Archiv:Als Fliegergeschädigte in Homfeld (1944-1950)

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Betreuungskarte für Fliegergeschädigte, Neumünster 25. Oktober 1944
Innenseite der Betreuungskarte. Das Wirtschaftsamt der Stadt Neumünster vermerkte am 29.10.44 als erste Hilfe für meine Mutter und uns zwei Kinder „3 Wolldecken“ und am 2.11.44 „1 Sammelbezugschein“, damit wir uns mit dem Allernötigsten versorgen konnten.

An einem grauen Tag im November des Jahres 1944 werden wir bangen Herzens mit unserer armseligen Habe in Innien, ca. 15 Kilometer westlich von Neumünster an der eingleisigen Bahnstrecke an Heide gelegen, aus dem Zug gestiegen sein, um. dann den Weg nach Homfeld mit dem Pferdewagen, sofern uns einer der Bauern abgeholt hat, oder zu Fuß fortzusetzen. Unsere Adresse lautete von nun an: Hormfeld bei Innien (Aukrug).

HOMFELD

Der Aukrug ist eine landschaftlich sehr reizvolle Gegend mit Innien als Hauptort, von den Dörfern Böken, Bünzen, Bargfeld und dem drei Kilometer entfernten Homfeld umgeben. In Homfeld gab es keine Geschäfte, nur den kleinen Laden von Braker, keinen Arzt, keinen Friseur, kein Postamt und keine Kirche. Wie oft bin ich daher, anfangs an der Hand meiner Mutter, später auch allein, von Homfeld nach Innien und zurück gegangen!

Heute stehe ich wieder am Bahnhof und gehe nach Homfeld, es ist ein kalter, jedoch heiterer Apriltag des Jahrs 2003, und in Gedanken werde ich mit jedem Schritt jünger, bin wieder ein Kind, laufe in kurzen Hosen, im Sommer barfuß, die Vergangenheit rückt immer näher, und ich suche klopfenden Herzens die Spuren meiner Kinderzeit.

Der alte Bahnhof, ein Backsteingebäude, ist abgerissen, doch es gibt einen neuen Bahnsteig mit Bänken aus Drahtgeflecht und zwei modernen Unterständen aus Stahl und Glas. Nur Fahrkarten kann man nirgends mehr lösen, das muß man im Zug machen. Die kurze Bahnhofstraße führt auf die Hauptstraße, dann geht es nach links über die Schienen, wo sich anschließend die Straße in Richtung Bünzen/Bargfeld und in Richtung des neun Kilometer entfernten Hennstedt gabelt. Ich muß den letzteren Weg einschlagen.

Der Verlauf der Straße ist noch der alte, doch an die Stelle des alten Kopfsteinpflasters ist eine Asphaltdecke getreten, und aus dem neben dem Straßengraben verlaufenden sandigen Weg ist ein bequemer Fußweg, später ein Radweg geworden. Wie früher stehen kleine Siedlungshäuschen rechter Hand, doch an die Innier Ziegelei erinnert nur noch die Bezeichnung Ziegeleiweg, von wo mir frohgelaunte Kinder aus der neuen Schule entgegenkommen. Danach pflegte mich meine Mutter immer eilig an einem breiten und hohen eisernen Gittertor vorbeizuziehen, damit wir möglichst schnell am dahinterliegenden Frauenheim, einer geschlossenen Anstalt für schwer erziehbare Mädchen und Frauen, vorbeikamen. Heute ist dies der „Erlenhof‘, eine Einrichtung mit Wohn- und Werkstätten für Behinderte, immer noch unter der Trägerschaft des Landesverbandes für Innere Mission, doch ohne Diakonissinnen mit nonnenähnlicher Tracht.

Noch einige hundert Meter, dann zeigt ein Straßenschild mit der Aufschrift „Aukrug - Homfeld 1 km“ , dass ich nach rechts abbiegen muß, und nach einer Linkskurve geht es gemächlich, ab er stetig bergauf; der Name Homfeld bedeutet schließlich „hohes Feld“, Der mich erst rechts und dann auch links begleitende Tannenwald war früher nicht vorhanden, und, als sich die Landschaft weitet, suche ich rechts vergeblich die Spitzen der Bäume, die eine Lehmkuhle, eines meiner jugendlichen Anglerparadieses, umgaben . Dort stehen zwei 1995 gebaute Kuhställe. Endlich habe ich den höchsten Punkt der Straße erreicht. Hier steht das Gebäude vom „Krug zum grünen Kranze“, auch der Festsaal ist im Inneren noch vorhanden, nur die Gastwirtschaft gibt es seit über zehn Jahren nicht mehr. Es folgt eine Straßenkreuzung. Wenn ich jetzt geradeaus gehe, komme ich am Hof der Familie Ratjen vorbei, biege dann links am neuen Spritzenhaus ab und...

Nein, aus alter Gewohnheit gehe ich nach links. Der Weg hat, wie andere auch, jetzt einen Namen, der auf einem Schild prangt, „An der Lieth“, und ich sehe viele neue Häuser. Ich komme, einem weiten Bogen folgend, an Max Rohwedders, eines alten Jugendfreundes, Haus vorbei, auch an den Gebäuden, die früher zur Dorfschmiede der Familie Kreutz gehörten, und muß nur noch den Hof von Paul und „Mimi“ Ratjen, den jetzt sein Sohn Claus mit seiner Frau bewirtschaftet, und den früheren Hof der Familie Dierks passieren, wo heute das Türschild den Namen Schade nennt. Und endlich stehe ich dort, wo wir im Haus von „Tante“ Maaß bis zum Juni 1950 wohnten. Ich bin am Ziel. Doch das Haus steht nicht mehr, nur in meiner Erinnerung ist es noch vorhanden.

BEI TANTE MAAß

Meine Großmutter[1] hatte in Homfeld zwar nicht auf begeisterte, aber doch auf verständnisvolle Aufnahme bei einer der ihr bekannten Bauernfamilien gehofft. Dies erwies sich als Irrtum. Die Familie Heeschen, bei der wir anfangs untergebracht wurden, bedeutete uns durch ihr Verhalten, dass wir doch ziemlich unerwünschte Gäste seien.

Später, als die Zahl der Ausgebombten immer mehr zunahm, und erst recht, als die ersten Flüchtlingstrecks aus dem Osten auch das kleine Homfeld erreichten und die Behörden des III. Reiches, dann die der britischen Besatzungsmacht, ohne viel zu fragen, die heimatlosen Menschen auf die einzelnen Bauernhöfe verteilten, hörten wir, dass mancher Bauer gesagt haben soll: „Ach, hätten wir doch Frau Pastor (meine Großmutter) und Frau Doktor (meine Mutter) mit den Kindern aufgenommen! Das sind doch ordentliche Leute.“

Wir suchten nun eine Bleibe zur Miete. Da gab es im Dorf wenig Möglichkeiten. Schließlich fanden wir eine Unterkunft im Hause von Frau Maaß, die von uns Kindern prompt in den Stand einer "Tante" erhoben wurde, obwohl keinerlei Verwandtschaftsbeziehungen bestanden, was uns aber die im Dorf vorherrschende Form des Duzens bei der Anrede ermöglichte.

Das Haus von Tante Maaß war kein Bauernhaus, sondern ein reines Wohnhaus von, ich meine, zwei Stockwerken. Je eine Säule links und rechts neben dem Eingang bemühten sich ohne großen Erfolg, dem Gebäude ein herrschaftliches Aussehen zu verleihen. Es führte eine Einfahrt links am Haus an einer Klärgrube vorbei zu einem Schuppen und einem recht großen Garten, von dem ein Teil den Mietern zur Bestellung überlassen wurde. Vor dem Haus befand sich ein Vorgarten. Hinter der Eingangstür lagen ein dunkler Flur und eine Treppe, die ins nächste Geschoß führte. Die Treppe war seitlich mit Brettern verkleidet, und dahinter gab es dort, wo sie an die rückwärtige Hauswand stieß, - oh, welch Luxus! — ein Wasserklosett, das im Winter allerdings eher einem Eiskeller glich, da der Flur ja nicht geheizt wurde.

Unsere Wohnung betrat man durch die erste Tür links. Sie war ursprünglich ein einziger recht großer Raum gewesen, von dem der vordere Teil von etwa zwei Metern Breite durch eine eingezogene Holzwand abgetrennt worden war, der nun als Küche diente. Ein einfacher Eisenherd stellte unsere Kochgelegenheit und eine Wärmequelle dar. Ein großes Fenster lag hier zur Straßenseite hin. In der Küche standen ein Tisch und einige Stühle, sie war aber auch Aufbewahrungsort für alles Mögliche, so wie Feuerholz und Kohlen.

In den verbleibenden Hauptraum von etwa sechs mal fünf Metern führte eine türartige Öffnung, die mit einer Wolldecke verhängt werden konnte. An der rechten Wand standen ein Bücherbord, als Allzweckschrank genutzt, und drei Betten. Für mich als Kleinsten war anfangs kein Bett vorhanden. Ich schlief auf einer Art Pritsche, wobei sich durch ein seitwärts eingestecktes Brett vor dem Herunterfallen bewahrt wurde, was meiner Schlafecke den Eindruck einer Koje verlieh. Der Platz unter den Betten wurde als Stauraum für alle möglichen Behältnisse genutzt, unter anderem für eine große Schale mit den letzten grün geernteten Tomaten, die in der Dunkelheit unter einem Bett zu roten wohlschmeckenden Früchten heranreifen sollten.

Gegenüber dem Durchgang zur Küche befand sich als einzige Heizmöglichkeit unseres kombinierten Schlaf- und Wohnzimmers ein Kamin. Vor dem recht kleinen Fenster in der Außenwand in Richtung Einfahrt zu Schuppen und Garten, das den Raum ungenügend erhellte, standen ein Tisch und einige Stühle, wo sich die Familie zum Essen, aber auch zum Lesen und zur Unterhaltung traf. An dieser Außenwand stand ein weiteres Bett.

Der Dielenboden wurde ab Kriegsende von einem Perserteppich bedeckt, dessen Geschichte noch folgt und der sich vergeblich bemühte, unserem Heim den Hauch einer luxuriösen Bleibe zu verleihen. So hausten anfangs fünf, später, nachdem meine Großtante Else in einer Dachkammer des auf der anderen Straßenseite gelegenen Hauses der Familie Blöcker Aufnahme gefunden hatte, vier Menschen, und das fast sechs Jahre lang.

HASENJAGD

In Homfeld, so meinten wir, seien wir dem Luftkrieg entkommen, was sich als Irrtum erwies. Ab Herbst 1944 bis zum Ende des Krieges war von der deutschen Luftwaffe fast nichts mehr zu sehen, der Luftraum über Deutschland wurde von britischen und amerikanischen Flugzeugen beherrscht. Wenn man auf den dicht bei Homfeld gelegenen Boxberg stieg, sah man am Himmel Bomberströme in Richtung Kiel, Berlin oder Städten weiter im Osten fliegen, während sich die beschäftigungslosen alliierten Jagdflieger anderen Zielen zuwandten. Fast täglich flogen Tiefflieger die Eisenbahnlinie Neumünster — Heide ab, um noch fahrende Güter- oder Personenzüge mit Bordwaffen anzugreifen. Auch einzelne Zivilisten waren das Ziel.

Eine Bäuerin aus einem der umliegenden Dörfer wurde auf dem Weg zur Feldarbeit vom Fahrrad geschossen, und als meine Mutter mit mir an der Hand einmal bei einem Gang durch die Feldmark einen Tiefflieger auf uns zuhalten sah, warf sie sich mit mir in den Straßengraben und bedeckte mein vor Angst bleiches Kindergesicht mit ihrer Einkaufstasche, damit es uns nicht, während wir uns an die Erde pressten, als Ziel verriete. So berichtete sie mir, der ich daran keinerlei Erinnerungen habe, Jahre später.[2] Die Bauern in Homfeld meinten: „Sie jagen uns aus der Luft wie die Hasen. Es wird Zeit, dass der Krieg zu Ende geht.“

SO’N SCHIET

In Homfeld musste ich eine bisher unbekannte Sprache lernen: Plattdeutsch. Bei uns zu Hause wurde nur Hochdeutsch und bei bestimmten Gelegenheiten, auf die ich noch zu sprechen komme, Englisch gesprochen. Doch im spielerischen Umgang mit Gleichaltrigen kam ich schnell voran, so dass Ausdrücke die „Klookschieter", „Döösbaddel" oder „Klei mi an'n Moors‘, sinnvoll angewendet und im richtigen Tonfall gesprochen, mir halfen, mich bei verbalen Auseinandersetzungen mit der Dorfjugend nicht unterkriegen zu lassen. Leider schienen meine frisch erworbenen Kenntnisse nicht nur zu Erfolgen zu führen, sondern uns auch in arge Schwierigkeiten zu bringen.

Das Kriegsende nahte, und ganze Einheiten der Wehrmacht fluteten vor den anrückenden Russen im Osten und den Engländern im Süden nach Schleswig-Holstein zurück. Viele davon lagerten mit ihrer Ausrüstung in den Wäldern, die Homfeld umgeben. Für die jüngere und ältere Dorfjugend kam damit eine Zeit der Abenteuer. Im Garten von „Onkel“ Paul Ratjens Bauernhof, uns gegenüber, bezog eine Vierlings-Flak ihre Stellung, und die gutmütigen Soldaten ließen uns auf dem drehbaren Geschütz Karussell fahren. Wege und Wälder waren voller weggeworfener Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Die Älteren, in der HJ vormilitärisch ausgebildet, wussten damit umzugehen und fischten mit entwendeten Handgranaten in der Buckener Au oder ballerten heimlich mit Gewehren und MG’s im Wald herum. Nach deren Durchzug einer Fernmeldetruppe waren plötzlich einzelne Höfe mit Feldtelefonen verbunden, die die technisch kundige Dorfjugend eingerichtet hatte. Die Telefonleitungen wurden von hölzernen Trommeln abgespult, die auf dem Rücken getragen wurden. Eine davon diente in unserem Haushalt noch jahrelang als Kinderhocker.

Die Soldaten warteten sehnsüchtig auf das Ende der Kampfhandlungen, doch die örtliche HJ hielt immer noch Übungen auf der Dorfstraße ab. An den Reihen der strammstehenden Jungen ging ich eines Tages an der Hand meiner Mutter vorbei und äußerte, stolz meine Fortschritte beim Erlernen des Plattdeutschen beweisend, klar und vernehmlich „So’n Schiet!“, ohne recht zu wissen, warum ich das sagte. Meine Mutter hielt mir erschrocken den Mund zu und zog mich weiter, denn wie leicht hieß es damals: „Wo lernt der Jugend so etwas? Für eigene Gedanken ist er ja noch viel zu klein. Wird so im Elternhause von der Jugend des Führers gesprochen?"

Auch war meine Großmutter vor 1933 politisch recht aktiv bei der Deutschen Demokratischen Partei gewesen, und Tante Else und meine Mutter waren nur Mitglied der NSV, der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, ohne jede Begeisterung für die hehre Sache des Führers, gemäß der Devise: „Irgendwo muß man ja in diesen Zeiten Mitglied sein.“ Das hätte wohl nur wenig geholfen, wenn ein übelwollender Volksgenosse uns angezeigt hätte. Mein Vater war zwar Mitglied der SA und auch der NSDAP gewesen und hatte den „Heldentod für Volk, Führer und Vaterland“ erlitten, aber ob das ausgereicht hätte, die Erwachsenen vor unangenehmen Nachforschungen oder gar Verfolgung zu schützen, erschien zweifelhaft. Es gab genug Beispiele, dass gerade in den letzten Wochen des Krieges das Regime wild um sich schlug, wo es Defälismus zu wittern meinte. Kurzum, meine Mutter sah sich in Gedanken schon, böswillig denunziert, im „Konzertlager", wie man damals sagte. Doch niemand zeigte sie an, die Homfelder HJ verzichtete auch darauf, beim Anrücken der britischen Truppen durch Verteidigung der Straße von Innien nach Homfeld ihren Beitrag zum sicheren „Endsieg“ zu leisten, und mit dem Ende des Krieges schwand auch ihre Furcht, wegen meiner Schmähung der Jugend des nunmehr verblichenen Führers verhaftet zu werden.

Der Einmarsch der Briten Anfang Mai 1945 bescherte uns eine unerwartete Gabe: Den bereits erwähnten Perserteppich. Einer der Homfelder Bauernsöhne war ein hohes Tier bei der SS gewesen und hatte eine Scheune voll geraubten Beutegutes, das nun schnell im Dorf verteilt wurde, um unangenehmen Fragen der Besatzungsmacht zuvorzukommen. Wir bekamen den Teppich. Auch von der Ausrüstung der Soldaten, die in die Kriegsgefangenschaft marschierten, fand manches Nützliche neue Eigentümer: Uniformteile, Wolldecken, Zeltbahnen, Kochgeschirre.

Die herumliegenden Waffen sammelten dagegen die Engländer ein. Trotzdem konnte man noch längere Zeit manchen überraschenden Fund in den Wäldern machen: Gewehre, MG's, Stahlhelme, Patronen, Gasmasken und vieles mehr. Dies alles musste, wie auch Jagdwaffen bis hin zu Dolchen, bei der Besatzungsmacht abgeliefert werden. Langsam hielt der Friede Einzug.

FLÜCHTLINGE

Bei den Ereignissen, von denen ich hier berichtete, handelt es sich um Begebenheiten, die teilweise fast 60 Jahre her sind und in eine Zeit hineinreichen, als ich dreieinhalb bis vier Jahre alt war. Nicht immer bin ich mir sicher, welche Ereignisse getreue Spiegelbilder selbst erlebter Eindrücke sind, welche im Laufe meines Lebens gewisse Umformungen erfahren haben, welche von mir, bewusst oder unbewusst, mit erfundenen Einzelheiten ausgeschmückt wurden und welche letztlich auf Erzählungen anderer beruhen, die aber so oft wiederholt wurden, dass ich sie für den eigenen Erfahrungsschatz halte.

Kann ein Mensch sich überhaupt an Ereignisse erinnern, die sich abgespielt haben, als er wenig mehr als drei Jahre zählte? Ich meine, dass so etwas schon möglich ist, wenn es sich um Eindrücke handelt, die ihn zum Zeitpunkt des Erlebten tief bewegt haben. Das Eintreffen des ersten Flüchtlingstrecks ist so ein Ereignis, das sich mir als eines der ersten selbst wahrgenommenen Bilder tief eingeprägt hat. Ich sehe einen Zug müder Menschen, der durch das Dorf fließt und sich durch die Verteilung auf die einzelnen Gehöfte langsam auflöst, und meine, dass dies Ereignis in der Ostertage 1945 fällt.

"Die Einwohnerzahl Homfelds verdoppelte sich durch Evakuierte und Flüchtlinge schließlich von etwa 300 auf rund 600 Menschen.[3]

Man hieß jetzt nicht nur norddeutsch-vertraut Behm, Blöcker, Heeschen, Maaß oder Rohwedder, sondern auch Anczykowski, Czock, Gottlinski, Gusek, Koslowski, Rupkalvis oder Schlonski. Die Neuen sprachen ein sehr fremd klingendes Deutsch und trauerten um die verlorene Heimat, meist irgendwo im Osten. Hatte man unsere Familie nicht immer freundlich aufgenommen, so war das Verhältnis zu den Flüchtlingen häufig ausgesprochen gespannt. Man empfand sie als Fremde, als Eindringlinge, die mit wenig oder gar nichts gekommen waren und mit denen man nun teilen musste, oft aber nicht wollte. Willkommen waren nur die, die sich als Knechte oder Mägde verdingten, da Arbeitskräfte in der Landwirtschaft knapp waren. Den Neuankömmlingen wurde auf Anweisung der Militärregierung ein Stück Land pro Familie zugesprochen, damit sie durch etwas Anbau zum eigenen Lebensunterhalt beitragen konnten. Uns ging es schlecht, den meisten Flüchtlingsfamilien ging es aber noch erheblich schlechter.

HASST DU SCHLÜMMEN

Die Schultern sind viel zu schmal im Verhältnis zum Kopf, Arme und Beine zu dünn, und statt Socke trage ich um Füße und Knöchel gewickelte Binden, denn da habe ich „Schlümmen“.
Lebensmittelkarte aus dem Jahre 1950. In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Lebensmittelkarten im gleichen Jahr abgeschafft. Dies geschah in zwei Etappen. Am 22. Januar wurde die Aufhebung der Rationierungen mit Ausnahme von Zucker mit Wirkung vom 1. März an bekannt gegeben. Am 31. März beschloss das Bundeskabinett unter Konrad Adenauer die Aufhebung aller noch verbliebenen Einschränkungen zum 1. Mai 1950. Damit entfielen im Bundesgebiet die Lebensmittelkarten und -marken. In der DDR wurden sie 1958 abgeschafft[4].

„Hast du Schlümmen?“

„Klar! Du auch?"

„Ja, ganz dolle Schlümmen.“

So könnte eine Unterhaltung von Dorfkindern in Homfeld im Frühjahr oder im Sommer 1947 Sich angehört haben. Heutigen Generationen muß man erst einmal den Begriff „Schlümmen"“ erläutern, damit sie überhaupt wissen, wovon die Rede ist. Im breit gesprochenen Norddeutsch liegen in der Aussprache „i“ und „ü" dicht beieinander. „Schlümmen"“ sind „schlimme“, also wunde Stellen am Körper. Mein Lexikon nennt die fachmännisch Ödeme und führt aus:

„Hungerödem, ... eine Ansammlung von eiweißarmen Gewebswasser unter der Haut und in den Körperhöhlen ... es entsteht durch teilweise Unterernährung bei einer falsch zusammengesetzten (Vitaminmangel) und zu knappen (Kalorienmangel) Kost, ... die zu wenig Eiweiß und wenig Fett enthält.“[5]

Wir Kinder kratzten uns an den betroffenen Hautpartien und dadurch entstanden offene, juckende Wunden, eben die „Schlümmen". Sie hatte damals fast jedes Kind. Auch das Foto von mir, im wunderschönen, nicht enden wollenden Sommer 1947 auf dem Homfelder Schulhof aufgenommen, zeigt ein Kind, das trotz des strahlenden, unbeschwerten Lachens unterernährt ist.

Während des Krieges wurden Lebensmittel rationiert, ebenso die meisten anderen Güter des täglichen Bedarfs, doch die Armeen des III. Reiches plünderten die eroberten Gebiete auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung aus, so dass uns der Hunger erst als Nachkriegserscheinung erreichte. Die britische Militärregierung behielt das Zuteilungssystem mit anfangs beschiedenen, aber knapp ausreichenden Mengen bei. Doch Ende Februar 1946 wurde die Brot- und Nährmittelration um 50 % gekürzt. Die zugeteilte Kalorienmenge sank pro Kopf von 2000 auf 1500 Kalorien täglich, was der „Manchester Guardian“ so veranschaulichte:

„Praktisch bedeutete die Kalorienzahl der britischen Zone nicht viel mehr als 2 Scheiben Brot mit Margarine, einen Löffel voll Mischsuppe und zwei kleine Kartoffeln.“[6]

Die Zeit des Hungerns begann, und die der „Schlümmen"“. Zuteilungssystem und Warenversorgung unterschieden sich gründlich vom heutigen Einkaufen. Jedes Familienmitglied erhielt eine Lebensmittelkarte.. Es gab sie von unterschiedlicher Art, zum Beispiel für Kleinkinder, für „Otto-Normalverbraucher“ oder für Schwerarbeiter. Auch gab es eine Reihe von Zusatzkarten. Sie alle mussten nach Erhalt mit Name und Anschrift des Besitzers versehen werden. Der Verlust von Lebensmittelkarten war ein großes Unglück, denn diese waren nicht übertragbar, und es gab keinen Ersatz.

Die auf der Karte aufgeführten Waren wurden für sogenannte Zuteilungsperioden in den Läden bereitgehalten. Beim Einkauf zum behördlich festgelegten Preis wurden, wie bei der abgebildeten Karte zum Teil schon geschehen, die Abschnitte, die Art und Menge der Waren angaben, beim Kauf mit einer Schere abgeschnitten und verblieben beim Kaufmann. Nicht immer waren die aufgeführten Waren in ausreichender Menge vorhanden, und manchmal gab es etwas ohne Marken, was sich wie ein Lauffeuer herumsprach. Wir gingen dann nicht zu unserem kleinen Laden in Homfeld, sondern nach Innien, reihten uns in die Warteschlange ein und hofften, dass auch wir noch etwas abbekämen. Mehrfach habe ich meine Mutter bei solchen Gängen begleitet und auch ihren Platz in der Warteschlange eingenommen, wenn sie zwischendurch etwas anderes zu erledigen suchte.

Für größere Anschaffungen, zum Beispiel für ein Kleidungsstück, musste man einen „Bezugsschein" beantragen und hoffte, dass man das Benötigte auch in absehbarer Zeit zugeteilt bekam.

Die Folgen dieser reglementierten Wirtschaft stehen in jedem Geschichtsbuch: Viele Waren verschwanden vom Markt, wurden gehortet, und man versuchte, sie auf dem Schwarzmarkt zu bekommen, wo die weiterhin gültige Reichsmark ihren wahren Wert, besser Unwert, zeigte und die harte Währung die Zigaretten der Sieger waren, die „Camel“ oder die „Philipp Morris“. Einen schwarzen Markt gab es im kleinen Homfeld nicht, aber auch hier wurde getauscht und organisiert, wie es damals hieß, und ausgehungerte Städter versuchten, bei Hamsterfahrten von den Bauern Lebensmittel einzutauschen, was selbstverständlich verboten war, denn auch die bäuerliche Wirtschaft unterlag einem System der reglementierten Erfassung und Ablieferung der Produktion. Schwarzschlachtungen fanden meist zur Nacht unter Ausschluss unerbetener Zeugen statt, das deutsche Volk war auf den Stand der Naturalwirtschaft zurückgefallen.

JÄGER UND SAMMLER

Immer, wenn es Spätsommer wird, werde ich unruhig. Es zieht mich unwiderstehlich in den Wald. Ich setze mich aufs Rad und fahre „in die Pilze“. Noch von unterwegs rufe ich meine Frau an, um ihr die Menge der Beute oder die Ergebnislosigkeit meines Sammelns mitzuteilen, damit sie entweder bei einem gut gefüllten Korb Nachbarn einladen kann oder sich darauf einrichtet, dass es etwas anderes als die erhofften Pilze zu essen geben muss.

Was treibt mich zu diesem Tun? Ist es einfach die Freude an einem Ausflug in die Natur, ist es der Spaß des Suchens und Findens, oder ist es das gemeinsame Zubereiten und Essen eines leckeren Pilzgerichts? Es ist viel mehr als das. Es ist die in Hungerszeiten entwickelte Gewohnheit, als Sammler wie zu Zeiten der Anfänge menschlichen Lebens das zu suchen, was die Natur uns schenkt, um überleben zu können.

Das waren einmal die Pilze, die in den Wäldern, die Homfeld umgeben, reichlich wuchsen. So zogen Großmutter, Mutter, meine Schwester und ich los, mit Körben bewaffnet. Großmutter und Großtante kannten sich hervorragend mit Pilzen aus, und wir Kinder lernten von ihnen schnell, zwischen wohlschmeckenden, essbaren oder gerade noch genießbaren Pilzen zu unterscheiden, und denen, die man nur einmal isst.

Wir waren nicht die einzigen, die Mutter Natur als Nahrungsquelle wiederentdeckt hatten. Da war es wichtig, dass man anderen nicht aus Versehen die Stellen, wo viele Pilze wuchsen, verriet. Traf man fremde Pilzsammler im Wald, so galt es, Haken zu schlagen, sie von unserer Spur abzulenken und schließlich ganz abzuschütteln. Stellen, wo es Steinpilze oder Pfifferlinge gab, wurden als Geheimnis gehütet und nur besonders vertrauenswürdigen befreundeten Personen mit einem Schweigegelöbnis mitgeteilt.

Die gesammelten Pilze wurden entweder gleich verzehrt oder eingeweckt, was beim Mangel an Gläsern und Weckringen schwierig war, daher oft auch getrocknet. Dann durchzog ein Gewirr von Zwirnsfäden, auf denen die Pilze aufgereiht wurden, unsere Küche. Auch die Beeren, die die Natur wachsen ließ, wurden gesammelt. Hier war die Mithilfe von uns gelenkigen Kindern mit Jungen, scharfen Augen besonders wichtig. Ich pflückte manche Beere, die für die Erwachsenen unerreichbar waren. Es wanderten Himbeeren, Brombeeren, Blaubeeren und Fliederbeeren in Schüsseln und Milchkannen. Letztere konnten mit einem Deckel verschlossen werden und hatten einen Henkel zum Transportieren, kurzum, ein ideales Sammelgefäß. Als letzte Beerenart, fast schon im Winter, gab es Schlehen, wegen ihres sauren Geschmacks ‚Muultrecker" genannt.

Aßen wir die Beeren als wichtige Vitaminquelle nicht gleich, so wurden sie eingekocht und zu Marmelade, Gelee oder Saft verarbeitet, was beim herrschenden Zuckermangel nicht einfach war. Meistens standen auf unserem Herd nach dem Sammeln Töpfe, worin Beeren immer wieder aufgekocht wurden, um sie vor dem Verderb zu bewahren. Ihr Duft kitzelte dann unsere Nasen und verführte uns Kinder zu Topfguckerei und zum Naschen. Wir waren als Sammler erfolgreich, meine Versuche als Jäger dagegen schlugen fehl. In meinen primitiv gelegten Schlingen wollte sich kein Hase verfangen. Einmal überraschte ich auf dem Boxberg eine Wildente beim Brüten, doch sie flog erschreckt davon. Die Eier aber trug ich stolz nach Hause; sie erwiesen sich jedoch als ungeeignet zum Verzehr, da sie schon stark angebrütet waren. Mehr Glück hatte ich, als ich ein anderes Mal einige Hühnereier im Gras auf einem der umliegenden Bauernhöfe entdeckte. Ich betrachtete sie als herrenloses Gut und brachte sie rasch Hause. Meine Großmutter, als Pastorenwitwe in Ehrfurcht vor den zehn Geboten lebend, fragte nicht, woher ich die Eier hätte, und sagte auch nicht in vorwurfsvollem Ton: "Walter, du sollst nicht stehlen!" Nein, sie sagte etwas ganz anderes, nämlich: „Bring mehr davon!“.

So wie wir unsere kargen Lebensmittelrationen mit den Gaben der Natur wie Jäger und Sammler längst vergangener Zeiten aufzubessern suchten, so hielten es viele andere Dorfbewohner auch, vor allem die Flüchtlinge. Heute bin ich dankbar, gelernt zu haben, einen Champignon von einem Knollenblätterpilz unterscheiden zu können, auch wenn meine Lehrmeister Not und Hunger waren.

PFERDEÄPFEL

Der Traktor, plattdeutsch Trecker genannt, war zu meiner Kinderzeit natürlich längst erfunden und stand bei vielen Bauern i in der Scheune. Ein Trecker frisst Dieselöl und entlässt durch seinen Auspuff Abgase. Doch Kraftstoff war eine rationierte Kostbarkeit. Das Pferd wurde wieder zum wichtigsten Arbeitstier in der Landwirtschaft.

Ein Pferd frisst Hafer und Gras, im Winter ihm als Trockenfutter unter der Bezeichnung „Heu“ vorgesetzt, und entlässt als Produkt der tierischen Verbrennung Äpfel, wegen ihrer Form, nicht wegen ihres Geschmacks so genannt. Diese waren, wenn sie auf Wege und Straßen fielen, für viele ein Grund zur Freude. Es freuten sich die Pferde selber, wenn sie ihr Geschäft verrichtet hatten und erleichtert weitertrotten konnten.

Es freuten sich die Spatzen, die die dampfenden Äpfel als kulinarische Leckerbissen schätzten, in denen unverdaute Getreidekörner lockten. Es freuten sich die Dorfkinder, die, anders als Kinder in der Stadt, zu den Ausscheidungen von Tieren in einem unverkrampften Verhältnis stehend, die Pferdeäpfel zur Winterszeit als vorgeformte Bälle nutzten, die, mit einer leichten Hülle aus Schnee umgeben, die den wahren Kern verbarg, bei einem Treffer eine erstaunliche Wirkung zeitigten. Ein leicht gefrorener Pferdeapfel verursachte einen härteren Treffer als ein weicher Schneeball. War er dann noch so beschaffen, dass er sich beim Aufprall zerlegte und das Innere des Wurfgeschosses zutage kam, entlockte das dem getroffenen Opfer nicht nur ein schmerzerfülltes „Au“, sondern auch ein angeekeltes „Igitt“. Die Spuren des Pferdeapfels auf der Kleidung führten, wenn sie zu Hause von den Eltern entdeckt wurden, zu peinlichen Fragen. Petzte das getroffene Kind nun den Namen des Übeltäters, so setzte es bei dem eine Tracht Prügel. Trotzdem, das Werfen mit Pferdeäpfeln war ein beliebter Wintersport der Dorfjugend mit einem hohen Unterhaltungswert für alle Beteiligten.

Es freute sich über‘ Pferdeäpfel nicht zuletzt meine Mutter. Hatte ein Pferd seine Ausscheidungen auf dem Straßenabschnitt vor unserem, also Tante Maaßens Haus, hinterlassen, kam meine Mutter eilends mit Blechschaufel, Handeule und Eimer angelaufen, um sich die wertvollen Äpfel zu sichern. Diese dienten als Dünger in „Unserem Gartenstück bei Tante Maaß, doch die damit verwöhnten Tomaten erwiesen sich als merkwürdig undankbar. Zwar schossen sie kräftig in die Höhe, anscheinend freudig erregt über die satten Nährstoffgaben, doch weigerten sie sich anschließend, viele rote Früchte auszubilden. Insgesamt blieben die Versuche, uns mit gärtnerischen Bemühungen außer den Lebensmittelrationen und dem Sammeln von Pilzen und Beeren eine weitere Nahrungsquelle zu erschließen, im Ergebnis bescheiden. Meine Mutter klagte ratsuchend ihren Kummer dem schon recht betagten Ehepaar Steen, das in einem kleinen Nachbarhäuschen rechts von uns wohnte und dessen Tomatenpflanzen offensichtlich besser gediehen.[7]

Sie erhielt folgende Antwort: „Tja, Frau Doktor Isernhagen, hätten Sie uns älteren Leuten nicht immer mit ihren jungen Beinen die meisten Pferdeäpfel vor der Nase weggeschnappt, dann hätten wir Ihnen auch gesagt, wie das mit der richtigen Düngung ist. Allzu viel ist ungesund. Das vertragen die Pflanzen nicht.“ Meine Mutter war einsichtig und gelobte Besserung, denn der Kampf zwischen Starken und Schwachen, der nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten zum weltbeherrschenden Aufstieg des „arischen Herrenmenschen“ hatte führen sollen, war im Krieg gerade kläglich gescheitert und sollte ihrer Ansicht nach nicht in der Nachkriegszeit zu einem Lebenskampf unter „Volksgenossen“ um Pferdeäpfel führen.

BLEUMS

Die Sprache der Erwachsenen ist für Kinder häufig etwas Merkwürdiges. Man hört zwar verständliche Laute, doch was bedeuten nun die verwendeten Wörter, und wovon ist eigentlich die Rede? Wenn man dann nachfragt, erhält man als Antwort: „Das verstehst du noch nicht. Dafür bist du noch zu klein.“ Dabei lernt man täglich im Umgang mit anderen neue Wörter hinzu. Verwendet man sie zu Hause, heißt es manchmal mit verweisend-belehrendem Ton: „Das sagt man nicht!“

Warum darf ein Erwachsener empört „Scheiße!“ ausrufen, man selbst aber nicht? Komische Welt! Als Reaktion, aber auch als Spiel entwickeln Kinder ihre eigene Geheimsprache, die Eingeweihte verstehen, die aber Erwachsenen ein Rätsel ist und bleiben soll. Sprache ist eben auch Beschwörung und magische Formel im auserwählten Kreis der Wissenden. Zur Geheimsprache meiner Schwester und mir gehört das Wort „Bleum".

Der „Ble-um“, es handelt sich um ein Maskulinum, das zweisilbig zu sprechen ist, hat als Ursache seiner Entstehung mit der kargen einseitigen Ernährung zu tun, die bei vielen zu Verdauungsstörungen führte, so auch bei unserer Großmutter. Wir Kinder bemerkten, dass ihr unter offensichtlichen Leibschmerzen Gase entwichen, die sie möglichst leise und dezent zu entlassen trachtete, die sie dennoch außerordentlich übelriechend umwaberten.

Wiebke und ich, mit den ersten Spruchweisheiten von Straßenkindern vertraut, flüsterten uns verschwörerisch zu: „Salomo der Weise spricht: Laute Furze riecht man nicht, aber die leisen, die den Arsch dreimal umkreisen, eh’ sie entgleisen, diese stinken fürchterlich.“ “aut durften wir das nicht äußern, denn die Verse enthielten zwei Wörter, die, abgesehen vom Gesamtinhalt, mit Sicherheit „Das-sagt-man-nicht-Wörter“ waren, nämlich „Arsch“ und ‚furzt“.

Bei der Suche fach einer stubenreinen Vokabel für Omas Winde erhielten wir unerwartete Hilfe von einem Arzt, der gerufen wurde, als die Schmerzen, die meine Großmutter plagten, zu arg wurden. Er verwendete auf die Frage ‚Was habe ich denn nun, Herr Doktor?“ als Antwort die Bezeichnung „Bleum“. So entnahmen wir Kinder es jedenfalls der halblaut geführten Unterhaltung.

Selbstverständlich gebrauchten wir jetzt ungeniert für die von unserer Großmutter zur Erleichterung abgelassenen Leibsdünste die anscheinend medizinische Fachvokabel „Bleum“; im Plural, wenn Oma sich also mehrfach hintereinander betätigt hatte, natürlich „Bleums“. Unsere Mutter, die das bemerkte, fragte erstaunt nach, was das hieße, und wir gaben bereitwillig Auskunft. Darauf wurden wir belehrt, dass wir uns verhört hätten: Es handele sich nicht um „Bleums“, sondern die Oma leide vielmehr unter schmerzhaften „Blähungen“, ein uns bis dato völlig unbekannter Begriff. Misstrauisch gegenüber der rätselhaften Sprachwelt der Erwachsenen, blieb es unter uns weiterhin, und das bis heute, beim „Bleum“. Hatte das nicht der „Onkel Doktor“ deutlich gesagt? Und er müsste es doch schließlich wissen!

BLAUER-TASSEN-TAG

Unsere Mahlzeiten pflegten wir am Tisch unter dem einzigen Fenster unseres kombinierten ER-, Wohn- und Schlafzimmers einzunehmen. An das Gefühl eines dauernden Nicht-satt-Werdens kann ich mich nicht erinnern; Mutter, Großmutter und Großtante wird dies schon eher betroffen haben, denn sie schmälerten ihre Rationen zugunsten von uns Kindern, damit jedenfalls wir immer etwas zu essen hatten, auch wenn die Nahrung kärglich war. Ihre Sorgen, was „das tägliche Brot“ anbelangt, hielten sie von uns fern, und so verlief das gemeinsame Essen in der Regel harmonisch, außer es kam zu folgendem Dialog:

„Nein, Wiebke! Heute habe ich Blaue-Tassen-Tag.“
„Das stimmt nicht. Du warst gestern dran. Heute habe ich Blaue-Tassen-Tag.“
„Mutti, Kannst du uns helfen? Wer hat heute Blaue-Tassen-Tag?"
„Kinder, könnt ihr euch denn nicht selber merken, wer Blaue-Tassen-Tag hat?"

Worum ging es bei diesem für Nicht-Eingeweihte völlig unverständlichen Gespräch? Unser Geschirr, dessen Herkunft nach dem Verlust unserer Habe durch Ausbombung mit unbekannt ist, war unansehnlich, mit einer Ausnahme: Es gab eine hübsche blaue Tasse, die beiden, Wiebke und mir, sehr gut gefiel, die wir daher beide benutzen wollten. Um niemanden zu bevorzugen, war die Angelegenheit im Familienrat so geregelt worden, dass wir Kinder abwechselnd Blaue-Tassen-Tag hatten, auf den wir uns schon vorher freuten.

Auch sonst waren unsere wenigen Habseligkeiten schmucklos. Es gab kaum etwas, woran man sich erfreuen konnte, und auch kaum etwas, was man uneingeschränkt sein Eigentum nennen konnte, das man mit niemandem zu teilen hatte, mit wenigen Ausnahmen. Ein Foto, aufgenommen zur Kriegsweihnacht 1944, zeigt meine Schwester, wie sie eine Puppe mit Porzellankopf an sich drückt, die nur ihr gehörte, während ich stolz eine Lokomotive aus Holz in den Händen halte, die ausschließlich mein Spielzeug‘ war.

Geschenke zu Geburtstagen oder zu Weihnachten waren fast immer praktische Dinge, meistens etwas zum Anziehen, das ohnehin benötigt wurde. Ich erinnere mich aber genau einer Ausnahme. Meine Mutter war bei Eis und Schnee, die Winter der Nachkriegszeit verdienten noch ihren Namen, nach dem rund sieben Kilometer entfernten Hohenwestedt gelaufen, um irgend etwas zu finden, das sie uns Kindern unter den Weihnachtsbaum legen konnte. Dort fanden wir für jeden einen kleinen Holzhocker vor. Das war das Einzige gewesen, was meine Mutter hatte bekommen können. Dies Geschenk hatte trotz seines geringen Wertes einen großen Vorteil: Beide Hocker waren gleich, beide Kinder hatten etwas bekommen, und somit war es ausgeschlossen, dass auch noch ein Kleiner-Hocker-Tag eingeführt werden musste.

KLAPPERSANDALEN

Reichskleiderkarte 1940
Reichskleiderkarte 1940[8]

Ich stelle mir vor, ich sollte bestimmten Lebensabschnitten Geräusche zuordnen, die durch das in der entsprechenden Zeit vornehmlich getragene Schuhwerk verursacht wurden. Dann unterschieden sich die folgenden Zeiten vielleicht so: Während des Krieges herrschte das laute, harte Auftreten im Gleichschritt marschierender Knobelbecher-Kolonnen vor.

Das Schleichen der „Tango-Jünglinge“ auf ihren Kreppsohlen war dagegen Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre kaum zu hören. Abgelöst wurde es durch das energische, ein wenig angeberische Klacken der mit Stoßeisen an Spitzen und Hacken versehenen Treter der „Halbstarken“. Heute ist die junge Generation am Schlurfen übergroßer Turnschuhe, deren Schnürsenkel nachlässig oder gar nicht gebunden sind, erkennbar. Jeder soll ja merken, dass sich jetzt ein besonders „cooler“ Trebegänger nähert.

Wie war es nun während meiner Kindheit in Homfeld? Das typische Geräusch der Nachkriegszeit war das Klapp, Klapp, Klapp der, daher haben sie ja schließlich ihren Namen, Klappersandalen. Klappersandalen waren ein Produkt der Zeit: Sie waren einfach und billig herzustellen. Sie bestanden aus einer Holzsohle, in der Luxusausführung aus gesondert gefertigter Sohle und Hacke, versehen mit einem Riemenwerk aus Leder oder grobem reißfestem Stoff, wodurch das klappernde Etwas mit Fuß und Knöchel verbunden wurde. Sie ähnelten den Sandalen römischer Legionäre. Hatten sich die Deutschen im Krieg noch mit rhythmisch dröhnendem, bedrohlich klingendem Schritt genähert, gemäß dem Motto „Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt“, so kündigten sie nun, nachdem alles in Scherben gefallen war, besiegt und hungernd, ihr verschämtes Kommen mit entnervendem Geklapper an.

Allerdings hielt dieses Geräusch nicht das ganze Jahr an. Bei entsprechend warmen Temperaturen, spätestens im Sommer, entledigten sich viele, in Homfeld als einer Art kollektiver Befreiung meist die gesamte Dorfjugend, des Schuhwerks, und man ging barfuß, auch aus Gründen der Sparsamkeit. Nach einer kurzen herbstlichen Übergangszeit erneuten Geklappers schlüpfte man im Winter in festes Schuhwerk, sofern man welches hatte, denn passende und haltbare Schuhe waren eine ausgesprochene Kostbarkeit. Neue gab es, ebenso wie Kleidung, nur auf Bezugsschein, und dann in miserabler Qualität. Schuhe wurden daher gepflegt, geflickt, mit Riestern versehen, von Eltern an Kinder und von älteren Geschwistern an jüngere weitergereicht. Sie wurden aufgeschnitten, waren sie zu klein, und mit Papier ausgestopft, wenn sie zu groß waren, bis sie halbwegs passten. Auch die restliche Kleidung war mit heutigen „Markenklamotten“ nicht vergleichbar.

Ich beschreibe einmal, was mich von unten nach oben im Laufe des Jahres gegen unsere oft doch recht rauhe Witterung schützte. Füße und Beine steckten im Sommer in gar nichts oder in Socken und Klappersandalen, im Herbst in wollenen Kniestrümpfen, selbstgestrickt, im Winter schließlich in langen scheußlichen brauen Strümpfen, wurstartig anzusehen, die mit Knöpfen, die ewig drückten, an einem Leibchen befestigt wurden. Wie ersehnte ich die ersten Strahlen der Frühlingssonne, damit ich diese Folterinstrumente wieder ablegen durfte!

Unterwäsche kratzte unangenehm, da sie häufig ebenfalls selbstgestrickt war. Hemden und Pullover stammten auch zumeist aus eigener Herstellung. Meine Tante Else war Meisterin im Stricken und versorgte die gesamte Familie mit ihren Produkten. Passte irgendetwas nicht mehr, wurde es aufgeribbelt, die Wolle gewaschen, aufgehängt und durchs Trocknen geglättet, danach aufgerollt, und irgendwann entstand aus etlichen Wollknäueln unterschiedlicher Farben ein neues Kleidungsstück, so dass mancher Pullover das Aussehen eines Regenbogens hatte, denn nach einer Handbreite begann, wenn damit das Wollknäuel verbraucht war, der nächste Teil in anderer Farbe, an den sich weitere wieder andersfarbige Streifen anschlossen. Hosen und Jacken waren natürlich selbst geschneidert und im Schnitt auf Zuwachs berechnet, denn „der Junge wächst ja noch“, und umgaben mich mit einer leicht schlötternden Hülle. Viele Leute nutzten noch die Restbestände von Zeltbahnen und Uniformen der Großdeutschen Wehrmacht, so dass eine harmlose Schulklasse mehr eine“ merkwürdig gekleideten paramilitärischen Formation als einer Gruppe lerngieriger Kinder ähnelte.

Jacken und Hosen wurden, wenn sie zu klein geworden waren, in Heimarbeit vergrößert, Beine und Ärmel verlängert. In keinem Fall wurde etwas vergeudet oder weggeworfen. Es gab genug andere, die sich über Stoffreste freuten und daraus etwas Neues herstellten. Außerdem benötigte man auch selber die Reste für Flicken an besonders beanspruchten Stellen, wie Ellbogen oder Knien, was den Vorteil hatte, dass sich meine Mutter nicht über ein Loch in der Kleidung aufregte, denn ein „weiterer Flicken“ fiel nicht weiter auf, sondern verlieh dem Kleidungsstück das Flair eines kostbaren Unikats. Handschuhe, Schal und Pudelmütze mit „Bibi“, so nannten wir den kleinen Quast an der Spitze, vervollständigten meine Kleidung.

Im Winter, und der Winter 1946/47 war einer der strengsten des Jahrhunderts, zog ich zum Spielen draußen so viele meiner Kleidungsstücke übereinander an, bis ich halbwegs warm verpackt war, so dass ich mir wie eine Zwiebel vorkam, wenn ich mich, zu Hause angekommen, meiner Hüllen wie Schalen entledigte. Dann sehnte ich die wärmenden Strahlen der Sonne herbei, damit uns Kindern erlaubt wurde, mit dem fröhlichen Geklapper unserer Klappersandalen ein neues Frühjahr zu begrüßen.

DER BUSCHHACKER IST DA

Im Frühjahr scholl außer dem Geklapper von Holzsandalen ein weiteres Geräusch durchs Dorf. Knack! Knack! Knack! So ertönte es von irgendeinem der Bauernhöfe. Die Dorfjugend stieß den Jubelruf aus: „Der Buschhacker ist da!“

Hatten wir Kinder die Quelle des Lärms gefunden, so standen wir staunend vor einer selbstfahrenden Dampfmaschine, die von ihrem Standplatz vor einem Schuppen mit lautem Tuckern ihre Energie über einen sausenden Treibriemen auf eine Hackmaschine übertrug. Diese wurde mit dem Geäst der typisch schleswig-holsteinischen Knicks, mit denen Äcker und Wiesen eingefriedet sind und die in regelmäßigen Abständen abgeholzt, eben „geknickt“ werden, gefüttert. Zwei Walzen zogen Äste und Zweige in den gierigen Schlund eines Trichters, dann wurden sie von scharfen Haumessern in Stücke von der Länge einer Handspanne zerhackt. Die kleingeschlagenen Teile wurden im hohen Bogen von der Hackmaschine ausgespuckt und in einer Scheune als Brennholz gelagert. Kamen wir mit unseren neugierigen Nasen dem schwingenden Treibriemen zu nahe oder wollten gar bei der Fütterung der Maschine helfend mit anpacken, so ertönte der warnende Ruf der Arbeiter: „Wech von de Maschien, Jungs! Or bruk ji de Finger ni mehr? De Metzen sünd scharp.“

Ab und zu fiel ein Korb Buschholz für unsere Familie ab und war hochwillkommen, denn wir kochten und heizten fast ausschließlich mit Holz, da die Zuteilung von Briketts eine Seltenheit war, wenn sie überhaupt erfolgte. Bei der Versorgung mit Brennmaterial musste wie bei der Ernährung Mutter Natur gnädig helfen. Wir sammelten im Wald Tannenzapfen, die erst getrocknet werden mussten und dann, in Säcke gefüllt, in der Küche in einer Ecke gelagert wurden.

Gutes Feuerholz hatten nur die Bauern, die in der Regel auch Wald besaßen. Nachdem sie Holz geschlagen hatten, begannen rege Tauschgeschäfte mit denen, die dringend Holz benötigten. Unsere Familie konnte Zigaretten und manchmal Rohkaffee bieten. Beides war ein wertvolles Tauschgut, denn richtige Zigaretten, auch wenn es keine „Amis“ waren, und echten Kaffee zu genießen, das war für die Bauern doch etwas anderes, als den selbst angebauten Knaster Marke „Siedlerstolz" zu paffen oder „Muckefuck", so nannte man den Ersatzkaffee, zu trinken.

Die Zigaretten stammten von den Raucherkarten der drei Erwachsenen, nämlich Oma, Tante und Mutter, die selber nicht rauchten, während der Kaffee aus Brasilien kam, wohin zwei Brüder meines Vaters, Onkel Gustav und Onkel Otto, schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgewandert waren. Sie erinnerten sich barmherzig ihrer zahlreichen Verwandtschaft, so auch unserer Familie, und schickten uns ab und zu ein Paket, dessen wichtigster und sehnsüchtig erwarteter Inhalt der besagte Rohkaffee war, der vor dem Mahlen natürlich noch geröstet werden musste, was in einer Bratpfanne geschah.

Das eingetauschte Holz wurde nicht zerkleinert geliefert, sondern lag nach dem Abladen als großer Haufen von Stämmen und Klötzen hinter der Auffahrt am Garten, worauf Mutter und Großmutter wochenlang mit dem Zersägen und anschließenden Zerhacken mit Axt und Beil beschäftigt waren. Die Scheite wurden dann kreisförmig zu einem Turm aufgeschichtet und mit einer Plane gegen Nässe geschützt. Es lagerte aber auch immer ein Holzvorrat in der Küche.

Unser Herd wurde zum Kochen vor allem mit Tannenzapfen beschickt, was einen angenehm würzigen Duft verbreitete. Anders war es in unserem Wohn- und Schlafraum. Der Kamin weigerte sich beharrlich, richtig zu ziehen, was wohl am Schornstein lag. Die Heizwirkung war gering, die Rauchentwicklung dagegen beträchtlich, so dass meine Mutter, wenn wir, bläulich umnebelt, im Winter dicht an das offene Feuer heranrückten, schimpfte: „Am Schienbein kriegt man Brandblasen und am Hintern Frostbeulen.“

Da wegen Kohlemangels in den ersten Nachkriegsjahren häufig Stromsperre war, die Uhrzeiten wurden der Bevölkerung vorher mitgeteilt, war der Schein des Feuers sobald es dunkelte, auch oft unsere einzige Lichtquelle, so dass wir, wenn wir uns, in wärmende Decken gehüllt, vor dem Kamin versammelten, einer Horde von Urmenschen ähnelten, die sich vor dem flackernden Schein des Lagerfeuers ihrer Wohnhöhle zusammendrängte, bis wir uns schließlich fröstelnd in unsere feuchtkalten Betten verkrochen.

MÄUSEHOCHZEIT

Hätte jemand abends bei uns durchs Fenster gelugt, hätte er ab und zu meine Großmutter vor dem flackernden Kaminfeuer bei einer heutigen Menschen seltsam anmutenden Beschäftigung gesehen. Aufmerksam, bebrillt, damit ihr nichts entginge, beugte sie sich über ein Kleidungsstück, ließ es durch die Hände gleiten, wendete es, schnappte dann plötzlich mit der rechten Hand zu, rieb etwas zwischen Daumen und Zeigefinger, um es schließlich mit zufriedenem Schmunzeln mit den Nägeln zu zerdrücken. Was machte Oma bloß?

Für damalige Zeitgenossen war der beschriebene Vorgang eine vertraute Handlung. Oma war auf Jagd, nicht auf Großwild, nein, auf Flöhe. Dazu durchsuchte sie ihre Unterwäsche, und wichtig für den Erfolg, so erläuterte sie ihre Jagdmethode, war: "Wenn du einen Floh gefangen hast, musst du ihn erst ordentlich zwischen den Fingern zwirbeln, damit er betäubt wird, sonst hüpft er dir wieder weg, bevor du ihn knacken kannst.“

Die mangelhaften Möglichkeiten, den eigenen Körper und die Wohnung sauber zu halten, bescherten den Menschen viele Plagegeister, vor allem Flöhe und Läuse. Es fehlten Waschgelegenheiten wie Bad oder Dusche, ebenfalls Waschmittel; und noch heute denke ich mit Grauen an die raue graufarbene Nachkriegsseife zurück, mit der man eher die Haut vom Körper schmirgeln als sich gründlich waschen konnte.

Bei juckenden Flohstichen kratzte man sich und ging, wenn es zu arg wurde, wie Oma auf Jagd; bei Läusebefall wurde uns Jungen, auch den Männern, eine Glatze, „kahle Bombe“ genannt, geschoren, um den unerwünschten Bewohnern das schützende Dickicht des Haarschopfes zu nehmen. Frauen und Mädchen opferten nur die Zöpfe, und mit häufigem Haarewaschen sowie einem Läusekamm mit vielen. engstehenden Zähnen wurde die Plage bekämpft. Als Trost für den Haarverlust hatten Mädchen, sofern sie zur Schule gingen, schulfrei, um zu vermeiden, dass ganze Klassen befallen wurden.

Schlimmer als Flöhe und Läuse waren Würmer, denn dann teilte man seine wenigen Kalorien mit sehr anspruchsvollen Gästen. Faden-, Spul- und, was am unangenehmsten war, Bandwürmer mästeten sich auf Kosten ihres immer dünner werdenden menschliches Wirtes. Da half nur eine Wurmkur. Auch mich befielen, doch davon später, einmal diese Tierchen, und bis heute beherzige ich die mir eingeschärfte Anweisung meiner Mutter, meine Hinterlassenschaften sorgsam zu betrachten, um feststellen zu können, ob ich Würmer habe oder nicht. Leider ermöglicht die Form unserer modernen Toilettenschüsseln nur selten dieses angelernte Studium der eigenen Exkremente.

Wir hatten aber nicht nur Bewohner an uns und in uns, sondern teilten unsere Wohnung mit einer munteren Mäuseschar. Die kleinen Nager hausten als Großfamilie unter den Fußbodenbrettern, deren Löcher und morsche Stellen unser Beuteperserteppich nur unzureichend verdeckte. Abends, vor allem im Winter, wurden unsere Mäuschen besonders keck. Sie verließen dann den Untergrund, huschten vor dem wärmenden Kaminfeuer hin und her und betrachteten uns Menschen neugierig mit ihren Knopfaugen. Luftangriffen in Gestalt geschleuderter Hausschuhe und Pantoffeln entkamen sie pielend, flüchteten darauf unter die schützenden Dielen und rächten sich für die Attacken durch empörtes Gepiepse und lautes Rascheln. Meine Mutter meinte dann: „Jetzt feiern sie Hochzeit.“

Damit schien sie recht zu haben, denn trotz beharrlicher Verfolgung wurden wir ihrer nicht Flerr. Es gab immer neuer Mäusegenerationen, auch wenn wir ihnen mit Fallen rachstellten. Im Plattdeutschen heißt es: „Mit Speck fang’s Müüs.“ »peck hatte wir nicht, in den Mäusefallen steckten als Lockmittel a'enfalls karge Schwarzbrotbrocken. Doch das Naschen davon verschmähten unsere wenig verwöhnten Nachkriegsmäuse nicht und bezahlten des öfteren dafür mit ihrem Leben. Dank der häufigen Hochzeiten mit dem Ergebnis reichlichen Kindersegens führten unsere Vernichtungsfeldzüge nicht zu ihrer völligen Ausrottung. So lebten wir - weiter in einer unfreiwilligen Symbiose mit ihnen.

DAS TAL DER OSTERHASEN

Irgendwie brachte es meine Mutter zu Ostern immer fertig, dass es Ostereier gab, obwohl Eier auf unserem Speiseplan sonst eher selten waren. Bunt bemalt wurden sie in unserer Wohnung versteckt, denn draußen im Garten hätten sie zu schnell unerwünschte Liebhaber gehabt. So beschränkte sich das Suchen auf unseren eng begrenzten Raum, was das Finden erleichterte. Als Überbringer der Eier wurde uns Kindern der Osterhase genannt, ähnlich wie ja zu Weihnachten der Weihnachtsmann mit seinen Gaben kam.

Der war bei mir allerdings weniger beliebt, denn ich musste artig gewesen sein, sonst drohte er mit seiner Rute, und ich sollte auch noch beschwerlich zu lernende Gedichte aufsagen, ehe er einem großen Sack seine Geschenke entnahm. Die fielen insgesamt recht kärglich aus, und von mir über meine Mutter als Mittlerin dem Weihnachtsmann mitgeteilte Wünsche wurden von ihr oft so beschieden: „Das kann der Weihnachtsmann dir leider nicht bringen. Das hat er auch nicht.“ So geartete Lieferschwierigkeiten verringerten natürlich sein Ansehen, und auch als Instrument der Erziehung taugte er nur begrenzt, da er ja nur das brachte, was ohnehin benötigt wurde, und er bei ausgefalleneren Wünschen schlichtweg versagte. Da war der Osterhase doch ein anderer Kerl! Auf ihn war Verlass. Trotz meiner kindlich-naiven Bereitschaft des Glaubens an seine Existenz muss ein Rest Skepsis, verstärkt durch die Behauptung älterer Spielgefährten, Weihnachtsmann und Osterhase seien reine Erfindungen, es gäbe sie gar nicht, vorhanden gewesen sein. Denn ich fragte schließlich: „Wo wohnt der Osterhase denn?“

Meine Großmutter erbot sich, mir seine, oder richtiger, ihre Behausung zu zeigen, denn es gäbe mehrere Osterhasen, da sie so viel zu tun hätten, dass es ein einzelner gar nicht schaffen könne; ein Argument, das mir einleuchtete. Sie nahm mich an die Hand, und wir gingen an einem schönen, warmen Frühlingstag zum Boxberg. Erst führte der Weg bergab aus dem Dorf hinaus; rechts sah man über Wiesen hinweg, links kamen wir an Fischteichen vorbei, und dann begann der Aufstieg durch dichten Tannenwald, der von der Oma nebenbei dem Weihnachtsmann als Wohnort zugewiesen wurde. Danach ging es einen sandigen Weg weiter hinauf, anfangs recht steil, dann, nachdem sich der Wald gelichtet hatte, - fast eben durch eine mit einzelnen Birken bestandene Heidelandschaft. Wir erreichten in strahlendem Sonnenschein den Gipfel, markiert durch einen Findling, und hatten eine wunderschöne Aussicht auf Felder, Wiesen, Äcker, die Buckener Au, die Heider Bahn und die umliegenden Ortschaften, deren Namen Oma mir nannte.

Und weit, weit weg, dort, wo in der Ferne sich etwas wie ein Tal erahnen ließ, so sagte sie, sei das Tal der Osterhasen. Nun, da ich mit eigenen Augen sah, wo sie wohnten, war meine Bereitschaft, an eierbringende Hasen zu glauben, zur Gewissheit erhärtet. Ich atmete tief den Duft der erwachenden Frühlingsnatur, die mich verzauberte, ich erblickte ihr Tal, wunderschön im Glanz der Sonne. Es war weit weg, aber es war da, es gab es, auch wenn es in für mich unerreichbarer Ferne lag.

WALTÜR

„Waltür!“

Wenn meine Mutter mich rief, tat sie das anders als meine Freunde und Spielkameraden, die meinen Vornamen norddeutsch-breit zu „Wallä“ verformten, unter Weglassung des störenden „T“ in der Mitte, des „R" am Ende und unter Umlautung des „E“ in ein „Ä". Msine Mutter dagegen zog die beiden Silben in die Länge und machte aus dem „E“ ein durchdringend klingendes „Ü“, von dem sie sich wohl mehr alarmierende Wirkung versprach.

Anfangs, als kleines Kind, mach:= ich meine ersten Erkundungan Homifelds, wenn nicht an der Hand, so doch in Begleitung von Mutter und Großmutter. Etwas älter geworden, verließ ich unser Zuhause zum Spielen selbständig, wenn auch unter der Auflage, mich nicht allzu weit zu entfernen, besser noch, möglichst in Rufnähe zu bleiben. Auf der anderen Straßenseite wohnte „Tante“ Marie Blöcker, deren Mann während des Krieges an Lungenentzündung gestorben war, mit ihren Kindern Jürgen, Margret und Elisabeth, auf Plattdeutsch „Lieschen“, wobei das „Sch“ als weicher Zischlaut erklang, alle ungefähr in meiner Schwester oder meinem Alter. Mit den dreien ließ sich wunderbar in dem zum Blöckerschen Hause gehörenden Garten spielen, vor allem konnte man in einer schön gewachsenen Rotbuche klettern, deren Äste in so geringem Abstand aus dem Stamm wuchsen, dass wir wie auf einer Leiter in den Gipfel hinaufstiegen; ein ausgezeichnetes Versteck beim Spielen, denn hier war man völlig vom Laub verborgen.

Staunend standen wir oft vor einem Gedenkstein unter einem Baum mit mächtiger Krone, wo voller Stolz verkündet wurde, dass der Hof schon 400 Jahre alt sei.[9]

Noch interessanter war es, wenn wir einen Anbau des Hauses, ehrfurchtsvoll „Garage“ genannt, betreten durften, wo wir staunend vor dem Auto von „Onkel“ Rudolf, einem Bruder von „Tante“ Marie, standen. Zwar fuhr das Fahrzeug mangels Benzin nicht, trotzdem war es Gegenstand höchster Bewunderung.

„Waaltüür!!!“

Nun rief meine Mutter doch schon wieder, und wenn sie die Vokale meines Namens noch weiter als beim ersten Ruf dehnte und auch die Lautstärke erhöhte, signalisierte sie damit, es sei doch wirklich langsam erwünscht, dass ich nach Hause käme. Aber dem stand meistens natürlich doch noch so viel im Wege. Auf dem Bauernhof, zu dem das Blöckersche Haus als Altenteilerhaus gehörte und den „Onkel“ Paul Ratjen, er war ein Bruder von „Tante“ Marie Blöcker, mit seiner Frau Marie, für uns „Tante Mimi“, bewirtschaftete, gab es ja noch so viel zu entdecken und zu durchstöbern. Da wären der Schuppen mit Brennholz, der Hühnerstall, der danebenliegende Garten, der Schweinestall, weitere Scheunen und Schuppen mit Kutsche, Erntewagen, Pflügen, Walzen und Eggen, und dann das eigentliche Bauernhaus, ein mächtiger Bau, in dem Kühe und Pferde ihre Boxen hatten, wo es aber auch einen Wohnteil gab. Auf dem Heuboden ließ sich noch im kalten Winter Versteck spielen, wobei wir Höhlen und Gänge ins duftende Heu wühlten.

„Waaaltüüürt!!!“

Die Stimme meiner Mutter erreichte beim dritten Ruf, was die Dauer des ausgestoßenen Tones und die erzeugte Phonzahl anbelangte, nicht ganz die Leistungsfähigkeit einer Luftschutzsirene bei Fliegeralarm, ein mir aus dem Krieg noch vertrautes Geräusch, das ich instinktiv mit Gefahr und Schutz-Suchen verband, war aber ähnlich durchdringend und deutlich von warnender Ungeduld geprägt, falls ich frecherweise mich unterstehen sollte, dem Gluckenruf meiner Mutter nicht zu folgen. Es war wohl besser, wenn ich jetzt nach Hause trabte. „Onkel“ Pauls Bauernhof war morgen ja auch noch da.

OB ER ETWA DUMM IST

Die Homfelder Schule
Zeugnisheft der Schule Homfeld

„Das Mädchen macht sich doch so gut. Und er..."

„Ja, das kann man wohl sagen. Er zeigt viel weniger Interesse.“

„Nicht nur das. Er tut sich auch viel schwerer. Ob er etwa dumm ist ... “

Die Unterhaltung zwischen Großmutter und Mutter war zwar nur halblaut geführt worden, ich hatte auch nicht alles mitbekommen, das Wesentliche aber doch. „Das Mädchen“ war meine Schwester Wiebke, „er“ war ich, und die merkwürdige Frage, ob ich „dumm“ sei, etwas, was mir selbst bisher an mir noch nicht aufgefallen war, anscheinend aber Grund ernsthafter Befürchtungen zu sein schien, hing mit der Schule zusammen, die ich ab 8. April 1948 besuchte. Am Ende des Krieges hatten die Wirren des Unterganges des „Tausendjährigen Reiches“ auch das Schulwesen erfasst: Schulen waren zerbombt, viele Klassen in vor Luftangriffen sichere Gebiete mit der KLV, der Kinderlandverschickung, evakuiert worden, bei oft dürftigem Unterricht, und im Winter 1944/45 fehlte auch vielfach das Heizmaterial, um Schulräume so zu wärmen, dass Kinder es dort aushalten konnten.

Nach dem Krieg bestanden manche dieser Hemmnisse fort, hinzu kam, dass viele Lehrer zur Wehrmacht eingezogen worden und gefallen waren, sich in Kriegsgefangenschaft befanden oder politisch als zu belastet galten, so dass sie nicht mehr unterrichten durften, bevor sie nicht „entnazifiziert“ waren.[10] Daher fiel in fast allen Orten der Unterricht zum Jubel der Schuljugend und zum Entsetzen der Eltern im Jahr 1945 völlig aus und wurde erst mühsam ab Herbst 1945, Anfang 1946 wieder aufgenommen. So auch im Homfeld.

Eltern, die die Zeit und Befähigung hatten, ihre Kinder selbst zu Hause zu unterrichten, taten es, doch meistens halfen die schulpflichtigen Kinder mit beim Überlebenskampf, und nicht selten wuchsen Kinder ohne Eltern, ohne Unterricht und ohne Erziehung, sich selbst überlassen, auf. Meine Schwester, im Jahre 1940 geboren, Ostern 1947 eingeschult, hatte sich schon vorher als hochbegabtes Mädchen für das, was die Schule vermittelte, interessiert, konnte schon bei ihrer Einschulung lesen, schreiben und rechnen, war damit in der ersten Klasse völlig fehl am Platze und übersprang diese nach einigen Wochen mit dem Einverständnis der Schulbehörde.

Ich war da anders. Der erste Schultag, für viele ein Ereignis, an das sie sich ein Leben lang erinnern können, hat in mir keinerlei dauerhafte Eindrücke hinterlassen, und mich trieb, verspielt wie ich war, auch keine Lernbegeisterung in Homfelds Dorfschule, vielmehr beklagte ich den Verlust der Freiheit, der mich nun erwartete. "Das einzige, was sich mir eingeprägt hat, ist die Beschaffenheit meiner Schreibtafel, mit der ich eingeschult wurde, ein typisches Nachkriegsprodukt: aus Zink, leicht verbogen, mit spitzen Ecken und scharfen Kanten, auf die in die vordere Seite Hilfslinien fürs Schreiben, in die Rückseite Quadrate als Ordnungshilfe beim Rechnen eingeritzt waren. Meine kärgliche Ausrüstung war nicht dazu angetan, mich mit Lernfreude zu erfüllen, ich beneidete vielmehr diejenigen Bauernkinder, die mit einem von älteren Geschwistern ererbten Lederranzen, einer schönen Schiefertafel mit daran an einem Band hängendem Schwamm zum Löschen, mit richtigen Griffeln und einer großen Schultüte von ihren Eltern am ersten Schultag begleitet wurden. Da standen wir nun, die Neuen, vor der Zwingburg, der Homfelder Dorfschule, die aus uns verspielten und verwilderten Rangen wertvolle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, angereichert mit notwendigen Kenntnissen zur Bewältigung des Lebens, machen sollte.

Vor dem Gebäude befand sich ein Garten, links war der Schulhof, ein einfacher Sandplatz, und dahinter gab es einen Schuppen und einen Stall. Im Hause wohnte die Familie des Schulleiters, Herrn Burmeister; Herr Zillen wohnte mit seiner Familie nach seiner Wiedereinstellung unter dem Dach. Die dritte Lehrkraft war „Fräulein“ Kauter, eine Anrede, mit der damals jede unverheiratete Lehrerin, unabhängig vom Alter, belegt wurde. Sie wohnte meines Wissens nicht in der Schule. Wir Schulkinder betraten unsere Lernanstalt von der Hofseite her und gingen durch einen Flur, wo ein an der Wand hängender ausgestopfter Eberkopf die Kleinen ängstigte, in den einzigen recht großen Klassenraum, mit vier Fenstern nach Süden. Der Klassenraum enthielt zahlreiche Bänke für uns Kinder, in zwei Blöcken aus mehreren Reihen mit einem Mittelgang geordnet. Hatten vor dem Krieg etwa 50 Schüler den Raum gefüllt, so verdoppelte sich durch dan Zuzug der Evakuierten und Flüchtlinge nun deren Anzahl. Ein Unterrichtsbetrieb war nur in zwei Schichten möglich, wobei dafür bestimmte Schüler aus den oberen Klassen bei den Kleinen als Aufsicht und Hilfe dienten. Vorne thronte über allem auf ihrem Katheder die Lehrkraft, und dort befand sich auch ein großer Ofen, der in der kalten Jahreszeit beheizt wurde. Eine Schulbank der damaligen Zeit war ein zweckmäßig konstruiertes Lernmöbel, für manche aber eher eine Verwandte der Folterbank, deren Einzelteile verdeutlichten, dass das der Schule zwangsweise zugeführte Humanmaterial dort zur Vermittlung und Aufnahme von Kenntnissen und sozialen Werten wie Disziplin, Ordnungsliebe, Fleiß, Sauberkeit, Aufmerksamkeit und sittsamem Betragen, nicht aber zum Ausruhen verweilte.

Ganz aus Holz gefertigt, gemäß der Devise „gelobt sei, was hart macht“, gab es eine durchgehende Sitzbank für je zwei Zöglinge, eine Stütze für die Füße, ein schräges Pult für Hefte und Bücher, an der Stirnseite mit einer Vertiefung zur Aufbewahrung von Schreibutensilien und in der Mitte mit einer Aussparung für ein Tintenfaß versehen, dessen Inhalt ab und zu aufgefüllt wurde und den man sich mit seinem Banknachbarn zu teilen hatte. Unter der Pultplatte befand sich ein Fach zum Ablegen des Ranzens oder der Schultasche. In solche Bänke wurden wir Erstklässler als geschlossener Lernblock in die ersten Reihen eingewiesen. Hinten hätten wir Kleinen nicht genug sehen können, und unser Lehrer Zillen konnte sich so auch besonders um uns kümmern. Die höheren Klassen saßen hinter uns. Sie kannten den Schulbetrieb schon, während wir Neuen mit einer Mischung aus Neugier und Beklommenheit der Dinge harrten, die uns hier erwarteten.

EIN - SCHLEI - DEI

Zeugnis 1949

„Ein - schlei - dei...

„Nein, das ist nicht richtig. Und dann zähl auch weiter bis zehn!“

Lehrer Zillen war sichtlich ungehalten.

„Ein - schlei - dei ...“

Danach folgte eine erwartungsvolle Pause.

„Nein, falsch!“

Es war wirklich zum Verzweifeln. Die Zornesadern auf der Stirn von Lehrer Zillen schwollen und kündeten einen durch das offensichtliche Scheitern seiner wohlmeinenden pädagogischen Bemühungen hervorgerufenen, kurz bevorstehenden Wutausbruch an, dem der dümmlich dreinblickende, etwas vierschrötig gebaute Schüler, der sich schon mehrfach vergeblich mit den Geheimnissen der Abfolge der Zahlen von eins bis zehn herumgeschlagen hatte, zu entgehen trachtete.

„Schlei“, so nannten wir ihn alle wegen seiner eigenwilligen Aussprache der Zahl zwei, wagte die einzige Möglichkeit des Entkommens vor der drohenden Strafe, den Sprung durch die geöffneten Fenster, und entschwand in die Freiheit. Es war nicht „Schleis“ erste Flucht.

Lehrer Zillen hatte es auch wirklich nicht einfach. Wir waren eine schier unüberblickbare Horde von Kindern, darunter hochbegabte wie meine Schwester und dumme oder gar lernbehinderte wie „Schlei“, interessierte und gelangweilte, aufmerksam und verträumte, und schließlich einige wenige, die den Unterricht als Veranstaltung ansahen, der man nur mit permanentem Stören und dem Anstellen von grobem Unfug etwas Würze verleihen konnte. Auch musste Herr Zillen während des Vormittags gleichzeitig die Klassen 1 — 4 in den verschiedenen Fächern unterrichten, mit Aufgaben versehen, diese nachsehen, bei Fehlern Hilfe leisten und auch noch Arbeiten schreiben, die zu korrigieren und bei der Rückgabe zu besprechen waren. Und das alles bei kärglichster Ausrüstung mit Unterrichtsmaterial und dürftiger Bezahlung. Die Klassen 5 — 8 hatten als zweite Schicht nachmittags Unterricht bei Herrn Burmeister.

Die Disziplin spielte bei derlei Schwierigkeiten eine große Rolle. Deren Anfangsgründe hatten wir Neulinge bald gelernt. Wir standen zur Begrüßung, wenn Lehrer Zillen eintrat, auf und beantworteten seinen Morgengruß. Auf unserer Bank hatten wir ruhig zu sitzen, die Hände auf das Pult gelegt und nicht etwa mit subversivem Tun darunter beschäftigt. Der Arm hatte beim Melden in die Höhe zu schnellen, ohne dass man mit den Fingern schnipste oder gar, sich vordrängelnd, „hier“, „hier“ rief. Wenn man zum Antwortgeben drankam, stand man auf und sprach klar und deutlich. War das Gesagte richtig, konnte man mit sorgsam verteiltem Lob rechnen. Falsche Antworten wurden berichtigt, schlechtes Benehmen mit einer sanften Ermahnung, einem Verweis oder einer scharfen Rüge bedacht.

Nützte aber ein verbaler Hinweis als Erziehungsmittel nicht, so schien die damalige Erziehungswissenschaft die Meinung zu vertreten, dass durch körperliche Bestrafung erzeugte Unwohlgefühle, über das Nervensystem an das verarbeitende Gehirn weitergeleitet, eine Besserung im Verhalten ertappter Übeltäter hervorrufen könne. Als weiteres Prinzip pädagogischen Handelns galt es, möglichst den Körperteil, der gesündigt hatte, zu bestrafen, vielleicht, weil er dadurch veranlasst werden könnte, in Zukunft artig sein zu wollen. In der Praxis bedeutete dies ein sorgfältig abgestuftes Repertoire manueller Erziehungsmittel für die unterschiedlichen Vergehen.

Spielen mit Gegenständen
Ermahnende Schläge mit einem Lineal oder ähnlichem auf die ausgestreckte Handinnenfläche; bei furchtsamem Zurückzucken schmachvolle Belegung mit dem Wort „Feigling“, im Tone höchster Verachtung abgesondert, und doppelte Ration an„Haue“, wenn wir es nannten.
Schwatzen
Die Ohrfeige, auch als Maulschelle bekannt, denn der Mund, vulgo das Maul, hatte gegen das Gebot des Ruhigseins verstoßen, wobei der Rückhandschlag anders als beim Tennis gefürchteter war als die Vorhand, da Knöchel eben härter sind als die Innenseite der Hand.
Einfaches Stören des Unterrichts
Die „Kopfnuß“, wobei der gekrümmte Mittelfinger aus der Faust herausragte und sein Aufprall auf dem Kopf zu Beulen führte, deren schmerzende Langzeitwirkung, so hoffte der ausführende Lehrer, im Gehirn moralische Besserungsvorsätze hervorrufen sollte.
Unverschämtheit, wiederholte Widersetzlichkeit, grobe Verstöße gegen die schulische Ordnung
Hier wurde der Rohrstock bemüht. Um ein Entkommen des Sünders zu verhindern, wurde in schweren Fällen der Kopf zwischen die Knie des Strafenden geklemmt, so dass durch die Beugung des Rumpfes das zu bearbeitende Hinterteil sich einladend wölbte. Die Zahl der zu verabreichenden Schläge richtete sich nach der Schwere der Untat, wurde vorher verkündet und von schadenfrohen Mitschülern zur Erhöhung des Erlebniswertes und auch, damit es zu keinerlei Über- oder Unterschreitung der Zahl kam, lustvoll mitgezählt. Abwehrmaßnahmen wie ein schnell unter die Hose geschobenes Lehrbuch waren meist erfolglos, da dem geübten Ohr des Lehrers der andersartige Klang beim Auftreffen des Stockes auf das gespannte Sitzfleisch nicht verborgen blieb.

Klagte man nun zu Hause über die in der Schule erfolgte Abreibung, gab es bei vielen Kindern noch eine weitere Ration „Haue“, da die Eltern davon ausgingen, dass ihr Kind nicht zu Unrecht gezüchtigt worden war. Ich muss zur Ehrenrettung von Herrn Zillen sagen, dass wir nicht laufend in der schilderten Form gröblich misshandelt wurden, sondern eher selten bei den Älteren zu den erwähnten Mitteln und damit zum Versuch, über das Medium Hintern den Verstand zu erreichen, gegriffen wurde. Auch das regelmäßige Wiedererscheinen des geflohenen Schülers „Schlei" noch vor Schulschluss war ein Beweis für relative Milde.

Allerdings wurde „Schlei“ vor allem durch die Ausgabe der im Jahre 1947 auf Initiative des amerikanischen Ex-Präsidenten Hoover in der Bizone eingeführten „Schulspeisung“ zurück in die Schule gezogen.[11] Die von den Besatzungsmächten zur Versorgung der unterernährten deutschen Schuljugend gelieferten Lebensmittel wurden von Frau Burmeister meist zu Suppen und Eintöpfen verkocht, die wir in mitgebrachten Behältern, oft den praktischen Kochgeschirren der Großdeutschen Wehrmacht, entgegennahmen und noch in der Schule verzehrten.

Bei der Essensausgabe kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen, Schubsereien und Knüffen um die besten Plätze beim Anstehen. Gab es Erbsenoder Bohnensuppe, so waren die hinteren Plätze begehrt, denn es dauerte eine Weile, bis Frau Burmeister mit ihrer großen Kelle auf dem Grund des Kessels angelangt war, wo die nahrhaftesten Brocken, wir sagten „das Dicke“, sich befanden. Samstag, damals selbstverständlich noch ein Schultag, war dagegen ein Tag des Friedens, denn dann gab es meistens Kakao, und der war überall gleich „dick“. Vielen Flüchtlingsfamilien ging es so schlecht, dass der Extraschlag, den die Kinder erhielten, mit nach Hause gebracht werden musste, wo er sehnsüchtig erwartet wurde.

Von schulischen Höhepunkten, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben, von Leistungsgipfeln, die ich erklommen habe, von Unterricht, der mich gefesselt und für mein weiteres Leben angeregt hat, ist hier nicht ohne Grund nicht die Rede. Es gibt nichts Derartiges zu berichten. Mein Zeugnis am Ende der ersten Klasse bescheinigte mir die Versetzung mit der Leistungsbeurteilung „gut“; ich fiel damit deutlich gegen meine Schwester ab, mir jedoch genügte das, und es müsste eigentlich, so fand ich, ein ausreichender Beweis sein, dass ich zwar keine frühreife Leuchte der Wissenschaft, aber eben auch nicht dumm war, wie meine Mutter befürchtet hatte.

LIEBER GOTT, MACH MICH FROMM

Mit der Schule kam auch der Religionsunterricht. Ich musste an ihm teilnehmen, weil ich vom finsteren Heiden zum Christen mutiert war, zwar ungefragt, doch ich war, unstrittig getauftes Mitglied der evangelisch-lutherischen Glaubensgemeinschaft geworden. Mein Vater war als Nationalsozialist aus der Kirche ausgetreten, folgte damit den neuheidnischen Vorstellungen seines Führers und bezeichnete sich selbst als, „gottgläubig“. Zu seinen Lebzeiten wuchsen meine Schwester und ich in unschuldigem Heidentum auf, ohne irgend etwas an seelischer Erbauung zu vermissen. Nach seinem Tode setzte sich die Ansicht meiner Großmutter als Pastorenwitwe durch, dass unsere unberührten Seelen nicht weiter in religiöser Unwissenheit den Gefährdungen der Welt ausgesetzt werden konnten, und so wurden wir beide im Dezember 1944 in Innien getauft. Wir sollen uns bei der Zeremonie ziemlich widerspenstig benommen haben, wobei unser Hauptprotest der in unseren Augen völlig überflüssigen und unangenehmen Benetzung mit Wasser gegolten haben soll.

Zu Hause wurden wir nicht weiter mit religiösen Unterweisungen behelligt, doch das änderte sich in der Schule, was bereits die Anordnung des Faches Religion in _ meinem Zeugnisheft zeigt. Bei der Abteilung „Leistungen“ steht es noch vor den Fächern Deutsch und Rechnen, wohl zurückzuführen auf die in früheren Zeiten übliche Kenntnisvermittlung durch Geistliche, wobei die religiöse Belehrung an erster Stelle rangierte. Nun musste ich Gebote, Gebete und Liedertexte auswendig lernen, auch wurde Bibelkunde betrieben. Vermittelt wurde uns die Glaubensgewissheit: „Wenn du Gott ganz stark um etwas bittest, erfüllt er dir deinen Wunsch.“ Dass schien keine üble Sache zu sein, und so betete ich abends: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm! Und denk auch an die Angelhaken!“ Angelhaken? Ja, die waren besonders wichtig für meinen kindlichen Seelenfrieden, den einige meiner Spielkameraden hatten welche und gingen fröhlich angeln, und ich hätte sie zu gern mit eigener Angel begleitet, wenn, ja wenn mir die verflixten Angelhaken nicht gefehlt hätten.

Versuche meiner Mutter, welche auf meine Bitten hin zu kaufen, scheiterten an den Zeitumständen; es gab weder welche in Homfeld noch in Innien. Also sollte Gott als letzter Rettungsanker ruhig zeigen, was er vermochte. Damit die Angelhaken auch richtig bei mir ankämen und nicht etwa verloren gingen, stellte ich abends vor meinem Gebet neben mein Bett eine Untertasse, worin ich sie morgens aufzufinden hoffte. Obwohl ich wochenlang mit kindlicher Inbrunst betete, Gott versagte kläglich. Kein einziger Angelhaken ließ sich blicken.

Mein Gottvertrauen war schwer erschüttert, und spätere Reparaturversuche seines beschädigten Ansehens durch sein irdisches Bodenpersonal, ich denke da unter anderem an den Konfirmandenunterricht, stießen bei mir auf taube Ohren. Es war nur konsequent, «lass ich noch in jungen Jahren als Student zum anfänglichen Heidentum, nicht zu verwechseln mit einer» Dasein ohne Wertvorstellungen und Gewissen, durch die Erklärung meines Austritts aus der evangelisch-lutherischen Kirche zurückkehrte. Heilsversprechungen jedweder Religion behandle ich seit diesem einschneidenden Kindheitserlebnis wie die Wahlversprechungen politischer Parteien: als eine Art Waschmittelreklame ohne Wirksamkeitsgarantie.

UNTER TANTEN

Die Schule hatte natürlich auch schöne Seiten, vor allem eine, die Ferien, diese zeitlich leider begrenzte Entlassung in ein Dasein ohne Lernzwang, Pflichten und Disziplin, im Sommer sechs Wochen lang. Meiner Mutter gelang es, diese Zeit im Sommer 1948 für mich auf acht Wochen auszudehnen. Sie hatte, so meine ich, angefangen, in den oberen Klassen der Homfelder Dorfschule zu unterrichten, zwar nur wenige Stunden Englisch, doch das wurde vom Schulamt und der britischen Besatzungsmacht durchaus geschätzt, so dass man Ihrer Bitte auf Verlängerung meiner Ferien bereitwillig nachkam.

Ich sollte für acht Wochen nach Schätzendorf fahren, dem Herkunftsort meines. Vaters, und meine’ Verwandten wollten mich unterernährten Hungerhaken einmal richtig mit bäuerlicher Kost aufpäppeln. Meine Mutter brachte mich mit der Bahn, die inzwischen wieder regelmäßig fuhr, hin und lieferte mich am Bestimmungsort ab. Dort harrte eine ganze Galerie von Schwestern meines Vaters neugierig meiner, fünf an der Zahl, die mir bisher nur vom Erzählen bekannt waren. Ich fiel also unter die Tanten.

Tante Hermine, aus Krankheitsgründen pensionierte Lehrerin, nahm mich in ihre Obhut, versprach, sich um meine Erziehung zu kümmern und dafür zu sorgen, dass ich das in der kurzen Zeit seit Ostern in der Schule Gelernte nicht wieder vergäße.[12] Sie und ihr Mann, ein aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen beschäftigungsloser Studienrat, waren wie wir ausgebombt.

Tante Berta, Hermines Schwester, hatte sie auf dem Hof aufgenommen, den sie mit Ihrem Mann Ernst Voß bewirtschaftete. Dort sollte auch ich unterkommen. “Tante Adele lebte auf einer Hofstelle, die als Abfindung und Mitgift anlässlich ihrer Heirat mit Karl Asche, der als junger Mann bei meinem Großvater gearbeitet hatte, vom großväterlichen Hof abgetrennt worden war. Tante Caroline, die Kapitänswitwe war, ihre Tochter Grete und deren Mann wohnten mit ihren Kindern, nachdem sie ihr Zuhause durch Bomben verloren hatten, in einem hölzernen Behelfsheim in Schätzendorf auf einem Grundstück, das der letzten meiner Tanten gehörte.

Das war meine Patentante Emma, die einzige, die nicht in Schätzendorf lebte. Sie betrieb in Harburg ein Parapack-Institut, wo man sich unter auf dem Körper aufgetragenen heißen Paraffinschichten gesundschwitzen konnte. Es gab zwar noch weitere Verwandte auf dem Hof meines Großvaters, doch der stand nicht unter Tantenregie. Mir wurde bedeutet, ich solle um das Stammhaus der Isernhagens möglichst einen Bogen machen, denn dort säße jemand zu Unrecht als Regent auf Opas Lehnstuhl.

Mein Großvater hatte im Jahre 1924 den Hof an seinen einzigen Sohn aus erster Ehe übergeben, nachdem mit Otto und Gustav zwei seiner Söhne nach Brasilien ausgewandert waren und mit meinem Onkel Walter, nach dem ich benannt worden war, und meinem Vater die jüngeren Söhne in den beiden Weltkriegen gefallen waren. Damit war kein anderer männlicher Erbe vorhanden. Die Übertragung des Hofes auf den bereits abgefundenen erstgeborenen Sohn Heinrich führte zu einer erbitterten Familienfehde, die ich als unbeteiligtes Kind nicht verstand und in die ich mich auch in späteren Jahren nicht hineinziehen ließ.

In Schätzendorf war ich zum ersten Male von zu Hause weg. Auf dem Dorf aufgewachsen, hatte ich keine Schwierigkeiten, Spielkameraden unter der Dorfjugend zu finden. Auch waren der Sohn meiner Cousine Grete, namens Eibe, und der Enkel des durch tantenhaftes Verdikt verfemten Hoferben, mit Namen Heinrich, beide in meinem Alter; und die Umgebung Schätzendorfs, in der Lüneburger Nordheide gelegen, konnte sich durchaus mit der Schönheit Homfelds niessen. So hätte meine Ferienzeit dort eigentlich aus Spielen, Erholung, Sattessen und Kräftigung bestehen müssen. Es sollte anders kommen.

Als Erstes stellte mich Tante Hermine überall als „Karls Sohn“ vor. Der war ich zweifelsohne, ich war aber auch meiner Mutter Sohn. Sie hatte doch auch ihren Anteil zu meinem Erdendasein beigetragen. Beim Thema Zeugung pflegte meine Niutter, obwohl Binnenländerin, sich seltsam maritim auszudrücken. Sie hätte ihre Schwägerin wohl folgendermaßen korrigiert: „Hermine, sicher war Karl an Walters Kiellegung beteiligt, aber der Stapellauf war ausschließlich mein Werk.“ Da:ın war ich so vielen wohlgemeinten Erziehungsbemühungen ausgesetzt, wie ich Tan'en hatte, die alle fünf auf höchst unterschiedliche Weise versuchten, mich so zu forı:ı an, wie „Karls Sohn“ ihrer Vorstellung nach sein sollte.

Ziemlich einig waren sie sich aber bei bestimmten Bestrebungen, wie aus mir verwildertem Dorfjungen ein zivilisierter Mensch, seines Vaters Karl würdig, werden könnte. Ich sollte beispielsweise bei Begrüßungen Älterer „einen Diener machen“, mithin ergeben-höflich den Kopf senken, „nicht mit den Händen in den Hosentaschen herumlümmeln“ — „das tut ein deutscher Junge nicht! — und mich anstrengen, meine. Verbundenheit mit dem’ Dorfe ‘meines Vaters durch Anwendung des dort üblichen Plattdeutsch zu bekunden, das sich leider vom mir vertrauten Homfelder Platt unterschied; und was sonst noch so alles an Anforderungen auf mich herniederregnete.

Gerade weil ich „Karl Sohn“ war, entzog ich mich mit der vom Vater ererbten Sturheit und Dickköpfigkeit den Bemühungen der Tanten. Höchst unwillig oder gar nicht beugte ich mein kindliches Haupt. Ich wollte doch jedem ins Gesicht sehen, so klein ich auch war; ich war niemandes „Diener“, sondern ein freier Mensch. Meine Hände versenkte ich hartnäckig weiter in meinen Hosentaschen, die Tante Hermine daraufhin zunähte, worauf ich sie wieder auftrennte, was nach scharfen Ermahnungen zu erneutem Zunähen .. . und natürlich Auftrennen führte. Diesen Krieg der Nähte konnte Tante Hermine gegen „Karls Sohn“ nicht gewinnen.

Dem plattdeutschen Idiom der Schätzendorfer Tanten verweigerte ich mich durch Anwendung des Hochdeutschen oder durch trotziges Schweigen. Auch den meiner Mutter versprochenen Übungen im Lesen, Schreiben und Rechnen, die Tante Hermine, bereits ziemlich entmutigt, nur halbherzig betrieb, die aber nach Ansicht meiner Mutter — „ob er etwa dumm ist?” - dringend nötig waren, entzog ich mich meistens erfolgreich durch Flucht in die Feldmark zum Spielen mit meinen neugewonnenen Kameraden. Wie sehr ich gerade durch meinen Guerilla-Kampf gegen die Bemühungen der erzieherischen tantenhaften Umzingelung meinem Vater ähnelte, ja, mich gerade dadurch als „Karls Sohn“ auswies, blieb meinen Tanten verborgen.

Als meine Mutter mich nach acht Wochen wieder abholte, war mein Selbstbehauptungswille gestärkt, doch seelisch hatte mich die Schlacht gegen die Tanten erschöpft, und körperlich ging es mir elender als zuvor, denn ich hatte die Würmer bekommen, und das wenige bisher in der Schule Gelernte war fast gänzlich in den Untiefen des Vergessens verschwunden. Im geliebten Homfeld angekommen und damit den Tanten entkommen, half gegen die Würmer eine etwas Unangenehme Wurmkur. Und gegen meine Unwissenheit half meine Großtante Else. Sie lebte damals, von Krankheit fast gänzlich ans Bett gefesselt, in einer, Dachkammer bei Blöckers gegenüber. Wenn aus ihrem geöffneten Fenster der durchdringende Pfiff einer Trillerpfeife ertönte, hatte ich bei ihr zu Lese- und Rechenübungen anzutreten, ohne vorzugeben, dieses Alarmsignal wie den Lockruf „Waltür“, von meiner Mutter des Öfteren erfolglos ausgsstoßen, nicht wahrgenommen zu haben. Damit einher ging die strikte Anweisung, mich beim Spielen nicht aus Trillerpfeifenhörweite zu entfernen. Tante Elses Pfiff erklang umso seltener, je mehr Fortschritte ich machte, und desto schneller konnte ich wieder zum Spielen. Dieser offensichtliche Zusammenhang erzeugte einen ausreichenden Lerneifer, so dass ich binnen zwei Wochen den vergessenen und auch den während meiner zweiwöchigen Abwesenheit versäumten Schulstoff beherrschte.

Die Überschrift des damals geübten Lesestückes habe ich, was kein Wunder ist, bis heute behalten. Sie lautete: „Heini und die Indianer.“ Und wie ein Indianer konnte ich bald wieder, nachdem ich die vormittägliche schulische Fron samt Hausaufgaben hinter mich gebracht hatte, meine Freiheit genießen, mit Händen in den Hosentaschen und ohne „Diener“, und doch „ein deutscher Junge".

DON’T TALK ABOUT IT

Großmutter Linny Claudius vor der Englandreise 1948
Schwester vor der Englandreise 1948

“Don't talk about it!” .

Wenn meine Mutter oder Großmutter diesen Satz von sich gaben, wussten wir Kinder, dass nun eine Unterhaltung, bisher auf Deutsch geführt, in einer Sprache fortgesetzt wurde, die weder Wiebke noch ich verstanden. Das war auch die Absicht, denn in unserem Wohn- und Schlafraum waren wir bei ernsten Gesprächen manchmal unerwünschte Zuhörer, so dass Mutter und Oma sich ins Englische flüchteten. Diese Abwehrmaßnahme konnte jedoch nur bis zum Sommer 1948 funktionieren. In diesem Sommer erwirkte meine Mutter nicht nur für mich, sondern auch für Wiebke verlängerte Ferien. Ziel war England, wohin sie in Begleitung meiner Großmutter fuhr, die ihre Geschwister und restlichen Verwandten dort nach langer Zeit, denn der Krieg hatte derartige Reisen unmöglich gemacht, wiedersehen wollte, und wo sich beide sattessen wollten, so wie ich es bei meinen Tanten in Schätzendorf tat.

Die Einreise aus dem ehemaligen Feindesland Deutschland war nicht einfach, wurde nach etlichen Behördengängen aber möglich, und schließlich wurden Pässe für beide ausgestellt. Die dazu angefertigten Passfotos zeigen eine muntere Schwester, die erwartungsfroh lacht, und eine "Großmutter, die mir den Eindruck eines von Not und Entbehrungen gezeichneten älteren Menschen vermittelt, der ernst in die Kamera schaut.

Mehrere Monate blieben beide in England, und Wiebke, aufgeweckt wie sie war, kam mit den Eindrucken ihrer Erlebnisse angefüllt zurück, vor allem sprach sie Englisch fast so wie ein gleichaltriges englisches Mädchen.

„Don't talk about it!“

Wenn wir Kinder jetzt diesen Satz hörten, war das für Wiebke ein Signal, die Ohren weit aufzusperren, um möglichst viel von dem Gespräch zu erlauschen, das flüsternd geführt wurde, da die Erwachsenen wussten, dass, wenn sie anwesend war, wieder die aus dem Krieg stammende Parole galt: „Pst, Feind hört mit.“ Das Englische sollte für uns Kinder ein täglicher Begleiter werden. Großmutter und Mutter betrieben in unserer Stube eine kleine Privatschule, der wir bei schlechtem Wetter beiwohnten, unsere englischen Verwandten schickten uns Kinderbücher, und von den Verwandten des Ehepaares Rupkalvis erhielten wir amerikanische Comics.

Rupkalvis’ stammten, wie schon der Name zeigt, aus dem Baltikum, waren 1945 mit einer Kutsche, von zwei Pferden gezogen, als Flüchtlinge nach Homfeld gekommen und wurden von Verwandten aus den USA mit Lebensmittelpaketen unterstützt, doch die beiliegenden Briefe konnten sie zu ihrem Leidwesen nicht lesen. Hier halfen Großmutter oder Mutter als Übersetzerinnen und erhielten dafür etwas vom Paketinhalt, von uns bestaunte Kostbarkeiten wie Corned Beef oder Kakao in Dosen. Nachdem die Absender erfahren hatten, dass zum Haushalt der Übersetzerinnen ihrer Briefe und Schreiberinnen der Antworten zwei kleine Kinder gehörten, legten sie für uns die von den eigenen Kindern bereits gelesenen Comics als Lektüre bei. Ich entsinne mich an „Dell Comics“, an die Figuren der „Katzenjammer Kids“ und natürlich an „Mickey Mouse".

Meine Schwester verschlang alles auf Englisch gedruckte, verstand auch das meiste, fragte im Zweifelsfall bei Mutter oder Oma nach, für mich dagegen, der ich erst nach der Einschulung ins Gymnasium im April 1952 anfing Englisch zu lernen, wären die Comics vorerst nur eine Abfolge lustiger bunter Bilder. Als meine Englischkenntnisse ausgereicht hätten, sie lesen zu können, hatten sie sich, als Heizmaterial einer endgültigen Verwendung zugeführt, längst in Rauch und Asche aufgelöst, die Erinnerung an sie ist dagegen geblieben.

„Let's talk about it!"

DIE DM KOMMT

5 DM Banknote (Serie I)
10 DM Geldschein (Serie I BdL)
20 DM Geldschein (Serie I BdL)

Will ich etwas kaufen oder muss ich etwas bezahlen, zögere ich einen Moment, bevor ich meine Geldbörse zücke, und rechne den Betrag von EURO schnell in DM um, um eine Preisvorstellung zu gewinnen, obgleich die neue Währung schon mehr als ein Jahr gilt. Bin ich zu bequem, mich an etwas Neues zu gewöhnen, oder bin ich geistig gänzlich unbeweglich geworden? Nein, ich trauere der Deutschen Mark nach, wie einer alten Freundin, mit der ich lange zusammen war, auf die ich mich verlassen konnte, von der ich wusste, was sie mir bedeutete, was sie wert war, und der ich nicht untreu werden möchte, indem ich leichtfertig mit der Dame Europa monetär herumscharwenzele.

Der Reichsmark, als sie mit dem 21. Juni 1948, einem Montag, ungültig wurde, weinte dagegen niemand nach. Mit ihr hatten wir bis dahin gelebt, sie aber nicht geliebt, denn sie hatte ihren Tauschwert größtenteils verloren, auch wenn sie keine „Tapetenmark“ wie die Geldscheine vom Höhepunkt der Inflation von 1923 geworden war. Immerhin bekam man für sechs Reichsmark auf dem Schwarzmarkt lange Zeit eine — in Worten: eine — amerikanische Zigarette, die wahre Nachkriegswährung. Leider waren auch Zigaretten nicht gänzlich wertbeständig, da sie sich irgendwann in Rauch auflösten.

Wir lebten, wie geschildert, auf dem Niveau der Natural- und Tauschwirtschaft, wo der Lebensunterhalt, wenn man nicht Opfer der zugeteilten Hungerrationen werden wollte, durch weitere Erwerbsquellen gesichert werden musste. In unserem Falle erfolgte das durch das Sammeln von Beeren, Pilzen und Tannenzapfen, durch Tauschgeschäfte — Zigaretten der Raucherkarten gegen Brennholz — und durch den ' Gegenwert der erteilten Privatstunden von Oma und Mutter, zu zahlen möglichst in Naturalien. Jeder weiß, dass das Ende dieses alles andere als paradiesischen Zustandes mit der Währungsreform vom Juni 4948 eingeläutet wurde. In Geschichtsbüchern steht darüber:

„Die Währungsreform war seit Jahren Gegenstand alliierter und deutscher Diskussionen gewesen ... Die Notwendigkeit einer Geldreform aufgrund des großen Geldüberhangs sowohl an Bargeld wie an Bankguthaben war unbestritten. Ohne sie war eine durchgreifende Besserung der deutschen Wirtschaftssituation nicht möglich ... Dass die Schaufenster wieder voll waren ..., war nur aufgrund eines vorausgegangenen Produktionsanstieges möglich ... Die Waren aus dieser Produktion wurden systematisch bis zum Tag der Währungsreform gehortet ... Über Nacht wurde jetzt all das angeboten ... Ebenso plötzlich verschwand der Schwarzmarkt ... Ökonomisch wurde die Währungsreform .. ein durchschlagender Erfolg.“[13]

Bald verschwanden die Zwangsbewirtschaftung von Waren, später auch die. Lebensmittelkarten mit ihren amtlich festgesetzten Preisen und die Bezugsscheine. In meiner Erinnerung besteht die Währungsreform nur aus einzelnen Begebenheiten, die mein Gedächtnis bewahrt hat. Da saßen an einem Sonntag Mutter, Großmutter und Tante Else am Esstisch, vor sich Geldscheine, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Das neue Geld wurde neugierig betrachtet, betastet und uns Kindern gezeigt. Die Erwachsenen hatten gerade das Kopfgeld von DM 40,- pro Person abgeholt, und wir Kinder hörten sie sagen: „Endlich wieder richtiges Geld!"

Der aus den gleichen Personen bestehende Familienrat saß einige Zeit später wieder zusammen, diesmal Sparbücher in der Hand, verärgert schimpfend, dass aus 100 Reichsmark ganze DM 6,50 geworden waren. Man tröstete sich mit den Worten: „Aber für das Geld kann man ja immerhin etwas kaufen.“ Wir Kinder bettelten in der Folgezeit gern die Erwachsenen um ein altes 50-Pfennig Stück mit dem Argument an: „Das ist doch altes Geld, das braucht ihr doch nicht, mehr.“ Wir hatten schnell begriffen, dass die uns vertrauten Münzen vom Reichspfennig bis zur Reichsmark nicht wertloses Altmetall geworden waren, sondern dass wir für alte fünfzig Pfennig schon einen kleinen Lolli bekamen[14]. Also, schnell das Sparschwein geschlachtet!

Kleingeldscheine zu fünf und zu zehn Pfennigen in der Größe von Sonderbriefmarken, 4x6 cm

Einer der Homfelder Bauern, der Wert des neuen Geldes hatte sich noch nicht eingependelt, sprach meine Mutter an:" Frau Doktor Isernhagen, Sie und Ihre Familie! haben ja so lange gehungert. Ich verkaufe Ihnen ein ganzes Schwein und helfe auch noch beim Schlachten. Stellen Sie sich vor, wieviel Fleisch und Wurst das gibt! Ein ganzes Schwein! Für nur tausend DM.“ Meine Mutter, der das Wasser im Munde zusammenlief, antwortete: „Ja, wir haben gehungert, Sie aber nicht. Jetzt, wo das Geld wieder etwas wert ist, wollen Sie mit mir Geschäfte machen. Vorher hatten Sie nichts für uns. Behalten Sie Ihr Schwein, ich behalte mein Geld.“ Auch wenn meine Mutter, die zu Hause erbost von diesem unlauteren Angebot berichtete, das Schwein nicht kaufte: Die Zeit des Hungerns war mit der DM für uns vorbei.

DIE BOXBERGHALLE

„Lieschen, mok,de Dör op, de Rummelpott is dor. ”

Hau de Katt den Steert af,
au en ni to lang af
lat'n Cütten Stummel stahn,
denn wi wüllt noch wiedergahn.
Ten Hus wieder
walınt de Snieder,
een Hus achter
wahnt de Slachter,
un een Hus nebenan
wahnt de Wiehnachtsmann.“

Der Weihnachtsmann, bei mir, wie geschildert, nicht gerade in hohem Ansehen stehend, hatte seine Geschenke bereits abgeliefert, wenn am Altjahrsabend die Dorfkinder beim Rummelpottlaufen weitere Gaben einheimsten. Einen richtigen Rummelpott als zünftiges Musikinstrument bastelten wir aber nicht, die dafür notwendige Schweinsblase fand, wie noch zu berichten sein wird, eine in unseren Augen nützlichere Verwendung. So waren wir, wenn wir in kleinen Gruppen verkleidet von Haustür zu Haustür zogen und unser Rummelpottlied als Türöffner sangen, allein auf die Kraft unserer Lungen und die Mildtätigkeit der Hausbesitzer angewiesen, um die mitgeführten Schnappsäcke mit dem Dargereichten füllen zu können.

Im Jahresablauf folgten dann noch zwei weitere Höhepunkte dörflichen Vergnügens: Ringreiten und Vogelschießen. Das Ringreiten war zwar eine Sache der Erwachsenen: doch auch uns Kinder interessierte, wer „König“ und wer „Sandreiter“ geworden war.[15]

Das im Sommer stattfindende Vogelschießen war als Kinderfest der Höhepunkt des Schuljahres. Für die umfangreichen Vorbereitungen sorgten Eltern, Kinder und unsere Schulmeister, Herr Burmeister und Herr Zillen sowie Fräulein Rauter, denn das Einrichten der Wettkampfstätten, der Umzug durch das Dorf sowie das Schmücken des Festsaales in der einzigen Gastwirtschaft, dem „Krug zum grünen Kranz" der Familie Reimer, erforderte viel Mithilfe.

Das letzte Vogelschießen, das ich in Homfeld miterlebte, hat sich mir besonders eingeprägt. Es fand auf dem Gelände der Boxberghalle statt. Vor vielen Jahren habe ich diese, besser gesagt ihre Überreste, einmal gesucht. Nichts erinnerte mehr an ihre kurze Existenz. Es müssten schon ‚Archäologen ihre Arbeit aufnehmen, um an Bodenverfärbungen die Pfostenlöcher dieses aus Holz konstruierten Vergnügungstempels auszumachen.

Auf dem Boxberg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg getanzt. Die Boxberghalle war als Klein Paris bekannt.

Mit dem Bau der Boxberghalle hatten die durch die DM entfesselten Kräfte der wiederbelebten kapitalistischen Wirtschaft auch das abgeschiedene Homfeld erreicht. Als einer der Höhepunkte unternehmerischen Schaffens und Gründungsdranges wuchs, landschaftlich schön auf dem Boxberg am Waldrand gelegen, aus Fichtenholz eine Bude, deren Bezeichnung als „Halle“ über die wahren Ausmaße hinwegtäuschte. Aber immerhin, hier konnte man an den Wochenenden, auf Holzbänken an Holztischen sitzend, endlich wieder frei verfügbare Getränke wie Bier, Brause und Korn genießen und die Waldluft mit dem Duft deutscher Zigaretten Marke „Juno“ („lang und rund), „Eckstein“ oder „Overstolz“ anreichern.

Die Boxberghalle lockte mit bis dahin ungeahnten Lustbarkeiten: Einer Tanzfläche aus Holzbohlen unter freiem Himmel, bunten Lichterketten und schmissiger Tanzmusik, die einem Grammophon mit Trichter mit Hilfe von Stahlnadeln und Schellackplatten entlockt wurde. Dabei kam man sich menschlich näher, und waren sich die Paare einig, dass man handgemein werden wollte, schlugen sie sich seitwärts in die nahe Heide oder den Wald. Kurzum: Es entstand ein Sündenbabel auf verträumtem Homfelder Dorfboden, das seine Anziehungskraft auch auf die Bewohner der umliegenden Dörfer ausübte.

Der aus Ostpreußen stammende Kantinenwirt Liedtke betrieb die Boxberghalle, ein ertragreicher Claim in den Goldgräberjahren der jungen Bundesrepublik, bis Anfang der 50-er Jahre, bis der Neid der Gastwirte der umliegenden Dörfer, kaum erfüllbare Auflagen der Behörden nach geordneten sanitären Einrichtungen und der zu häufige Griff zur eigenen Flasche dem munteren Treiben ein Ende setzten. Hier fand im Sommer 1949 das jährliche Vogelschießen statt, und in einem festlichen Umzug wanderten die Teilnehmer dorthin. Uns Jungen erwartete eine sandige. Wettkampfbahn; wo wir, so wie die Erwachsenen beim Ringreiten, mit einem kurzen Stecher einen Ring aus einer Klemmvorrichtung herausstechen mussten, leider nicht auf dem Rücken stolzer geschmückter Rosse, die allerdings alltags als Gäule das Ziehen von Mistwagen und Pflug gewohnt waren, sondern mit der linken Hand ein Steckenpferd an einer Lederschlaufe als Zügel führend. Den notwendigen Trab hatten wir selbst zu erzeugen.

Dass ich keinerlei nennenswerte Erfolge aufzuweisen hatte, führte ich entschuldigend darauf zurück, dass mein Schlachtross ein schlichter Besenstiel war, mit einem Band als Lenkhilfe versehen, was in mir nicht die zum Sieg nötige Illusion, einen feurigen Araber zu reiten, zu erzeugen vermochte, sondern mich eher mit Neid auf die Besitzer edlerer Tiere, wenn auch gleichfalls aus Holz, erfüllte. Mehr Erfolg hatte meine Mutter, die den Kletterbaum, an dem oben ein Kranz befestigt war, behängt mit Süßigkeiten, unter Anfeuerungsrufen erklomm und für mich versagenden Ringreiter mit letzter Kraft eine Süßigkeit abriss, ehe sie mehr zu Boden plumpste als glitt. Sie hatte den glatten Stamm ausschließlich mit Armkraft ohne Beinschluss — „davon verstehe ich als Frau nichts" — bezwungen und gestand, wieder heil auf der Erde angekommen: „Ich dachte, ich stürbe vor Anstrengung; aber aufgeben, nein, das wollte ich nicht.“

Mutter hatte überlebt, ich hatte etwas zum Naschen, und am Nachmittag zog alles in den Dorfkrug, wo meine erschöpfte Mutter zu den schrillen Klängen einer Dorfkapelle zweifelhaften musikalischen Vermögens vor allem mit mir im Festsaal herumhopsen musste, denn ich war zu schüchtern, um mit den kleinen Mädchen meines Alters zu tanzen.

Das Gesicht meiner Mutter rötete sich vor Erschöpfung, meines vor Ausgelassenheit, und das der Männer vom reichlichen Genuss des - der DM sei Dank! — wieder ausreichend vorhandenen Bieres und Schnapses. Bei einem Dorfvergnügen wie Ringreiten oder Vogelschießen gehörte im Zustand des durch den Alkoholgenuss gestiegenen Mutes auch eine zünftige Keilerei der Jungmannen Homfelds, doch davon bekam ich nichts mehr mit, denn ich lag bereits in Bett und träumte davon, beim nächsten Vogelschießen mit einem richtigen Steckenpferd „König“ zu werden.

HERREN DER FELDMARK

Anfang der 50-er Jahre, wir lebten wieder in unserer Heimatstadt Neumünster, las ich im Neumünsteraner „Holsteinischen Courier" eine kurze Notiz, dass Teile des Boxberges bei Homfeld in Flammen gestanden hätten und es nur den vereinten Feuerwehren aller Dörfer des Aukrugs gelungen sei, den Brand zu löschen. Ob bei besagtem Großfeuer auch die Boxberghalle ein Raub der Flammen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Es war als Brandursache von leichtfertigem Spielen mit Streichhölzern durch Homfelder Kinder die Rede, deren Namen jedoch nicht genannt wurden. Für mich stand fest: Das konnten nur meine Spielkameraden und Busenfreunde „Koller“ (Karl-Heinz) und „Erni“ (Ernst) Schröder gewesen sein; eine Vermutung, die sich beim nächsten Besuch in Homfeld als wahr herausstellte: „Klor, dat sünd wedder düsse Bagaluten west.“ Auch ich hatte zu den „Bagaluten“ gehört, denn eine Zeitlang bildeten Koller, Erni und ich ein unzertrennliches Trio.

Die Familie Schröder wohnte wie wir bei Tante Maaß. Frau Schröder, ihr Mann war im Krieg gefallen, war mit mehreren Töchtern und ihren beiden Söhnen nach Homfeld verschlagen worden. Die Stelle eines erziehenden Vaters nahm mit zweifelhaften Ergebnissen der ehemalige Soldat Willy Falk ein, mit dem Frau Schröder zusammenlebte, von uns Kindern „Onkel Willy“ genannt. Da die Jungen vom Alter her zu mir passten, Koller war ein Jahr älter, Erni ein Jahr jünger als ich, blieb nicht aus, dass wir „Bagaluten“ zueinander fanden.

Uns verband vor allem eins: Wir fühlten uns als Herren der Homfelder Feldmark, die wir auf unseren Streifzügen unsicher machten. Boxberg, Buckener Au, Heider Bahn, Tannenfelde, die umliegenden Wälder mit ihren Fischteichen, Felder und Wiesen waren unser Revier. Nach dem Mittagessen zogen wir los, vorher hielt uns ja die Schule gefangen, und abends waren wir irgendwann wieder zu Hause. Besonderes Vergnügen machte uns das Klettern auf Bäume mit Krähennestern, denn deren Eier eigneten sich vorzüglich dazu, sie morgens anderen Schulkindern als Wurfgeschosse auf den Ranzen zu klatschen, was nach Petzen der Opfer bei Lehrer Zillen dazu führte, dass nun wir Übeltäter eine geklatscht bekamen. Eines Tages überraschte Koller seinen Bruder Erni und mich mit der Offenbarung, ein Bauer habe ihm ein Pferd geschenkt. Wir waren nur zu gerne geneigt, dem Glauben zu schenken, zumal er als weiteren Beweis auch noch Zaumzeug in einem Stall als zusätzliche Gabe vorweisen konnte. Das von Koller bezeichnete Geschenk auf vier Beinen, es handelte sich um ein großes Fohlen, fingen wir auf einer Koppel ein und machten darauf drei Tage Homfeld hoch zu Roß unsicher. Dann wurden wir geschnappt, und Koller als Anstifter verschwand, nachdem Onkel Willy ihn durchgewalkt hatte, einen Tag eingesperrt im Spritzenhaus der Feuerwehr, das auch als Besserungsanstalt und Kurzzeitgefängnis diente. Unser Tatendrang blieb jedoch ungebrochen, und es dauerte nicht lange, bis die Freundschaft mit Sachs Kreutz, dem Sohn des Dorfschmiedes, zum nächsten Zusammenstoß mit den Grundwerten der menschlichen Gesellschaft führte. Sachs hatte wohl etwas zu oft in der Vergangenheit seinen Vater über das wertlose Geld schimpfen hören. Er schloss sich der väterlichen Meinung insofern an, dass er der Kiste seines Erzeugers mehrfach das Kleingeld entnahm und uns zum Brausetrinken in den Dorfkrug einlud. Unser Schlemmerleben blieb nicht verborgen, und eine gehörige Tracht Prügel belehrte den armen Sachs, dass die gemopsten neuen DM-Geldstücke keineswegs nur besseres Altmetall waren.

Auch was das Angeln anbetraf, spielte das neue Geld eine Rolle. Was meine Gebete nicht hatten bewirken können, vermochte die frisch eingeführte Währung: Es gab wieder Angelhaken. Nachdem ich lange genug gequengelt hatte, kaufte meine Kutter mir einige Haken, ‘ebenfalls Sehne, ein aus dem Knick geschnittener Stock diente als Angelrute, und dann zog ich mit den anderen los zum Angeln. In der Umgebung Homfelds gab es mehrere Möglichkeiten, unsere Köder auszuwerfen. Die Fischteiche von Waldhütten stellten das lohnendste Ziel dar, waren aber trotz der lockenden Forellen nicht zu empfehlen, denn wurde man erwischt, so setzte es eine ordentliche Tracht Prügel. Die Buckener Au enthielt damals ebenfalls Forellen, die sich aber hartnäckig weigerten, von uns gefangen zu werden. Also zogen wir zu einer Lehmkuhle oder zu einem kleinen natürlichen Teich, wo es vor Karauschen, plattdeutsch „Kruutschen“ genannt, nur so wimmelte. Diese waren eine leichte Beute.

Eines Tages bestand ich trotz der Warnungen meiner Großmutter darauf, dass meine selbst gefangenen Fische, mir schwoll stolz die Brust ob meines Fanges, in der Pfanne zubereitet würden. Statt ein Festmahl zu genießen, spuckte ich Gräten um mich und würgte tapfer einige Bissen des modrig schmeckenden Fleisches hinunter. In Zukunft verschenkte ich großmütig meine Beute an andere. Betrachte ich, wie heute Kinder in der Stadt aufwachsen, möchte ich trotz der Härte der Nachkriegszeit um nichts in der Welt meine Kindheit als Herr der Homfelder Feldmark mit jemandem tauschen: Ungezwungen lebend, sich selbst überlassen, in Freiheit sich austobend, von Dusche, Flüssigseife und anderen Errungenschaften der Zivilisation unbehelligt, zum Friseur in Innien nur unter Drohungen und Versprechungen geschleppt oder gelockt, wo der Dorfbarbier vergeblich aus meiner verwilderten strohblonden Mähne mittels Haarschneidemaschine, Kamm und Schere eine schmucke Kurzhaarfrisur zu zaubern versuchte, wie es sich, so hätte meine Tange Hermine gesagt, „für einen deutschen Jungen gehört.“

DER THEODOR, DER THEODOR

„Der Theodor, der Theodor, der steht bei uns im Fußballtor.“ Wie ging es in diesem Schlager eigentlich weiter, der, 1948 von Theo Lingen gesungen, laufend aus den Radiolautsprechern dröhnte? Ach ja, so war es ..

„Wie der Ball auch kommt,
wie der Schuß auch fäll,
der Theodor, der hält.
Die Männeraugen werden wach,
die Mädchenherzen werden schwach.
Wie der Bal auch kommt,
wie der Schuß auch fällt,
der Theodor, der hält.“

Damals, im Jahre 1948, konnte ich, ohne zu stocken, mitsingen, und ich hätte zu gern auch im Fußballtor gestanden, weniger wegen der schwach werdenden Mädchenherzen als wegen der einfachen Tatsache, dass Fußball eine meiner Leidenschaften wurde. Aber meiner Keeperkarriere stand im Wege, dass es keinen Fußballverein in Homfeld gab und auch niemand Besitzer eines Fußballes war. Das einzige ballartige, was wir Kinder ab und zu mit kecken Tritten und ungeschmälertem Spaß über das Dorfpflaster trieben, war eine Schweinsblase.

Hörten wir morgens das typische markerschütternde Quieken eines Borstenviehs, das zu ahnen schien, dass seine letzte Stunde gekommen war, während der Schlachter noch einmal das Bolzenschussgerät prüfte und die letzten Handgriffe zur Vorbereitung des Schlachtvorganges getan wurden, eilten wir Dorfkinder herbei. Galt es doch, wenn die Bauchhöhle des an einer Wand aufgeleiterten toten Schweins geöffnet wurde, um die Innereien herauszulösen, die Blase und den „Swiensteert" zu erbetteln. Der Schweineschwanz wurde, möglichst vom Opfer unbemerkt, jemandem zum Gaudi aller hinten an der Kleidung befestigt; die Blase diente, mit Luft gefüllt und einem Stück Band abgebunden, als Fußball.

Sie sprang, da eiförmig und nicht rund geformt, zwar eigenwillig, war an sich auch etwas zu leicht, erzeugte aber doch den nötigen kribbelnden Reiz in den großen Zehen von uns fußballerischen Nachwuchstalenten, wenn wir mit ihr herumkickten. Je nach der Härte der Tritte und ob wir barfuß oder mit Schuhen spielten oder ob das Spielfeld, meist die nächstbeste Koppel, mit glattem oder mit Stacheldraht versehen war, dauerte das Vergnügen einige Stunden bis einige Tage, bis sie mit einem vernehmbaren „Prffrt" ihre Luft von sich und damit ihren Geist aufgab. Was nun? Sollte meine Torwartlaufbahn so schnell zu Ende sein?

Ich muss meiner gepeinigten Mutter, die die DM-Bestände der Familie nicht vergeudet wissen wollte, wohl sehr hartnäckig mit dem Wunsch, zum Geburtstag oder zu Weihnachten unbedingt einen Fußball geschenkt zu bekommen, in den Ohren gelegen haben, denn schließlich wurde ich Besitzer eines wunderschönen Balles, des einzigen im ganzen Dorf. Das führte zu erheblicher Erhöhung meines Ansehens, und ich sah mich plötzlich von älteren Jungen umworben, deren Interesse aber wohl mehr dem Ball als meiner Person galten.

Die nun folgenden munteren Bolzereien auf den Koppeln schienen meinen Aufstieg zum Helden im Fußballtor, egal „wie der Ball auch kommt, wie der Schuss auch fällt", unaufhaltsam zu machen, auch wenn es zuweilen vorkam, dass ich, wenn ich todesmutig nach dem Ball hechtete, danebengriff und statt des Leders einen übelriechenden Kuhfladen in den Händen hielt. Ob bei meinem besudelten Anblick die „Mädchenherzen schwach“ geworden wären, erscheint in der rückwärtigen Betrachtung unsicher, aber daran war mir damals ohnehin noch nicht gelegen.

ABSCHIED

Dampfzug am Bahnhof Innien[16]

Gesprochen wurde im Familienrat über das Thema schon seit längerem, diesmal ohne „Don't talk about it“ unter Einbeziehung von uns Kindern: Wiebke würde zu Ostern 1950 in die 5. Klasse versetzt werden und könnte dann nach der damals noch obligatorischen Aufnahmeprüfung, an deren Bestehen kein Zweifel bestand, auf die Oberschule für Mädchen gehen, dem Neumünsteraner Lyzeum, wie sich die Klaus-Groth-Schule in jenen Zeiten noch nannte. Blieben wir in Homfeld, so müsse sie die drei Kilometer zum Bahnhof in Innien entweder gehen oder mit einem zu erwerbenden Fahrrad zurücklegen, und das bei Wind und Wetter zu jeder Jahreszeit, dann den Zug nach Neumünster nehmen, in Neumünster noch ungefähr 500 Meter vom Bahnhof zur Schule gehen und nach Schulschluss denselben Weg zurück bewältigen.

Die Entscheidung konnte gar nicht anders ausfallen: Meine Mutter musste sich bemühen, in Neumünster eine Wohnung für uns zu finden, was nicht einfach war. Eines Tages, meine Mutter war mit meiner Großmutter mehrfach zur Wohnungssuche und dann zur Organisation des Umzuges nach unserer Heimatstadt gefahren, stand fest, dass wir Homfeld verlassen würden. ‚Es war der 19. Juni 1950. Unsere wenige Habe wurde in einen Umzugswagen verladen, wir nahmen Abschied von Homfeld, gingen dann den vertrauten Weg nach Innien zum Bahnhof und bestiegen den Zug nach dem rund 15 Kilometer entfernten Neumünster.

Der Schaffner hob seine grüne Kelle, pfiff, der Zug ruckte und fuhr an. Das Fenster vor mir war geöffnet. Ich sah hinaus. Der Bahnhof von Innien wurde kleiner, immer kleiner, die Telefondrähte an den Masten neben den Gleisen schienen auf und nieder zu schweben, als ob sie lebten, und der Rauch der Lokomotive kitzelte meine Nase. Ich schloss das Fenster und setzte mich, während der Zug immer schneller wurde.

Das rhythmische Rattern der Räder brachte mich mit jeder ihrer Umdrehungen meiner neuen und zugleich alten Heimat, meiner Geburtsstadt Neumünster, näher. Zurück blieben meine Freunde Koller und Erni, blieben Homfeld und der Boxberg, und zurückblieb das Tal der Osterhasen.

Einzelnachweise

  1. Linny Claudius (1876 – 1952) war 1919 eine der ersten beiden Frauen in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Neumünster
  2. Das Werk „Die Geschichte Aukrugs“ von 1995 vermerkt dazu auf Seite 198: „In den fetten Kriegstagen wurde der Aukrug mit Tieffliegerangriffen auf das Militär, aber auch auf Zivilisten noch direkt mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert.“
  3. Für 1950, als bereits manche Evakuierte bzw. Flüchtlinge Homfeld wieder verlassen hatten, weist die Einwohnerstatistik folgendes aus: Gesamteinwohnerzahl ... 483; davon Einheimische ... 295; Heimatvertriebene ... 188. Viele Flüchtlinge zogen ins Rheinland, wo mit dem Wiederaufbau von Bergbau und Industrie dringend Arbeitskräfte gesucht wurden. Quelle: H. Asmus u.a., Die Geschichte Aukrugs, Aukrug 1995
  4. Text zum Ende der Lebensmittelmarken im Jahr 1950 nach Gespräch mit Walter Isernhagen ergänzt.
  5. dtv.-Lexikon, Bd. 9, München 1960
  6. C. Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, Bonn 1991, S. 48
  7. Bei dem Gebäude handelt es sich um die alte Schäferkate aus dem Jahre 1750, die heute als Museumsbau in Bünzen steht.
  8. Die Fotos der Reichskleiderkarte aus dem Archiv von W. Isernhagen wurden erst nachträglich vom Chronikteam ergänzt.
  9. Die Steintafel zeigt oben in der Mitte ein Hakenkreuz, das nach dem Krieg weggemeißelt wurde, umgeben links von Eichenblättern, rechts von Getreideähren, worauf als Text folgt:
    „400 Jahre
    Familienbesitz
    1538 Trede - Ratjen 1938
    gewidmet vom Familienverband
    Ratjen - Ratjen“
  10. Über meinen Lehrer Zillen heißt es in der „Geschichte Aukrugs“ (S.238): „Lehrer Zillen als Parteimitglied musste gehen und Lehrer Burmeister wurde sein Nachfolger... 1948 wurde Lehrer Walter Zillen wieder eingestellt.“
  11. Bizone wurde die ab 1947 zum vereinigten Wirtschaftsgebiet zusammengeschlossene amerikanische und britische Zone genannt.
  12. Seit Mitte der 60-er Jahre wird die Einschulung nach den „Sommerferien vorgenommen. Davor gab es zwischen der Einschulung nach den Osterferien auch noch eine Woche Pfingstferien. Kein Wunder, dass sich das bisher Gelernte nach den Sommerferien aus den Köpfen der Kinder verflüchtigt hatte.
  13. Chr. Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, Deutsche Geschichte 1945 — 55 Bonn 1991, S. 188 ff.
  14. Der Hintergrund dieser Merkwürdigkeit: Münzstätten fehlten die Kapazitäten zur Prägung neuen Münzgeldes. Die Reichsbankmünzen von einem Pfennig bis zu einer Mark galten zu 1/10 ihres Nominalwertes weiterhin. Neues Münzgeld wurde erst in den ersten Monaten des Jahres 1949 in Umlauf gebracht. Am 31. März 1949 hatten dann alle Reichsbankmünzen ausgedient. Aus dem gleichen Grunde, nämlich wegen fehlender Möglichkeiten zur Herstellung von Scheidemünzen, wurden am 20. August 1948 Kleingeldscheine zu fünf und zu zehn Pfennigen in der Größe von Sonderbriefmarken, 4x6 cm, in Umlauf gesetzt. Diese waren bis zum 30.9. bzw. 31.10. 1950 gültig.
  15. Als „Sandreiter" wurde derjenige verspottet, der von seinem Pferd abgeworfen worden und in den Sand gefallen war.
  16. Das Foto des Zuges am Bahnhof wurde erst nachträglich aus dem Museumsarchiv vom Chronikteam ergänzt.