Archiv:Persönliche Erinnerungen an Professor Henning Ratjen

Aus Aukrug Geschichte Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Professor Henning Ratjen

Persönliche Erinnerungen an Professor Dr. jur. und Dr. phil h. c. Henning Ratjen

an der Universität zu Kiel,

mitgeteilt auf dem Familientag der Ratjen in Innien am 24. Juni 1934 von Fr. Freytag, Hauptpastor i. R. in der Stadt Nortorf / Holstein.

Durch Herrn Lehrer Reimer bin ich von Ihnen aufgefordert, am heutigen Tage in Ihrer Mitte in kurzen Zügen ein Lebensbild eines der bekanntesten und berühmtesten Glieder Ihrer Familie, des Konferenzrates und Professors an der Kieler Universität, Henning Ratjen, zu zeichnen. Ich tue das mit besonderer Freude, da ich wohl zu den Wenigen gehöre, welche diesen Mann noch persönlich gekannt haben und als Knabe und Jüngling zu großer Verehrung für ihn und seine Familie erzogen bin. Wenn ich nun versuche, diesen Mann vor Ihren Augen wieder lebend erstehen zu lassen, so erfülle ich damit nur eine Pflicht der Pietät.

Wie ich im Jahre 1892 als Pastor nach Nortorf kam, machte ich, wie es sich gehört, zuerst meinen Besuch bei den damaligen Kirchenältesten. Zu ihnen gehörte der schon hochbetagte Kirchenälteste Hans Jochim Rohwer. Wie ich bei ihm auf dem Sofa sitze, sehe ich mir seine Familienbilder an, welche er nach der damaligen Sitte in großer Zahl in den bekannten, runden, schwarzen Rahmen über dem Sofa an der Wand befestigt hatte. Leider ist es in der letzten Zeit Mode geworden, fast nur ein Bild im Zimmer aufzuhängen, welches oft wenig genug dem Beschauer zu sagen hat, und namentlich alle Familienbilder aus dem Zimmer zu verbannen. Wir müssen, meine sehr verehrten Damen und Herren, schon um unserer Kinder willen zur alten Sitte zurückkehren. Was unsere Kinder in ihrer Jugendzeit an Bildern an den Wänden unserer Wohnung sehen, begleitet sie ihr Leben lang. Was trägt mehr zur Pflege der Pietät bei, als das tägliche Sehen der Bilder unserer Vorfahren? Was erweckt mehr den Frage= und Wissensdurst der Kinder, viel über die Persönlichkeit ihrer Vorfahren zu erfahren, besonders, wenn es nicht nur rechtschaffene, sondern auch hervorragende Leute gewesen sind, als eben ihre Bilder! Was bewirkt in den jugendlichen und empfänglichen Gemütern der Kinder mehr die Nacheiferung, es den Vorfahren gleich zu tun, als der Anblick ihrer Bilder und die Erzählung der Eltern von ihren Persönlichkeiten.

Ich entdeckte damals unter den Familienbildern des alten, ehrwürdigen Rohwer eines, das mir von meiner Jugendzeit her lieb und vertraut war. Es war die Photographie des Konferenzrats Ratjen, eines Onkels der Frau Rohwer, einer geborenen Ratjen aus Homfeld. Die Photographie war angefertigt nach einer Zeichnung des in den 70er und 80er Jahren des verflossenen Jahrhunderts sehr bekannten und berühmten Künstlers C. W. Allers, der auch Bismarck gezeichnet hat. Allers war durch die Vermittlung des Kieler Architekten Friedrich Hasselmann nach Kiel gekommen, um die Köpfe hervorragender Männer, die wirklich Köpfe waren, zu zeichnen. In musterhafter Aehnlichkeit ist es ihm bei dem alten Ratjen gelungen. Künstler pflegen in ihren Bildern auf Nebensächlichkeiten keinen Wert zu legen. Ihnen kommt es auf die Wiedergabe des Charakters an. Als der bekannte Maler Lenbach den alten Kaiser Wilhelm malte, und dieser etwas auszusetzen hatte an der unrichtigen Wiedergabe eines Knopfes an seiner Uniform, sagte er zu dem Kaiser: „Majestät, i mal nit Knöpf, i mal Köpf.“ Und dabei blieb es. — Nun gibt es eine sogenannte Wissenschaft, die man Chiromantie nennt. Man meint, aus den Händen Charakter und sogar das Schicksal eines Menschen ablesen zu können. Allers hat Aehnliches auch gemeint. Bei der Zeichnung des alten Ratjen hat er die größte Sorgfalt auf die rechte Wiedergabe seiner Hände gelegt, und das mit Recht. Man sieht, wie seine Hände eine geliebte, alte Handschrift umfassen, mit der einen sie hält, mit der andern über die krausen Buchstaben zart und liebevoll hinwegfährt, um den Sinn der Handschrift mit aller Sorgfalt, Zuverlässigkeit und Gründlichkeit zu erfassen. Es sind außerordentlich schöne, langgeformte, schmale Hände. Wer sie auf dem Bild mit Aufmerksamkeit ansieht, sieht daraus den ganzen Mann — einen Mann außerordentlicher Gelehrsamkeit und Weisheit, einen Mann der Sorgfalt, Gründlichkeit, Zuverlässigkeit und Treue, einen Mann, der mit Energie sein Ziel verfolgt, und einen Mann eines zarten Gemüts, das der Liebe fähig ist, nicht gerade für das öffentliche, rauhe Leben geschaffen.

Ratjen war von großer Gestalt, hager und mager. Er hatte, wie man es heute besonders wertschätzt, einen Langschädel, der seine arische, nordische Herkunft einwandfrei bezeugte. Unter einer hohen Stirn und buschigen Augenbrauen leuchteten ein Paar heller Adleraugen, darunter eine große Nase, ein Zeichen der Klugheit, und ein großer Mund mit schmaler Ober= und breiter Unterlippe. Seine Haltung war etwas nach vornüber geneigt. Langes grauweißes Haar hing ihm bis auf die Schulter, der Kopf oben bedeckt mit einer schwarzen Kalotte. Er trug sich wie ein Pastor der alten Zeit in langem, schwarzem Gehrock mit einer weißen Halsbinde. Ein Bild der Zucht, Ordnung und Schlichtheit. So habe ich ihm als Kind und als Jüngling gegenübergestanden, einer Gestalt, die jedem den allergrößten Respekt durch ihre Erscheinung abnötigte. — Er verfügte nur über eine schwache, dünne Stimme, ungünstig für den Vortrag eines Hochschullehrers. Aber ein ungünstiges Organ hatte auch der große Historiker Treitschke, und der Lehrer und spätere Kollege Ratjens, der Geschichtsprofessor Dahlmann. Aber diese alle setzten sich durch die Gediegenheit ihrer Vorträge und das lodernde Feuer, das in ihnen für die Sache, die sie vertraten, lebte, bei ihren Zuhörern und Schülern durch. Dabei war bei Ratjen kein Wort zu viel und kein Wort zu wenig. Geboren wurde Henning Ratjen am 10. Oktober 1793 in Homfeld, zum Kirchspiel Nortorf und zum Amte Rendsburg gehörig. Sein Vater war Hans Ratjen, der Besitzer einer Vollhufe von ca. 160 Hektar. Seine Mutter war Wiebke, geb. Bünz. Seine erste Jugendzeit von 1793—1810 fiel in eine für die Herzogtümer finanziell noch günstige Zeit. Das Finanzwesen der Herzogtümer war von dem des Königreichs Dänemark getrennt und selbständig. Dort wurde die schon seit Jahrzehnten brüchige Finanzlage unter der klugen Leitung des Staatsministers Andreas Peter 126 Bernstorff und unter dem Tausendkünstler, dem Schatzmeister Graf Schimmelmann und seinem Sohn bis 1800 noch einigermaßen künstlich über Wasser gehalten. Als aber Andreas Peter Bernstorff 1798 starb, sein weniger tüchtiger Neffe Graf Christian Bernstorff ihm folgte, — und auf den schon vorher verstorbenen Schatzmeister sein untüchtiger Sohn Graf Carl, und König Friedrich VI., eine durchaus dem Absolutismus zugeneigte Persönlichkeit, alle Gewalt an sich riß und seit 1800 sein und seines Volkes Glück immer auf eine falsche Karte setzte, gegen England ging und mit Napolcon hielt, — kam es 1813 nach einem unglücklichen Krieg zum Staatsbankrott. Dänemark beschlagnahmte die schleswig=holsteinische Bank in Altona und hob die Selbständigkeit des schleswig=holsteinischen Finanzwesens auf. Die Herzogtümer mußten die schwerste Last des verlorenen Krieges und des Staatsbankrotts tragen. Mit einem Schlage wurden einst wohlhabende Leute zu armen gemacht. Die Hauptlast traf den Grundbesitz. Es war eine Inflation, noch schlimmer als die, welche wir erlebt haben, bei der die einst so reichen Herzogtümer bis 1830 völlig verarmten. 20 Jahre alt war Henning Ratjen, als dies harte Schicksal seine Heimat und auch sein Elternhaus traf, und 21, als im nächsten Jahre, 1814, im Juni zuerst seine Mutter und im September sein Vater starben, beide im Alter von 59 Jahren. Sie hinterließen sieben Kinder, von denen das jüngste Henning war, alle in schwerster pekuniärer Lage. Im Sterberegister wird Henning Ratjen nur als unverheiratet und ohne Nennung seines Standes angeführt. Der Hof aber wurde der Familie erhalten, 2 Jahre lang geführt von einem Bruder und einer unverheirateten Schwester zum Besten der Kinder.

Bei dem Tode seiner Eltern im Jahre 1814 war er bereits in Kiel als Studiosus der Rechtswissenschaft immatrikuliert. Ratjen besuchte zuerst die Dorfschule in Homfeld. Nebenbei mußte er, wie alle Kinder der Landleute, in der Landwirtschaft mit tätig sein. Er erwies sich aber bei diesen Arbeiten als so unpraktisch, daß die Eltern sehr bald einsahen, ihr Henning tauge zum Landwirt nicht, er müsse einen andern Beruf ergreifen. Die Pastoren der damaligen Zeit, denen die Aufsicht über die Schulen zustand, hatten ein sehr scharfes Auge auf begabte Schüler. Da Ratjen sich bei Schulvisitationen durch den als Pädagogen ausgezeichneten und berühmten Pastor Meyer in Nortorf durch schnelle Auffassung und gute Antworten hervortat, erbot sich dieser, wie es damals alle Pastoren taten, ihn ohne Vergütung in fremden Sprachen zu unterrichten. 15 Kilometer ist Nortorf von Homfeld entfernt. Wie viele Jahre, wie viele Male in der Woche er diesen weiten Weg gemacht hat, wahrscheinlich zu Pferde, ist uns nicht bekannt. Aber es ist ein Zeichen seines eisernen Willens und seiner Lust zu den Wissenschaften, daß er durchhielt. 1810, im Alter von 17 Jahren, bezog er die Gelehrtenschule in Kiel, 1814 wurde er Student und widmete sich der Rechtswissenschaft in Kiel. 1817 studierte er in Berlin. Wie es damals alle mußten, die studierten. wird er sich auf der Universität nur kümmerlich haben durchschlagen müssen. Aber es bewahrheitete sich an ihm wie an vielen andern das Schriftwort, daß eine harte Jugendzeit treffliche Männer erzeugt. Später ward er Hauslehrer auf Ascheberg bei den Kindern des geistig hochbedeutenden Gutsbesitzers Christian Schleiden, der auch in den politischen Kämpfen um 1815 hervortrat, wo Ratjen teilnahm an dem reichen geselligen Leben dieses Hauses, in dem sich viele Gelehrte, namentlich der Kieler Professorenwelt, Künstler und andere hochgestellte Persönlichkeiten zusammenfanden. Das wird ihm in seinem späteren Leben von großem Vorteil gewesen sein. 1820, nachdem er vorher noch einmal ein Jahr studiert hatte, machte er sein juristisches Amtsexamen und ließ sich im Jahre 1821 als Advokat in Kiel nieder. Zu gleicher Zeit habilitierte er sich als Privatdozent an der juristischen Fakultät und las über Pandekten und Institutionen. 1823 machte er seinen juristischen Doktor. 1826 ward er wegen seiner umfassenden Gelehrsamkeit zum Unterbibliothekar ernannt und 1830 außerordentlicher Professor. 1833 vollzog sich in seinem Leben eine große Wendung. Er ging zur philosophischen Fakultät über, wurde honoris causa zum Dr. phil. ernannt und zugleich zum Professor der Philosophie und Oberbibliothekar befördert. 1834 ward er Vizepräsident der Gesellschaft für schleswig=holsteinisch=lauenburgische Geschichte. Er blieb es bis zum Jahre 1864. 1835 ward er Sekretär der Ritterschaft im Nebenamt und 1844 Syndikus derselben Korporation. Wahrhaftig eine glänzende Laufbahn in kurzer Zeit. Syndikus und Sekretär der Ritterschaft waren in dieser Zeit hochangesehene und einträgliche Nebenämter. 1780 bekleidete das Amt der Ururgroßvater des Vortragenden, Etatsrat Johann Friedrich Jensen, später dessen Urgroßonkel Professor Dahlmann. Des Letzteren Nachfolger wurde Ratjen. Die schleswig=holsteinische Ritterschaft umfaßte die Mitglieder des schleswig=holsteinischen Uradels und seit 1780 auch einige Familien des rezipierten Adels. Sie besaß von 1500 bis 1650 ungeheure Rechte und Privilegien. Sie war sozusagen ein Staat im Staat. Sie hatte außer der Gerichtsbarkeit auf ihren Gütern das Recht auf alle Landratsämter und hatte damit auch die Lokalverwaltung in ihrer Hand. Sie hatte Zollfreiheit und vor allem das Steuerbewilligungsrecht. Als aber Ende des 17. Jahrhunderts die königliche Gewalt absolut wurde, raubte der dänische König der Ritterschaft ein Privileg nach dem andern, bis zuletzt in unsern Tagen von der ganzen Herrlichkeit nichts mehr übrig geblieben ist.

Da die Ritterschaft in den Tagen großer Kämpfe allein ihre Privilegien nicht mehr vertreten konnte, ernannte sie seit ca. 1800 meistens einen juristischen Professor zu ihrem Sekretär und Syndikus. Den heißesten Kampf um ihre Privilegien führte um die Wende des 18. Jahrhunderts Graf Fritz Reventlow auf Emkendorf, um ihn schließlich fast ganz zu verlieren. Aber diese Kämpfe gewannen nach dem Staatsbankrott von 1813 an Bedeutung. Da merkten auch die Bauern, daß es sich hier nicht nur um das Recht des Adels, sondern auch um die Rechte des ganzen Landes und vor allem um den Geldbeutel handelte. Und hier hat von 1835—1848 auch Ratjen seinen Mann gestanden, obgleich er seiner Veranlagung nach mehr ein Mann des Friedens als des Kampfes war. Wer sich mit der Politik abgibt, betritt immer einen gefährlichen Boden. Er steht mitten in der öffentlichen Meinung und muß sich auf beides gefaßt machen, auf Anerkennung oft, oft aber auch auf höchstes Mißfallen. Es gehören dazu, um fest zu stehen, Charakterstärke und Furchtlosigkeit, vor allem das Bewußtsein, auf dem Boden des Rechts zu stehen, weit erhaben über Lob und Tadel. Ratjen war, soviel mir bekannt ist, mit seinem Kollegen, dem Etatsrat und Professor Nikolaus Falk, Gesamtstaatsmann und konservativer Richtung. Er wollte, so lange es sich mit dem Recht vertrug, daß die Herzogtümer mit Dänemark unter einer Krone Dach sein sollten. Er vertrat auch das Recht der Herzogtümer mit Weisheit und Mäßigung in der aufgeregten Zeit um 1848. Er erhielt sich aber das Vertrauen des Königs, seiner Landsleute und auch der Ritterschaft. Eine Ehre nach der anderen häufte sich auf seine Person. 1840 erhielt er den Danebrogorden, 1847 wurde er Etatsrat, 1862 wurde ihm der hohe Titel Konferenzrat zuteil. Schließlich erhielt er in der preußischen Zeit noch den Kronen=Orden II. Klasse und den Roten Adler=Orden II. Klasse in Anlaß der Einweihung des neuen Universitätsgebäudes. Mehrere Male war er Rektor der Universität, zuletzt im Jahre 1863. — 1848 wählte man ihn in die schleswig=holsteinische Landesversammlung, 1854 war er Mitglied der holsteinischen Ständeversammlung, fühlte sich aber in dieser politischen Tätigkeit nicht in seinem Element. Sein Feld war die stille Tätigkeit des Gelehrten. Darum lehnte er 1858 auch seine Berufung in den Reichsrat des dänischen Gesamtstaates ab. In die neuen preußischen Verhältnisse konnte er sich nicht mehr ganz hineinleben. Ein Amt nach dem andern legte er nieder. 1873 feierte er noch unter großer Ehrung den 50. Jahrestag seiner juristischen Doktorierung, um 1875 in den Ruhestand zu treten. Am 21. Januar 1880 ging er nach kurzer Krankheit hochbetagt in Frieden zur ewigen Ruhe, tief betrauert von vielen, insonderheit von seiner geliebten Frau Clothilde, geb. Ackermann, und seinen Kindern.

Ratjen war ein außerordentlich fleißiger und fruchtbarer Schriftsteller. Er war der erste, welcher die heimatgeschichtlichen Handschriften der Universität um 1860 sammelte, ordnete und ein Verzeichnis davon herausgab. Gleichfalls gab er ein Verzeichnis der Handschriften heraus, welche die Herzogtümer Schleswig und Holstein betreffen. Ebenso lieferte er eine Zusammenstellung der für Preußen und Schleswig=Holstein erlassenen Gesetze betreffend die Provinzialstände. Er schrieb ferner einen Beitrag zur Geschichte der Kieler Universität, eine Monographie der beiden Rechtsgelehrten J. C. H. Dreyer und E. J. v. Westphalen. Ferner lieferte er eine Schrift zur Erinnerung an Professor Nikolaus Falk, eine Geschichte der Kieler Universitätsbibliothek, eine Monographie des viel angegriffenen Theologieprofessors Kleuker und Briefe seiner Freunde, eine Monographie des Philosophen Erich v. Berger, eine solche von Johann und Heinrich Rantzau, ferner die Grundrechte des deutschen Volks und der Familien=Fideikommisse. Dann hat er noch geschrieben: über den Verzug nach den Prinzipien des römischen Rechts, eine Antwort auf die Frage: „Hat die stoische Philosophie Einfluß auf die in Justinians Pandekten excerpierten Schriften gehabt?“

Als ich mit meinem jüngeren Bruder Emil Freytag, dem jetzigen Besitzer von adel. Neuhof bei Güstrow in Mecklenburg, in den Jahren 1874—79 die Kieler Gelehrtenschule besuchte, sah ich diesen edlen Mann sehr häufig in dem Hause meines Großvaters, des Hauptpastors Carl Friedrich Christian Hasselmann in Kiel, mit dem ihn eine über 60 Jahre hindurch anhaltende Freundschaft verband. Beide hielten miteinander eine gelehrte Büchermappe. Und sehr oft mußten mein Bruder und ich diese Mappe zu ihm in seine Wohnung in der Haßstraße tragen. Er übertrug seine Freundschaft, die ihn mit meinem Großvater und mit meinem Vater, dem damaligen Mitbesitzer von adel. Westensee, verband, in großer Güte auf uns Knaben. Oft, wenn wir kamen, legte er wie segnend seine Hand auf den Scheitel unserer blonden Köpfe, während seine Gemahlin oft sehr kritisch auf unsere Schuhe blickte, wenn wir das Zimmer betraten. Er erreichte das hohe Alter von 87 Jahren, während mein Großvater, der ein Jahr jünger als er war, 1882 ihm im Alter von 88 Jahren im Tode folgte.

Vielleicht ist es mir gelungen, Ihnen mit diesen Erinnerungen ein lebensvolles Bild dieses vortrefflichen Mannes vor Augen zu führen. Ich erlaube mir, Ihnen, meine verehrten Damen und Herren des Geschlechtsverbandes Ratjen, zum Schluß noch einige Nutzanwendungen ans Herz zu legen, damit der Segen dieses Mannes über seine Blutsverwandten komme, an denen er mit großer Liebe hing. Dies ist das Erste:

1. Ein Bild dieses Mannes sollte in keiner Familie Ratjen fehlen, damit seiner nicht vergessen werde.

2. Trotz seiner hohen Stellung vergaß er seine Familie nie. In jedem Jahre einmal pflegte er seine Familie in Homfeld und in Nortorf zu besuchen. Die Pflege der Liebe unter den Geschlechtsverwandten, besonders zu den Aermeren und Bedürftigeren, muß die rechte Aufgabe eines jeden Geschlechtsverbandes sein, um sie zu heben. Ein jeder muß den Stand des andern achten. Dieser gelehrte Mann liebte den Stand der Landleute, aus dem er hervorgegangen war, über alles. Mein Vater war unter den vielen gelehrten Söhnen und Schwiegersöhnen meines Großvaters der einzige Landwirt, und ihm gerade schenkte er deshalb seine besondere Zuneigung. So oft er ihn traf, im Hause oder auf der Straße, ließ er nicht locker, bis er sich über den Stand der Landwirtschaft ein gründliches Bild von ihm verschafft hatte. Auch er hielt, wie unsere Väter, den Nährstand für den ersten Stand. Dann kam der Wehrstand und zuletzt der Lehrstand. Aber auch die Landleute sollten den andern Ständen die erforderliche Achtung entgegenbringen, ja, sich auch um eine gewisse, allgemeine wissenschaftliche Bildung bemühen. In jedem Bauernhause sollte es in unserer Zeit an einer Büchersammlung nicht fehlen, in welcher vor allem die Geschichte unseres Landes vertreten wäre. Es wäre leicht, ein Verzeichnis der notwendigen Literatur aufzustellen. — Der alte bekannte Vater Bodelschwingh, der selbst zwei Jahre lang praktischer Landwirt war, hat in seiner Lebensbeschreibung die Forderung aufgestellt, alle Akademiker sollten, bevor sie ins Amt träten, zwei Jahre lang Landwirtschaft lernen, eine Forderung, wie sie die heutige Regierung in ähnlicher Weise vertritt. Aber umgekehrt wäre es auch recht und gut. Doch, wann käme ein Mann dann vor lauter Ausbildung und Vorbildung in seinen eigentlichen Beruf?

Ich erwähne ein Drittes: Ich habe den alten, ehrwürdigen Mann sehr oft in der Nikolaikirche in Kiel am Sonntag gesehen. In seinem Vaterhause, wie in seiner Familie war seit alters her der christliche Glaube heimisch. Es war der feste Grund, auf welchem diese Familie stand und den Segen Gottes in ihrem Tun und Lassen gefunden hat. Das Zentrum des christlichen Glaubens, wie es in der Erklärung des 2. Artikels im lutherischen Katechismus zum treffenden Ausdruck gekommen ist, war auch das Zentrum seines Glaubens, auch seines Lebens. Hier hat er noch in seinem letzten Kampf in seiner Todesstunde nach dem Zeugnis seines Seelsorgers seinen Trost und seine Hoffnung gefunden. — Die großen Geschlechtsverbände des Adels haben als ersten Paragraphen ihres Verbandes gesetzt, daß ein jedes Mitglied sich zum christlichen Glauben bekennen und sich die Pflege der Kirche und ihres Bekenntnisses zur Aufgabe machen muß. Geht Gottesfurcht und Glaube weg, geht auch ein Geschlecht zu Grunde. Darum lassen Sie sich dies, meine verehrten Damen und Herren, gesagt sein von Ihrem vortrefflichen Vorfahren und von mir, dem alten Mann, der auch Ihr Geschlecht liebt. Zum Schluß noch ein Viertes: Ein Christ ist nicht bange vor einer großen Kinderschar. Die Ratjen'sche Familie hat sich immer ausgezeichnet durch großen Kinderreichtum. Der Konferenzrat hatte nicht weniger als fünf Söhne. Ich selbst stamme auch aus einer kinderreichen Familie und habe in einem langen, mitten in der Oeffentlichkeit stehenden Leben die Erfahrung gemacht, daß die kinderreichsten Familien auch die tüchtigsten und schließlich die wohlhabendsten wurden. Ich wünsche, daß der Geschlechtsverband Ratjen auch in Zukunft immer viele Söhne und viele Töchter hat, welche nicht nur „Knöpf“, sondern „Köpfe“ sind, die etwas zu bedeuten haben, nicht allein für sich und ihre engere Familie, sondern auch für die Allgemeinheit, für Volk und Land, für Staat und Kirche.

Zeugnis für Henning Ratjen

Zufolge der unterm 18. Dezember 1795 erlassenen Allerhöchsten königlichen Verordnung, die Prüfung der Candidaten der Rechtsgelehrsamkeit betreffend, wurde der candidatus juris Henning Ratjen, gebürtig aus Homfeld, Amts Rendsburg, und folglich Königlicher Untertan, welcher das erforderliche Alter erreicht hat, nachdem er vier Jahre in Kiel und ein Jahr in Berlin studiert, auch die erforderlichen Zeugnisse, worunter eins von dem Lektor der dänischen Sprache, Götzsche in Kiel, nach welchem derselbe ein dänisches Buch lesen und verstehen, wie auch etwas schreiben kann, beygebracht hat, von dem versammelten Collegio des holsteinischen lauenburgischen Obergerichts nach Inhalt der vorerwähnten Verordnung geprüft und demselben wegen gezeigter sehr guter Kenntnisse im römischen Recht und den Antiquitäten, recht guter Kenntnisse im Kommunalrecht, dem vaterländischen Recht und deutschen Privatrecht, in Abfassung der eingesandten speciminum und Beantwortung der schriftlichen Fragen, zum Teil recht guter Kenntnisse in der Geschichte des Römischen Rechts, dem Naturrecht und dem jure canonico, guter Kenntnisse in der Geographie und Statistik, der Universalgeschichte und dem Criminalprozeß, auch in der ausgearbeiteten kleinen Relation, zum Teil guter Kenntnisse in der vaterländischen Geschichte und der Philosophie, sowie hinlängliche Kenntnisse in der Hermineutik des Rechts der zweite Charakter mit sehr rühmlicher Auszeichnung beigelegt, daher ihm hierüber gegenwärtiges Zeugnis erteilt worden ist. Urkundlich etc.

Gegeben im Königlichen holsteinischen Obergericht zu Glückstadt, den 26. Okt. 1820.[1]

Einzelnachweise

  1. Abschrift von Professors Hand liegt bei Heinrich Ratjen, Stammhof Homfeld A / Hohenwestedt Land / Holstein.