelogen. Das durfte man, fand Spargel, auch Onkel Willy gegenüber. Der hatte Wachtmeister Otte ja auch nicht gesagt, daß er Brehms Kirschbaum umgesägt hatte. Arthur, lagen da noch mehr von den Dingern rum? Nee. Wirklich nicht? Nee. Großes Ehrenwort, Onkel Willy. Das war nun die reine Wahrheit, denn die anderen beiden Granaten hatte schließlich Siggi und lagen nicht im Wald.

Onkel Willy? Ja, Arthur. Ist die Handgranate gefährlich? Arthur, das Ding ist scharf! Hätte glatt explodieren können! Einfach so? In Willy Falke erwachte der Ausbilder von Rekruten: Das nicht. Aber guck mal hier! Am Sprengtopf aus Gußeisen befindet sich der Stiel. Der ist hohl. Da drin ist die Abreißschnur. Am unteren Ende des Stiels ist eine Kappe aus Metall. Wenn du an der drehst, wird die Abreißschnur gezogen, und das Ding explodiert.

Sofort? Nein, das wäre ja unsinnig. Erst nach zirka fünf Sekunden. Du faßt also den Stiel an, drehst an der Kappe und zählst bis drei. Dann wirfst du. Warum nicht gleich, Onkel Willy? Arthur, wenn du gleich wirfst, haben die andern Zeit, die Handgranate aufzusammeln und zurückzuwerfen. Dann fliegen dir die Splitter um die Ohren und nicht denen. Also: Immer bis drei zählen. Dann aber schnell weg damit!

Spargel war ausreichend informiert und griff nach der Granate, wollte sie wiederhaben. Arthur! Bist du verrückt geworden? Das ist kein Spielzeug. Denk an Harry Wilms aus Oldenlohe! Der hat im Wald Munition gefunden. Was macht der dumme Bengel? Kloppt mit dem Hammer drauf rum. Jetzt hat er zwei Finger weniger. Ich bring das verdammte Ding nach Neudorf zur Polizei, und du zeigst Wachtmeister Otte, wo du es gefunden hast. Vielleicht liegt da noch mehr von dem Zeug rum. Mit Otte durch den Wald laufen. Dazu hatte Spargel nicht die geringste Lust. Aber er könnte ihn ja zu irgendeiner Stelle führen und sagen: Hier, Wachtmeister Otte, hier war es. Was da rumlag, waren höchstens ein paar Tannenzapfen.

Am Tag darauf trafen Georg, Spargel und Siggi sich nachmittags : an der Au. Haste die Handgranate mit, Spargel? fragte Siggi. Nee. Wieso nicht? Die hat Onkel Willy mir abgenommen. Mist! schimpfte Siggi. Jetzt haben wir nur noch zwei. Ich weiß nun aber, wie die funktionieren. Lang mal eine her! Nee, nee, Spargel. Ich zuerst. Sind ja schließlich meine. Wie du willst, Siggi. Ich erklär’s dir. Hier — siehst du - an der Metallkappe drehen. Dann bis drei zählen und rein damit ins Wasser!

Siggi entfernte sich ein paar Schritte, trat an den Lauf der Au heran, drehte an der Kappe und fing an zu zählen: eins, zwei, d-, dr-, dr- ... Die Drei - sie wollte mal wieder nicht raus. Weg! Weg damit! schrie Spargel, warf sich hin und riß Georg mit. Es krachte. Siggi verschwand in einer Wolke aus Rauch. Als der Wind sie verweht hatte, lag er am Boden. Georg und Spargel rappelten sich auf, halb betäubt, doch unverletzt. Sie sahen zu Siggi hinüber. Der lag im Gras. Seltsam verkrümmt. Stumm. Lag da, ohne sich zu regen.

Sie trauten sich nicht an ihn heran. Schließlich sagte Georg: Komm, Spargel! Zurück ins Dorf! Hilfe holen. Sie rannten los. Siggi blieb liegen, wo er gefallen war, neben sich den Ranzen, darin die letzte, die dritte Handgranate.

Seine Beerdigung fand einige Tage später statt. Grete, sagte die Oma, ich hab Kreher nie leiden können. Wie auch? Was für ein hartherziger Mann! Mitleid mit anderen hat er nicht, nur böse Worte. Aber den einen Sohn im Krieg verlieren und den anderen auf so eine tragische Weise, das muß furchtbar sein. Dieser Krieg geht wohl nie zu Ende. Selbst jetzt im Frieden holt er sich noch Opfer. Auch denen, die meinen, heil davongekommen zu sein, hat er was angetan. Innerlich, meine ich. Vielleicht merken sie es erst, wenn sie alt sind. Laß das Sinnieren, Omal sagte die Mutter. Es führt zu nichts. Auf jeden Fall gehen wir zur Beerdigung. Wir können da nicht fernbleiben.

Omi, fragte Georg, wie ist das so bei einer Beerdigung? Was sie erzählte, gefiel ihm nicht: still sitzen, dem Pastor zuhören, Lieder singen, deren Text und Melodie er nicht kannte. Am Ende, hatte die Oma gesagt, sprach der Pastor immer diesen einen Satz: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, gelobt sei der Name des Herrn!

Der Herr hat's gegeben... Was denn? Ihm nicht mal Angelhaken. Das wäre für den lieben Gott, der allmächtig war - das behauptete Lehrer Kröger zumindest - doch sicher eine Kleinigkeit gewesen, wenn er nur gewollt hätte. Der Herr hat's genommen... Das stimmte. Ihm erst Vera. Dann Siggi. Ab morgen sein geliebtes Hohenfelde.

Womöglich sangen sie in der Kirche auch eines dieser Lieder, von denen die Oma gesprochen hatte: Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke... Wofür sollte er Gott loben? Ihm fiel nichts ein. Oder die Trauergemeinde sang dieses Lied, das ihm ebenso wenig gefiel: Lobet den Herren, der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet... Was für ein komisches Deutsch! Allein dies: Auf Adelers Fittichen. Die Oma hatte es ihm erklärt: Georg, das heißt: auf den Flügeln des Adlers. In Hohenfelde gab es keine Adler. Sicher geführet - Georg, das verstehst du doch? Ja, Omi, das ja. Er verstand es, doch es stimmte nicht. Nicht bei Siggi, denn der war jetzt tot. Hatte Gott bei Siggi nicht aufgepaßt? Oder hatte er selbst es nicht getan? Hätte er Siggi das Fischen mit den Handgranaten ausreden sollen?

Mutti, sagte er, ich komm nicht mit zur Beerdigung. Das gehört sich aber so, Georg. Nein, ich will nicht! Grete, sagte die Oma, wenn er absolut nicht will, dann laß ihn zu Haus! Zu so etwas soll man ein Kind nicht zwingen. Siegmund, wandte die Mutter ein, war aber doch sein Freund. Was sollte er darauf antworten? Am besten nichts. Gerade weil Siggi sein Freund gewesen war, wollte er nicht mit. Aber ob die Mutter das verstehen würde? Er wollte nicht zusehen müssen, wie der Sarg mit Siggi in die vorher ausgehobene Grube sank. Er wollte keine Schaufel voll Erde auf den Sarg schmeißen, und wollte nicht dran denken, wie die Totengräber das Loch ganz zuschütteten. Er wollte, daß Siggi lebte. Das tat er dann für ihn, wenn er an ihn dachte und nicht an sein Grab.

Siggi mit seinem merkwürdigen Gang. Schwerfällig. Linkisch. Hüpfend wie eine Krähe. Krähe, Krähe, kra, kra, kra! So hatten sie ihn verspottet. Er hatte Siggi zu ihm gesagt, so wie der es sich gewünscht hatte.

Siggi im Kampf mit seinem Feind, dem Griffel. Er hatte ihm geholfen: Siggi, faß den mal so an! Ja, so. Jetzt geht es besser, nicht? Bloß beim Zählen war er mit Siggi nicht vorangekommen. Die Drei — dreimal verflucht sei sie!

Siggi, wie der für ihn geschwindeit hatte: Herr Kröger, Schorsch hat gar nicht mit Vogeleiern geschmissen. Er hatte dafür von der Russenmütze nichts erzählt. Eine Hand wäscht die andere, hatte die Oma mal gesagt. Er hatte es so verstanden: Ein Freund hilft dem andern.

Siggi beim Erobern fremder Länder: Ich erkläre den Krieg gegen England. England gehörte Spargel. Am Schluß war Spargel der erste, der sein Land loswurde, denn Siggis angespitzter Schraubenzieher steckte am besten in jeder Art von Erde. Ganz schön plietsch, das mit dem Schraubenzieher. Hatte er Siggi gar nicht zugetraut.

Siggi als Reiter. Stach beim Vogelschießen trotz seines schönen Steckenpferds daneben. Schuld war sein Krähentrab. Doch auf dem geklauten Fohlen saß er sicher und stolz wie ein Spanier. Siggi als Torwart. Seine Landung im Kuhfladen. Was hatten sie alle gelacht! Siggi selbst am meisten. Siggi, wie er in der Rauchwolke verschwand... Nein! Nein! Das wollte er nicht sehen. Aber konnte er das Bild jemals loswerden? Siggi, ach, Siggi!

Spargel war, anders als Georg, bei Siggis Beerdigung gewesen. Erzähl mal, Spargel! sagte Georg. Lust dazu, sagte Spargel, hatte ich nicht. Onkel Willy auch nicht. Mit den Pfaffen will ich nichts zu tun haben, hat er gesagt. Tot ist tot. Der Pastor mit seinem Gerede macht den Siegmund Kreher nicht wieder lebendig.

Willy Falke, du alter Heide, hat da meine Mutter gesagt, dann bleibst du eben zu Hause. Aber ich gehe. Ich hab meinen Mann verloren und weiß nicht mal, wo er begraben ist. Tot ist tot. Da kann ich dir nicht widersprechen. Aber eine Beerdigung kann Trost spenden. Auch ein Grabstein auf dem Friedhof. Der Grabstein erzählt davon, daß der Tote einmal gelebt hat. Man kann ihn dort besuchen und mit ihm reden. Antworten kann er nicht, das wissen wir beide. Noch etwas kommt hinzu. Daß Kinder ihre Eltern beerdigen, das ist normal. Umgekehrt nicht. Die Krehers haben jetzt ihr zweites Kind verloren, ihr letztes. Da hat selbst ein Mann wie Kreher Anteilnahme verdient. Und jetzt geh ich. Und ihr, Kinder, ihr kommt mit!

Und wie war's nun? fragte Georg. Langweilig. Hast nichts verpaßt. Ach, noch was, Schorsch. Wir wollen weg von hier. Im Rheinland suchen sie Bergleute. Dort kann Onkel Willy Arbeit finden. Hier, hat er gesagt, kommen wir ja doch zu nichts. Wann es losgeht, steht noch nicht fest. Aber weg wollen wir.

Spargel und seine Familie also auch. Wer in Hohenfelde blieb ihm? Onkel Paul hatte zu ihm gesagt: Wenn du inne Stadt büst, mien Lütten, un hest Lengen na dat Dörp, denn kiek bi uns in. Ik, mien Fru un Lischen, wi warrn uns freien. Bei Onkel Paul zu Besuch sein, mit Lischen in die Blutbuche klettern und sich vor Tante Marie im Geäst verstecken — Kinder, wo seid ihr? — das war so schlecht nicht.

Die Nacht war vorbei. Es war hell geworden. Bald würde Onkel Paul mit seinem Leiterwagen vor der Haustür stehen. Die Mutter und die Oma hatten in den letzten Tagen gepackt: Geschirr, Bestecke, Kleidung, Handtücher, Leib- und Bettwäsche und was sonst noch alles. Auch seine Schulsachen. Hoffentlich blieben die beim Auspacken unauffindbar! Bei einem Umzug kam ja manchmal was abhanden.

Wichtiges, was nicht verloren gehen durfte, würde er bei sich tragen. In der Hand seine Angel. Ob es in Altkirchen auch eine Au oder Lehmkuhle gab? In den Hosentaschen Kastanien. Die schützten vor Rheuma, behauptete die Oma. Rheuma — was war das? Sie hatte es ihm mal erklärt, aber er hatte es wieder vergessen. In den Hosentaschen auch ein rostiges Taschenmesser mit halber Klinge, das er mal auf der Straße gefunden hatte, dazu seine Zwille und einige Kieselsteine als Munition. Dann noch einen seltsam geformten schwarzen Stein mit einem Abdruck, der wie eine Rose aussah. Das Hufeisen, das er mal gefunden hatte, paßte nicht in eine Hosentasche. Das verwahrte die Oma für ihn. Hufeisen, hatte sie gesagt, bringen Glück. Das kommt in unserer neuen Wohnung über die Eingangstür, Georg.

Doch da war manches, was sich weder einpacken ließ noch in seine Hosentaschen paßte: Der Wind, der über den Thingberg fegte, der Geruch von frisch gemähtem Gras, das Muhen der Kühe, wenn sie gemolken werden wollten, der warme Sand der Feldwege unter den Fußsohlen, das Glucksen des Wassers der Rader Au, der Geschmack von frisch gepflückten Brombeeren...

Seine Gedanken wollten in Hohenfelde bleiben, wollten es nicht loslassen, doch der Schlaf, viel zu lange schon verdrängt, nahm ihn mit sich.

Aber nur für kurze Zeit. Er fühlte, wie ihm jemand übers Haar strich. Die Mutter saß auf der Bettkante. Sie flüsterte: Aufstehen, Georg! Bald geht es los. Er wußte, was nun folgen würde. Sich hochquälen. Die Zähne putzen. Sich waschen und anziehen. Danach frühstücken. Und dann: Weg aus Hohenfelde! Ein deutscher Junge weint nicht. Aber wie wehrte man sich gegen etwas, das stärker zu sein schien als der eigene Wille? Gegen ein Würgen im Hals? Gegen ein Schlucken, das sich nicht zurückdrängen lassen wollte?

Die Mutter lächelte ihn an. Die Oma war dabei, das Frühstück zu machen. Doro war schon angezogen und half. Ihr, die Schuld war an allem, jetzt was vorheulen? Nie und nimmer!

In der Schule hatten sie gestern ein Lied geschmettert, dasselbe wie jeden Mai: Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus... Spargel hatte, auch wie jeden Mai, Maikäfer mitgebracht und im Papierkorb ausgesetzt. Die Biester hatten nicht recht starten wollen. Vielleicht brauchten sie ein wenig Aufmunterung.

Georg summte, während er aufstand: Maikäfer, flieg...

Einzelnachweise

  1. Wir bedanken uns bei Walter Isernhagen (1941-2024) für die Einräumung der Nutzungsrechte an seinen Büchern "Das Tal der Osterhasen", "Liebe Hermine!" und "Abschied", die er dem Museumsverein und der Gemeinde Aukrug bei einem persönlichen Treffen mit Martin Westendorff am 14. Oktober 2022 in Lübeck schriftlich erteilte. Bei der Gelegenheit konnten wir auch viele der Fotos und Dokumente aus seinem Archiv vom Original digitalisieren.