Archiv:Briefe meiner Mutter 1943
BRIEFE MEINER MUTTER 1943
18.2.43
„Liebe Hermine,
Grete platzte gestern früh vor Neid, als sie mir 7 Stoffbahnen brachte.[1] Darunter war Dein langer Brief. Ich danke Dir dafür, und daß Du mir Karls (Brief an Dich) schicktest, hat mich auch sehr gefreut.
Von Karl waren zwei Briefe und eine Karte dabei. Der letzte Brief war vom 2.2., auf ganz kleinen Blockfetzen eng beschrieben. Er hat böse 3 Wochen hinter sich und wahrscheinlich noch mehr dabei verloren als nur seinen Schreibblock, ... Er schreibt auch sehr ernst. Aber nach Karl liegt die Hauptentscheidung (über den Krieg) erst in vielen Jahren ... Daß es dann der Sieg und keine völlige Niederlage sein wird, müssen wir doch weiterhin hoffen. Ich sehne erst mal den nächsten Urlaub herbei.
Gestern erhielt ich auch endlich eine Zusage von einem Hotel in Ording; aber wir müßten schon im Juni kommen. Da habe ich zugesagt, und wir hoffen, daß uns ein schöner Sommeraufenthalt im Sand und in den Dünen vergönnt sein wird. Das Hotel stellt sich um die Zeit auf Kleinkinder ein, kocht extra für sie und läßt die Lütten voressen. So hoffen wir dann das Beste. Wir sparten Butter über und Brot, da kann uns also nichts passieren.[2] Sollte Vati um die Zeit hier sein, so Rann er schön mit. Ein Bett ist ihm als Fronturlauber ja sicher. Vorläufig freuen wir uns drauf. Das Hotel, ich kenne es von außen, hegt direkt an den Dünen und am Stand. Ideal!
Du weißt ja, unsere Mägen! Ich habe immer Hunger. Und mal richtig Lust nach was. Uns ist es in diesem 4. Kriegswinter bisher ... gut gegangen, und alles bloß, weil wir nie froren. Durch den milden Winter ... sparten wir enorm .....
Den Kindern geht es gut. Sie sind ein Geschwisterpaar, wie es sich gehört, mit Liebe und Krach. Wiebke ist ja ein Deubelchen mit Temperament. Warst Du das auch? Und Walter ist ein echter Junge, auch unter uns Frauensleuten. Er ist ganz goldig. Dick, und wohl, stark, und stämmig. Er geht immer noch nicht allein, sondern an allen Möbelstücken entlang, und die großen Flächen überquert er krabbelnd wie ein Hund, ganz fix.. Am liebsten aber geht er an einer Hand von uns Großen.
Gerade jetzt ist er bei mir in der Stube „losgelassen“, d.h. nicht im Stall. Das übrige Volk ist fort. Aber meinst Du, ich kann in Ruhe schreiben? Immer steht er neben mir, zupft an meinem Arm, ruft „Mama“ und will, daß ich mit ihm marschiere. Na, wir machen einige Runden, und dann schreibe ich wieder ein paar Sätze. Aber gleich ist er wieder da! ... Oma hat 20 Schüler pro Woche.[3] Sie nimmt meistens die Gören mit und tobt mit Walter im Zimmer. Den größten Unsinn machen sie. So packte er kürzlich den Kohlenkasten leer. Tante Else wirkt in alter Frische.
Ich selber bin sehr beschäftigt, erst hatte ich abends den Lesefimmel, jetzt die Nähwut. Ich nähte Hemdblüschen für Walter, jetzt Nachtsöckchen für die Deern. Mein Programm ist noch groß. So soll es noch 2 Trainingshosen für Walter geben aus meiner alten Trainingsbluse und eine Jacke dazu aus den Resten. Und noch ein Strandhöschen aus einer Schürze und etliches mehr. Und was Dich überraschen wird: ich unterrichte wieder! Nachdem 3 Kolleginnen und endlich der Chef selbst kamen, wurde ich weich; ich sagte aber nur für eine Std. am Morgen zu, und zwar den englischen Anfangsunterricht. Die Dame wurde krank, und es hieß sich kein Ersatz schaffen. Ende April geht die Schule wohl in die KLV, so daß die Sache abzusehen ist.[4]
Sie hätten mir gern einen halben Auftrag gegeben, aber das wird mir zu viel nebenbei, vor allem meiner Mutter, die nicht ihre Stunden lassen will und nicht nur Kinderfrau sein will, wie es sie dann ja müßte. Das kann sie auch nicht mehr. Walter ist zu schwer und derb, man braucht eine große Kraft, um ihn anzuziehen, immer zerrt er nach der anderen Seite. Nie hält er still! Ich nehme zur Zeit Lebertran. Könnt Ihr den nicht auch durch Eure Apotheker-Beziehung beschaffen als Fettersatz? Liebe Hermine, ich grüße Dich und Rudolf.[5] Und wünsche Euch gute Kraft für die jetzige Zeit!
Eure Claudia[6]“
Als meine Mutter diesen Brief schrieb, schmiedete sie noch Pläne für einen Sommerurlaub mit uns Kindern an der Nordsee, wenn möglich mit unserem Vater. Sie ahnte noch nicht, daß sie einige Wochen später das Los Millionen anderer Frauen teilen würde, das der Kriegerwitwe.
Mein Vater fiel im März 1943. Er hatte den Rückzug der Heeresgruppe Süd in Rußland im Winter 1942/43 mitgemacht. Im Brief meiner Mutter ist von „bösen Wochen“ die Rede.
Danach wurde er mit einer neu aufgestellten Einheit, die Verstärkung für Rommels in Tunesien eingeschlossenes Afrika-Korps bringen sollte, dorthin in Marsch gesetzt. Sein Regiment wurde in Palermo eingeschifft, auf hoher See aus der Luft und vom Wasser her angegriffen und völlig zerschlagen. Meines Vaters genauer Todestag ist nicht bekannt. Er wurde später auf den 24. März 1943 festgesetzt. Anfang April wurde seine Leiche ohne äußere Verletzungen auf Sizilien angeschwemmt. Er scheint ertrunken zu sein. Mein Vater fand eine erste Ruhestätte in Cefalü: ein einfaches Soldatengrab. Später wurde er umgebettet. Heute liegt er in der Kriegsgräberstätte Motta St. Anastasia bei Catania.
Meine Mutter mußte ihr Leben nun ohne männlichen Beistand meistern. Sie fand Halt bei ihrer Mutter und deren Schwester, Tante Else. Doch sie suchte auch Trost und Hilfe bei ihren angeheirateten Verwandten.
Merkwürdigerweise datiert der nächste Brief erst vom Februar 1945. Ich vermute, daß die in der zweijährigen Zwischenzeit geschriebenen Briefe verlorengegangen sind, und meine, mich zu entsinnen, daß meine Tante Hermine ihre Wohnung in Spandau auf der Flucht vor der Roten Armee überstürzt kurz vor Ende des Krieges verlassen mußte. Sie ließ ihre Möbel zurück, verpackte einige Habe in Kisten und hoffte, alles in ruhigeren Zeiten wieder in Besitz nehmen zu können.
Hermine flüchtete zu ihrer Schwester Berta, verheiratete Voss, auf deren Bauernhof im heimatlichen Schätzendorf. Dort fand auch ihr Mann Rudolf Zuflucht. Die Kisten gingen verloren, und damit wohl auch die Briefe meiner Mutter von Februar 1943 bis Anfang 1945.
Inzwischen hatten auch wir unser Zuhause verloren. Der nächste Brief wurde bereits in Homfeld geschrieben.
Fussnoten
- ↑ Grete Rey ist die Tochter der ältesten Schwester meines Vaters, somit eine angeheiratete Cousine meiner Mutter.
- ↑ Ich nehme an, es wurden für den Hotelaufenthalt Marken der Lebensmittelkarten verlangt, die bereits angespart wurden.
- ↑ Mit „Oma“ ist hier die Adoptivmutter meiner Mutter, also meine Großmutter, gemeint. Sie gab als ehemalige Lehrerin Nachhilfeunterricht.
- ↑ Mit der KLV ist die Kinderlandverschickung gemeint, wobei ganze Schulklassen samt Lehrkräften aus von Luftangriffen gefährdeten Städten aufs Land, meist außerhalb der Reichweite der alliierten Flieger, evakuiert wurden, häufig für längere Zeit.
- ↑ Rudolf ist der Ehemann meiner Tante Hermine.
- ↑ Meine Mutter trug seit ihrer Studentenzeit den Spitznamen „Claudia“, abgeleitet von ihrem Familiennamen Claudius.