Archiv:Briefe meiner Mutter 1945

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BRIEFE MEINER MUTTER 1945

13.2.45

„Liebe Hermine!

Gestern erst kam Dein Brief, vom 8. gestempelt, hier an. Ich habe mir schon gedacht, daß Du um Deinen Mann in Sorge sein müßtest und mir einen ähnlichen Bericht über ihn schon vorgestellt. Es tut mir sehr leid, daß er noch diesen schlimmen Rückzug erleben mußte und dabei sicher so viel Elend’ sah. Ich wünsche ihm, daß er nun erst mal Urlaub bekommt. Wie schade auch, daß ... alle Eure Kisten verloren sind! Hoffentlich bleibt Eure Wohnungseinrichtung Euch erhalten! Von Karl rettete ich ja 4 Anzüge, die uns hoffentlich noch mal gut nützen können; aber wenn Rudolf ganz knapp darin ist oder wird, so meldest Du Dich bitte! Mit welcher Sorge man nun dem Kommenden entgegensieht, nicht?

Wir haben es hier gerade so nett, und ich mache mir gar keine Illusionen über das Elend der Landstraße. Das ist grauenhaft! Ich möchte das meinen Kindern erspart wissen... Flüchtlinge sind in unserm Dorf noch nicht erschienen. Tun sie es, so wird man für die Kinder etwas raussuchen müssen. Auch wir finden da noch was. Adeles Haus ist nun ja mehr als voll, sicher schwer für beide Teile.[1] Tante Elses Stube ist Fertig.[2] Nun mag sie aber gar nicht abends aus der warmen Stube heraus! Du glaubst nicht, wie schön es hier ist. Riesenwälder und runde Heidekuppen! So voller Pilze! Wir sind ja solche Pilzesser. Und die gibt es von August bis November... Grüß mir allesamt in Schätzendorf ...! Hoffentlich kannst Du bald Deinen Mann versorgen! Siegfried schickten wir auch jetzt eine Karte, vor 14 Tagen etwa... Wenn er bloß besser bei Gesundheit wäre und würde![3]

Herzliche Grüße

Deine Claudia“

25.12.45

„Liebe Hermine! Nun ist das Fest glücklich heran und damit erst mal etwas mehr Luft. Ist das schön! Die erste freie Zeit soll für Dich sein. Dein Brief war ja schon beinahe ein Buch, und was 3 Päckchen an Arbeit allein enthalten, weiß ich auch. So danke ich Dir sehr, daß Du die Kinder so erfreut hast. Außer den paar unreifen geklauten Äpfeln im Herbst haben sie in diesem Jahr keinen Apfel noch Birne gesehen ... So wissen sie gar nicht wohin vor Freude, daß sie eine Woche lang einen Apfel’pro Tag haben dürfen.

Ich machte ihnen zum ersten Mal einen Naschteller, der dank, Deiner Kuchen nun auch öfter nachgefüllt werden kann. Von Tante Emma ein Marzipanbrot und vom Staat ein Stück Schokolade ... und ein Fruchtbrot machen diesen Teller zu einem Erlebnis...[4] Ich glaube, das Nötigste wären 2 Hemden für Walter. Was er an Hemden anhat, das bezeichnet Oma morgens beim Anziehen jeden Tag mit einem anderen kräftigen Ausdruck. Aber was hilft es? In vielen solchen Dingen sind wir so arm, abgerissen und heruntergekommen wie die ärmsten Leute. Du siehst, Du erfreutest uns mit allem. Die Freude auf Weihnachten war groß. Und als es gestern dann losging, haben sie sich ganz reizend benommen. Sie hatten große Freude am geschmückten Baum und bejubelten jede Kugel usw. Dann sangen sie etliche Lieder, und erst dann stürzten sie auf ihre Sachen. Viele waren es ja dieses Jahr nicht, aber sie sind doch sehr zufrieden.

Ich machte 8 Puppen zum Verschenken. Die sind so Clowns oder Bajazzos, mit denen wir heute um 16 h Theater spielen wollen. Sie sind niedlich geworden, so Hosen und Jacken, weißt Du, verschieden, ein Bein rot, eins blau usw. Mit spitzen Mützen. Da ich ja auch die Körper selbst machen muß, ist so ein Ding eine Arbeit von 3 Abenden. Ich nähe auch sonst alles selbst, kaum mehr Tante Else, Mantel und Hosen, alles mache ich. So ganz die Assessorin, die unpraktische, bin ich längst nicht mehr.

So z.B. mußte ein Riesenhaufen Buschholz weggehackt werden. Das letzte erledigte ich Sonntag früh mit Hofreinmachen. Aber ich schaffte es doch noch. So wollen wir denn diese Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nicht so wild schuften. Nach Neujahr allerdings geht's wieder los.

Hier müssen die Bauern viel Holz schlagen, so 500 — 1000 m pro Bauer.[5] Ich denke, daß es da viel Abfall von den Zweigen zu erwischen gibt. Da gehe ich denn auch mit einem Beil los und mache mir schöne Haufen fertig. Beim letzten Mal hatte mein Haufen den Wert von 2 m Buchenholz; das ist schon was. Alles dicke Äste!

Ich glaube, Du hast eine falsche Vorstellung von unserem Wohnen und Leben. Wir wohnen nicht beim Bauern auf dem Bauernhofe, sondern bei Stadtleuten, die hier ein Haus haben, das früher ein Landhaus für eine Familie war und das diese Leute schon lange vor dem Krieg in 2-Stubenwohnungen umgebaut haben und worin sich auch noch unsere große Stube befindet, die frühere Schmiedewerkstatt.

Wir haben also nichts mit Bauern zu tun so im täglichen Leben, aber durch unsere Bekanntschaft mit den großen Höfen (120 — 240 ha) sehe ich allerlei von der Bauernwirtschaft. So sehe ich, daß sie jetzt, wo die Kühe trocken stehen und das Schweineschlachten verschoben ist, auch allerlei phantastischen Brotaufstrich machen, von dem sie früher keine Ahnung hatten. Ich höre an einem Tag viel Gestöhne und sehe am nächsten, wenn ich durch die Küche (eines Bauern) marschiere, fettriefende Pfannkuchen in der Pfanne oder Speckstücke. Oder ist es Taufe, Geburtstag, Beerdigung: immer mit den schönsten Kuchen.

So fahre ich mit trockenem Brot nach Neumünster, und unsere Bauersleute, die ja auch gar nichts mehr haben, haben dann, wenn sie zur gleichen Zeit mit mir fahren, schönste Wurst drauf! Also doch! Na ja, so etwas in Reserve! Jetzt gibt's ein paar magere Wochen und hinterher wieder schönste Sachen ...

Wahrscheinlich habt Ihr Euch oft gedacht, daß wir mehr kriegten, als Tatsache ist, aber es wäre doch ganz nett, wenn die kleinen Karlkinder auch mal’ so ein ganz klein wenig kriegten! ... Und so habe ich denn ganz offen gebettelt. Und da ich das nicht für mich mag und will, machte ich den Unterschied zwischen den Kindern und mir. Nur deshalb! Und, offen gesagt, er scheint ja auch im Voss- und Asche-Haus gemacht zu werden, denn sonst würde man dort doch von selbst auf die Idee kommen, wenigstens Karls Kindern mal so einen Gruß zu schicken, einen ganz kleinen.[6]

Wir kriegten 2 Perioden lang nur 50 gr Butter, jetzt 62 gr.[7]Das reicht nur 4 Tage (für) 2-3 Scheiben pro Tag ... Gut, daß wir den Sirup haben! Du wunderst Dich, daß wir nur einen Zentner zur Zeit machen? Ja, wir haben hier doch keine Waschküche, keine großen Tröge, keine Rübenschneidemaschine, nichts als ein paar Schüsseln und einen 40-Liter- Kochtopf-Wäschetopf geliehen. Die dreckigen Rüben selbst gereinigt in Schüsselchen, mit (dem) Messer zerschnitten, die Schnitzel dann in der Stube gekocht in 2 x Kochen, da ja nur 50 Pfund in den Topf gehen ... Nur den Saft kochten wir dann im Waschkessel beim Bauern, da der Dampf unsere Stube ja tropfnaß gemacht hätte. Auch die Presserei, alles in unserer Stube war eine große Schweinerei! Da ist ein Zentner schon genug! ... Unsere Kleider schimmeln im Schranke, unsere Schuhe unter dem Bett sind grün, unsere Koffer, die harmlos im Zimmer stehen, und die 2 Ledertaschen auf dem Nachtisch ebenfalls. Der äußere und innere Mensch hier verschimmelt ...

Das Unterrichten in der Schule rät mir jeder.[8] Merkwürdig! Keiner erwähnt, daß ich 2 Kinder habe, ganz kleine, die ein Zuhause brauchen. Die können ja einfach bei Oma und Tante ewig bleiben, und ich kann fortgehen (zur Arbeit), als wenn sie gar nicht da wären! Verzeih‘, aber dies bringt mich immer wieder hoch! Ganz hoch sogar! ... Natürlich bin ich ein weißes Schaf. Ich würde sofort genommen.[9]

Der Briefverkehr mit England geht noch nicht wieder. $o hörten wir noch nichts (von unseren englischen Verwandten)...

Hoffentlich geht es Dir weiter besser! Die Gesundheit ist doch das beste. Ich lag 3 Tage Typhus-verdächtig, im September. Mutter und Tante waren so unglücklich; ich habe mich so um die Kinder gegrämt ... Daß Berta nun so früh so schwer krank, werden mußte, ist wirklich traurig für die ganze Familie und den Hof!

So, nun schrieb ich hier allerlei zusammen, viel dummes Zeug dazu; aber wunderlich kann man in dieser Welt schon werden. Ich habe ja niemanden in meinem Alter, nur dreckige Arbeit als Gesellschaft! Niemals kann ich mit jemandem reden, so wie früher, mit Leuten, zu denen man gehört. Ich bin schon ganz durchgedreht und reizbar wie ein Stier. Das merkst Du nicht?

In Neumünster sah ich auch nichts als Elend. Wie gräßlich die dort leben![10] Besatzung haben wir nicht gekriegt. Ich hatte noch nie mit Engländern zu tun. So, nun möge Euch allen das neue Jahr gute Überraschungen bringen; vielleicht gibt's doch ein paar Lichtblicke. Ich freue mich auf den Frühling und Sommer!

Eure Claudia

13 Kinder waren eben eine Std. bei uns zum Kasperle hören; das langt, nicht?“

Fussnoten

  1. Adele Asche, Schwester meines Vaters und damit Schwägerin meiner Mutter, mußte offensichtlich Flüchtlinge in ihrem Haus in Schätzendorf aufnehmen.
  2. Meine Großtante Else bezog im gegenüberliegenden Haus der Familie Blöcker eine kleine, unbeheizbare Dachkammer.
  3. Siegfried Küster, Studienkollege und bester Freund meines Vaters, hatte im Krieg eine schwere Kopfverletzung erlitten.
  4. Tante Emma ist eine weitere Schwester meines Vaters.
  5. Sie „müssen“ deswegen, weil dies auf Anordnung der britischen Militärverwaltung geschah, denn ein Teil der Deutschland auferlegten Reparationen bestand in der Lieferung von Holz.
  6. Meine Tante Berta war verheiratet mit Ernst Voss, der einen Bauernhof in Schätzendorf hatte, ebenso wie der Mann meiner Tante Adele, Karl Asche.
  7. Die Lebensmittelzuteilung per Lebensmittelkarten galt für einen bestimmten Zeitraum, Zuteilungsperioden genannt.
  8. Anscheinend hatte auch Hermine meiner Mutter geraten, ihre Unterrichtstätigkeit als Lehrerin wieder aufzunehmen.
  9. Meine Mutter war insofern „ein weißes Schaf“, da sie, im Gegensatz zur übergroßen Mehrheit der Lehrerschaft, nicht politisch belastet war. Sie war, außer in der NSV, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in keinerlei NS-Organisation Mitglied gewesen.
  10. Unsere Heimatstadt Neumünster war durch mehrere Bombenangriffe schwer zerstört worden. Das Leben dort war härter als das auf dem Lande.