Archiv:Unterkunft und Dorfleben in Bargfeld

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Bargfeld 1946, heute Aukrug

Auszug aus dem Kuhstall

Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, als wir ein Zimmer im Dachgeschoss bei Frau Ida Rathjen (genannt Tante Ida), gegenüber vom Bauernhof Harder bezogen. Der Bürgermeister Ehlers hatte dies verfügt. Das Haus gehörte dem Bauer Hannes Rathjen, einem Bruder von Tante Ida. Sie durfte dort bis an ihr Lebensende wohnen, solange sie für den behinderten Bruder Adolf sorgte. Unsere postalische Anschrift lautete:

Familie Willy Walter
bei Ida Rathjen
(24b ) Bargfeld/Post Innien
Holstein

Familie Klemp bekam eine kleine Wohnung im Altenteil (Kate) der Bauernfamilie Johannes Harder und Oma Rogacki, sie bewohnte ein Einzelzimmer im Bauernhof neben dem Pferdestall mit Zugang über die Scheune. Der Bürgermeister hatte auch für die restlichen Flüchtlinge die nötigen Unterkünfte organisiert. Die einzelnen Familien wurden auf die umliegenden Bauernhöfe verteilt. Nach welchem Modus die Wohnungen zugesprochen wurden, entzog sich leider meiner Kenntnis. Wir bezogen mit fünf Personen (Mutter mit 4 Kindern) ein kleines Zimmer, aber mit zwei großen Fenstern in Richtung Ortsmitte! Spartanisch eingerichtet, mit einem Kochherd rechts neben der Tür, erschien mir damals unsere neue Unterkunft als Paradies!

Im Winter war es dort immer mollig warm und ich fühlte mich glücklich und zufrieden. Der eiskalte Winter 1945/46 galt in der Geschichte als „Der Jahrhundertwinter‘ mit Temperaturen bis 32 Grad minus. Während tausende Deutsche in diesem Winter in den Städten erfroren, hatten wir auf den Dörfern bei den einheimischen Bauern doch eine warme Unterkunft. Die Enge machte mir nichts aus, wir Kinder waren einiges durch die Kriegswirren gewöhnt. Ella Guse, das ehemalige Hausmädchen der Familie Klemp, ging als Arbeitskraft in die Lungenheilstätte nach Tönsheide und ward nicht mehr gesehen. Obwohl ich später oft in Tönsheide war, ist sie mir nie mehr begegnet. Auch an ihre Besuche in Bargfeld, die lt. meiner Mutter immer spärlicher wurden, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Vermisste melden sich

An 15. September 1945 schrieb mein Vater eine Postkarte aus englischer Kriegsgefangenschaft (Eutin) an seine Schwägerin Lotte Mettchen (geb. Rogacki) nach Wilhelmshaven. Er bekam von dort die Nachricht, dass seine Frau mit den vier Kindern in Bargfeld einquartiert war. Bis dahin hatte er seine Familie im russisch besetzten Gebiet vermutete. Tante Lotte teilte ihm am 22. September 1945 unsere Anschrift aus Bargfeld mit. Bereits am 29. September 1945 erreichte uns das erste Lebenszeichen meines Vaters in Form einer Postkarte. Erst einen Monat später übermittelte das „Deutsche Rote Kreuz“ die Nachkriegsanschriften meiner Mutter und meines Vaters an die Suchenden.

Nach achtmonatiger englischer Gefangenschaft[1] erfolgte dann am Mittwoch, den 19. Dezember 1945 die Entlassung zur Familie Walter nach Bargfeld in Schleswig-Holstein. Wo sich Onkel Karl (Klemp) während dieser Zeit aufhielt, war mir unbekannt. Er meldete sich aber gesund und unversehrt bei Tante Wally und seinen beiden Kindern in Bargfeld zurück.

Die Flucht und der lausige Krieg waren zu Ende, wir hatten alle überlebt! Ich war allerdings der einzige, der eine „Kriegsverletzung“ davongetragen hatte, aber niemals eine Rente dafür bekam. Die Narbe am Kopf juckt heute noch bei extremen Wetterbedingungen, und was ich dabei empfinde, soll mein Geheimnis bleiben. Der Krieg war für mich ein Ereignis, dass ich weder zu jener Zeit noch später als etwas Schreckliches in Erinnerung behalten sollte. Es war einfach eine Episode in meinem Leben und kein Psychologe kann mir einreden, dass alle meine Macken aus dieser Zeit stammen. Das Erbgut aus den Familien Rogacki und Walter sowie die preußische Erziehung sind verantwortlich für mein weiteres Verhalten in den folgenden Lebensabschnitten!

Alltag in Bargfeld

Das Leben in dem kleinen Dachzimmer ohne Küche, ohne Toilette und ohne fließendes Wasser war irgendwie aufregend und spannend. Steckdosen gab es nicht, wozu auch, wir hatten damals auch nichts zum „Reinstecken“. Aber trotzdem gibt es eine kleine Episode in Verbindung mit einer Steckdose, die tödlich hätte ausgehen können. Tante Hedwig aus Amerika hatte uns einen einseitigen Kopfhörer mit einem Metallbügel geschickt. Er lag sinnlos herum, da es keine nützliche Verwendungsmöglichkeit gab. Eines Tages, keiner, außer uns Kinder war im Hause, kam mein Bruder Rolf auf die Idee, den Kopfhörer mittels der Bananenstecker in die Steckdose, die in einer Adapterversion an der Deckenbeleuchtung eingeschraubt war, anzuschließen, um zu hören, was sich da so anbot.

Schnell war der Tisch unter die Lampe geschoben, ich kletterte auf denselben, stülpte mir den Kopfhörer über und steckte die Stecker in die 220 Volt Steckverbindung. Es fing fürchterlich an zu brummen und nach einer Weile bestialisch zu qualmen. Der Schreck war so groß, dass ich mir das unheimliche Gestell schnell wieder vom Kopf riss. Zum Glück war die Isolation so gut, dass es zu keinem Kurzschluss kam, der mit Sicherheit den Strom auf den Haltebügel geleitet hätte. Was dann passierte wäre, möchte ich hier nicht mutmaßen. Schwester Mieke trieb sich ständig im Dorf bei den verschiedensten Bauern herum. Ihr damaliger Freund war Erhard Babel, ein Junge gleichen Alters, deren Familie kurzfristig in der Meierei[2] wohnte. Mit ihm war sie eines Tages verschwunden. Das ganze Dorf beteiligte sich an der Suche und fand die beiden Ausreißer schließlich nach ein paar Stunden vereint in der Nähe von Bargfeld wieder. Mieke hatte schon immer den Hang auszureißen! Siehe Flatow.

Neben viel Unsinn gab es bei uns auch ganz banale Sachen, die erwähnenswert sind.

Das gewisse Örtchen

Als Toilette stand uns ein nagelneuer goldfarbener Marmeladeneimer[3] aus Wehrmachtsbeständen mit Deckel zur Verfügung. Meine Mutter und der älteste Sohn durften das örtliche Plumpsklo von Tante Ida benutzen. Der Rest der Familie hatte nach einer „Großen Sitzung“ immer die dünnen Randabdrücke des Eimers am Allerwertesten. Längere Sitzungen wurden mit Schmerzen belohnt. Ich war immer froh, wenn diese Prozedur vorüber war.

Peinlich war es auch für etwaige Besucher, denn sie mussten stets am "Stillen Örtchen" vorbei, um in den Wohnbereich zu gelangen. Uns Kinder störte es herzlichst wenig, wenn diesbezügliche Äußerungen wegen des Wohlgeruches in Richtung Tatort abgegeben wurden. Der Geruch war ganz in Ordnung, wenn man bedenkt, was wir alles so zu essen bekamen, Lavendel war nicht dabei.

Besonders Tante Ida hatte es schwer, sie musste, wenn sie die Räucherkammer betreten wollte, vor unserem Thron die Tür öffnen. Später wurde das Örtchen in eine etwas diskretere Ecke des Dachbodens verlegt. Hier schaffte es Ingrid, nachdem sie uns das Hinterherziehen des Eimers ... „wegen eingehakter Wäsche“ ... vorführen wollte, denselben, sich samt Inhalt in die Hacken zu kippen. Bevor dies passierte, sagte sie noch ganz stolz: "Guckt mal, der Eimer kommt mir immer nach ...!" Überall Scheiße, was auf einen vollen Eimer schließen ließ, grässlich, aber irgendeiner hat sie wieder weg gezaubert.

Das Familienoberhaupt kehrt heim

Als mein Vater dann, abgemagert wie ein alter Klepper, bei uns auftauchte, änderte sich zwangsläufig das Leben in unserer Familie. Eine Person mehr durfte Tante Idas Plumpsklo benutzen und wir bekamen ein zweites Zimmer als Schlafgemach für sechs Personen im Erdgeschoss dazu, konnten es aber nur durch die Küche von Tante Ida betreten. Die Küche war für mich immer ein besonderer Ort, zumal es eine kleine Tür mit steiler Treppe zur Speisekammer gab. In dieser etwas erhöhten Kammer befand sich eine zugedeckte Grube um die Speisen im Sommer kühl zu halten. Ich habe heute noch diesen wunderbaren und verlockenden Geruch dieser Speisekammer in Erinnerung. Neben unserem Schlafzimmer war, nur durch eine verschlossene Tür getrennt, das Wohnzimmer unserer Vermieterin. Dies hatte verheerende Folgen für unsere allabendlichen Einschlafrituale.

Wir tauschten unsere Erlebnisse des Tages aus und Ingrid und Rosemarie[4] erzählten uns öfters etwas über ihre Schrab-Schrab-Schwammdosen. Was sie allerdings damit meinten, weiß ich bis heute noch nicht so richtig. Aber sie haben darüber immer geheimnisvoll gelacht! Bei jeder Gelegenheit wurde unser unbekümmertes Beisammensein, was immer mit lauten Erzählungen, Geschrei und Zank verbunden war, von Tante Ida abrupt abgewürgt. Energische Schläge gegen die Tür, wüste Androhungen und lautes Wehklagen veranlassten uns, wenn auch nur murrend und unzufrieden, vorher noch der Reihe nach den fliegenanziehenden Nachttopf benutzend, in den Schlaf zu wechseln.

Der Reihe nach durften wir 4 Geschwister alle einmal beim Vater im Bett schlafen. Es sollte etwas besonderes sein, aber es war schrecklich für mich. Ich hatte fast die ganze Nacht nicht geschlafen, da ich immer, wegen der Körperschwere, an meinen Vater auf Hautkontakt heran rutschte, was ich als äußerst unangenehm empfand. Den Grund dafür kann ich nicht nennen, aber ich wollte nie wieder bei meinem Vater schlafen.

Mein Vater übernahm zwangsläufig Aufgaben, die sonst meine Mutter erledigen musste. Die Entsorgung des Marmeladeneimers gehörte zu diesen Aufgaben und nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit musste irgendwann einmal etwas passieren. Das Gesetz trat auch sehr bald in Kraft und mein Vater fiel, ob der Routine, eines Tages, stolpernd den Goldeimer freigebend, die letzten Stufen der Treppe in Richtung Tante Idas Korridor. Der gutverteilte Inhalt (Scheiße) wurde sorgsam unter den bösen Blicken der Vermieterin wieder aufgenommen und ordentlich im Garten entsorgt. Der Fall war schnell vergessen und nichts störte unser beschissenes Familienleben. Es störte auch keinen, dass wir anstatt fließend Wasser, zwei prallgefüllte emaillierte Wassereimer als Trink- und Waschreservat links vor der Wohnungstür platziert hatten. Das Wasser wurde aus der Waschküche des benachbarten Bauernhofes geholt. Wenn ich Durst hatte, beugte ich mich nur über den Eimer und trank wie das liebe Vieh bis zur vollständigen Sättigung. Es schmeckte herrlich, obwohl es immer 3 bis 4 Tage alt war. Noch heute liebe ich abgestandenes Wasser. (aber auch Bier)

Tante Ida, eine Einheimische

Tante Ida hatte wie bereits erwähnt noch einen Bruder. Adolf war ein Kind Gottes[5], kahlköpfig und absolut harmlos fügte er sich in die neue Gesellschaft ein. Ab und zu schenkte er uns einen Apfel oder eine Birne, die er unter den missbilligenden Blicken seiner Schwester vom Baum pflückte. Er war gerne mit uns zusammen, da seine Schwester fast ausschließlich mit ihm schimpfte.

Adolf war ungefähr 40 Jahre alt. Einmal hatte er heimlich die Butter, die zwecks Kühlung in einem Wassertopf unter der Treppe stand, ohne Beilagen aufgegessen. Der Dieb wurde schnell ausgemacht, wir waren diesmal tatsächlich unschuldig, denn Adolf hatte sich selbst verraten und sich bis unter die Achselhöhlen voll geschissen. Er tat mir leid, aber ich glaube, er war sich seiner Tat nicht bewusst. Das Haus von Ida Rathjen war nicht nur unser neues Heim, es diente auch als Milchverkaufsstelle für die allgemeine Bevölkerung und Station für die Postzustellung der Dorfgemeinde. Auch ein wunderschöner Briefkasten stand stellvertretend für das ganze Dorf vor unserem Haus. Er hatte anfangs noch eine rote Farbe. Ich hatte hier auch noch die letzte pferdebespannte Postkutsche erlebt.

Im Korridor zwischen Haustür und Wohnung von Tante Ida befand sich die Milchverkaufsstelle für die Nichtlandwirte in Bargfeld. Es gab da eine Geldkasse, die ganz offen herumstand. Aus dieser Kasse habe ich einmal einen kleinen Betrag gestohlen und mir davon Spielsachen bei Richard Braasch[6] in Innien gekauft. Tante Ida konnte das natürlich nicht kontrollieren, weil die Türklingel nur dann läutete, wenn von außen die Tür geöffnet wurde. Der Dieb kam aber von innen und wurde nie erkannt.

Die für diesen Zweck installierte, überlaute mechanische Hausschelle, sollte sich besonders an Sonn- und Feiertagen als größtes Hindernis für das ständige „Rein und Raus“ von uns Kindern herausstellen. Sie ließ sich leider nicht abstellen. Immer, wenn Tante Ida ihren heiligen und wohlverdienten Sonntagnachmittagsschlaf hielt, musste eines der vier Kinder unbedingt ins Haus. Der Krach war vorprogrammiert. Seitdem hasse ich laute Klingeln sowie Feiertage und Wochenenden.

Die restlichen Einheimischen

Auch die Bauern und einheimischen Bewohner des Dorfes Bargfeld hatten viele Kinder. Bauer Willi Voß mit zwei Söhnen in unserem Alter, Wilhelm und Peter. Wir nannten sie Törpers, weil die Großeltern so hießen. Da war noch der Bauer Werner Radtke, zugleich Leichenwagenfahrer. Er hatte seinen Hof in der Nähe vom Bauern Voss. Wie viele Kinder vom Verwalter des Annenhofes (Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein) stammten ist mir entfallen, aber bei Harders waren es zwei ältere Mädchen, Erika und Ulla. Erika Harder heiratete noch während unserer Zeit in Bargfeld Hajo Fölster. Bauer Johann Harder hatte auch noch einen Bruder, der in Richtung Tönsheide einen Bauernhof bewirtschaftete. Dazwischen wohnte der Bürgermeister Ehlers mit seiner Frau und den erwachsenen Kindern. Bei Hannes Deutschland, richtig hieß er Hans-Wilhelm Rathjen, er saß wegen „Schwarzschlachten“ für mehrere Jahre im Zuchthaus, waren auch zwei wesentlich ältere Kinder, Ernst-Wilhelm und Elisabeth. Auch auf dem Hof von Tante Minna waren ältere Kinder und andere Familien untergebracht.

Die Schürrmanns, drei Söhne und die Tochter Heike, waren Einheimische, die bei uns Kindern nicht sehr beliebt waren. Sie besaßen eine undurchsichtige Unterkunft mit Hof und Ziegenstall, einen großen Garten und vor allen Dingen jeder ein Fahrrad; wir aber hatten nicht ‘mal eine Luftpumpe. Warum auch! Der Gast- und Landwirt Rathjen, genannt Kröger, Besitzer des Dorfkruges und Bruder von Hannes Deutschland, Adolf und Tante Ida, hatte auch zwei fast erwachse Kinder, einen Sohn und die Tochter Elfriede, die später mit einen Hanssen verheiratet war.

Der Großbauernhof von Christine Ratjen, die Frau bewirtschafte den Hof alleine, hatte zwei Söhne, Claus-Detlef Ratjen,ein hervorragender Reiter und, Pferdenarr und Hajo, der in unserem Alter war. Beim Großbauern Hans Behrens an Ortsausgang nach Innien gab es zwei nette Mädchen in unserem Alter. Hier verlief auch die Ortsgrenze zwischen den Dörfern Bargfeld und Innien. Auf der Straße nach Innien ( hier mein Vater beim Heimgang nach Bargfeld) wohnten noch viele Einheimische, so der Altmeierist Emil Ladehoff, die Schneiderfamilie mit Bisamrattenzucht, die Großfamilie Wiese (7 bis 9 Kinder) und noch eine Großfamilie im Haus gegenüber. Auch die Hofverwalter vom Annenhof, Harders und Christine Jüngst, verw. Ratjen und deren Knechte hatten Kinder, so die Familie Looft. Da gab es die Annestine, bei der besonders meine beiden Schwestern gerne im Modderbereich (... Seite 42 fehlt)

Flüchtlinge

Flüchtlingsfamilien bis 1950 in Bargfeld (heute Aukrug) aus meiner Erinnerung:

LfdNr Vermieter/Aufnehmer Familie Angehörige Bemerkung
1 Bauer Behrends Pech 4 Landwirt
2 Bauer Hermann Ratjen Klabunde 3 ohne Vater
3 Bauer Hannes Rathjen Nolde 3 Lehrer
Frau Prossa 1 Mutter von Prossa
Wendland 7 Landwirt
4 Haus Ida Rathjen Walter 6 Ingenieur
5 Bauer Bernhard Harder Klemp 5 Apotheker
Frau Rogatzki 1 Oma v.Fam.Walter
Gatz 7 lungenkrank
Sielaff 4 ohne Vater
6 Förster Ritter Frau Westpfahl 1 Oma von Nolde
7 Bauer Chr. Rathjen Holz 4 ohne Vater
8 Haus Nimmler vergessen 4 große Kinder
9 Bauer Kröger Koslowsky 3 ohne Vater
Zell 3 o.V. beh. Sohn
10 Bauer Chr. Harder Dillich 3 Akademiker
Klose/Prossa 7 Landarbeiter
11 Meierei Dr. Kunze 5 Arzt (Lungen)
Dahlmann 7 Landarbeiter
12 Annenhof Dr. Dr. Neufeld 3 Physiker
Schweitzer 5 Melkmeister
Summe 21 Familien 83

Im Dorf Bargfeld, heute Aukrug, waren relativ viele Flüchtlinge untergebracht. Es war erstaunlich, wie gelassen die einheimische Bevölkerung das Schicksal mit ihnen teilte. Da waren der lungenkranke Arzt Dr. Kunze mit Frau und drei Kindern. Einer dieser Söhne, er hieß Jörg, war nicht gerade mein Freund, aber wir waren trotzdem oft zusammen. Ich hatte später ein sehr unangenehmes persönliches Erlebnis mit ihm, welches ich als widerlich abstoßend und verwerflich empfand. Die Familie Karl Dahlmann, kinderreich und glücklich mit ihren 5 Kindern Dora, Lotte, Gitte, Dieter und Horst.

Der Lehrer Waldemar Nolde, der Bruder von Frau Kunze, mit Frau und Sohn Ulmar, die mit meinen Eltern besonders gut befreundet waren. Ulmar, ihr einziger Sohn, erkrankte 1953 nach einer Radtour mit den Pfadfindern durch Deutschland, als einziger in Schleswig-Holstein, an Kinderlähmung. Die dazugehörige Oma hieß Westphal und hatte ein sehr kleines Zimmer im Haus des Forstmeisters Ritter. Herr Nolde war handwerklich sehr talentiert und so kam es auch, dass er uns Jungen je ein Steckenpferd schnitzte. Die Steckenpferde sahen sehr realistisch aus, der Kopf war einem Original nachempfunden.

  • Die Familie Dr. Dr. Neufeld, ein hochstudierter Physiker aus dem Kriegsflugzeugbau (später Professor bei der Bundeswehr) und verkappter Kunstmaler, stets freundlich und hilfsbereit.
  • Die Familie Dillich mit der kratzbürstigen Tochter Gitte.
  • Oma Prosser mit Sohn, einem lungenkranken Piloten, der in der Nordsee einen Flugzeugabsturz überlebt hatte und jetzt das Leben in vollen Zügen genoss. Frau Klose mit Tochter, die Geliebte von Pilot Prosser.
  • Die Familie Wendland mit zwei Omas und einem Opa sowie Edwin und Edelgard.
  • Frau Selma Sielaff mit Oma und den Söhnen Siegfried und Wilhelm.
  • Frau Holz mit Tochter Edeltraut und den Söhnen Ernst und Johannes. (Rotraut)
  • Frau Koslowski mit einer älteren Tochter und dem verschlagenen Sohn Paul[7]. Er verführte mich zum Klauen des Nähgarnes meiner Mutter, was wir damals in den vielen Paketen aus Amerika vorfanden.
  • Frau Zell mit ihrem behinderten Sohn Fritz und einer Tochter beim Bauern und Kröger Rathjen im Dorfkrug.
  • Die Familie Gatz, die Söhne Jörg, Alfred und zwei Töchter, fast alle waren lungenkrank, nur Opa Weißbrot nicht. Weißbrot deswegen, weil er mangels Zähnen nur noch Weißbrot essen konnte. Wir gaben ihn den Namen. Er soll auch leidenschaftlich gerne Krähen gegessen haben!

Alfred Gatz baute sich damals ein Paddelboot und ich war oft dabei, wie er mit großem Geschick aus einfachstem Material dieses vollbrachte. Er wollte von mir immer sehr intime Informationen über meine Mutter und Schwestern wissen und brachte mir auch die ersten Tabuworte bei. Als ich meine Mutter danach fragte, jagte sich mich mit einem Aufwischlappen um den Tisch, ohne mir die Bedeutung zu verraten. Das Wort hieß „ficken! Es gab also etwas, was ich noch nicht wusste. Ich wusste nur, dass die Geschlechtsorgane bei Mädchen und Jungen „Mulle“ und „Lulla“ genannt wurden. Anscheinend reichte mir dieses Wissen aber nicht aus. Meine Neugierde war grenzenlos und so kam es wohl, dass der Lehrer Nolde den Auftrag von meinen Eltern erhielt, uns Jungen aufzuklären. Ein absoluter Fehlschlag. Mit Bienen und Schmetterlingen war da nichts zu machen. Wir kannten es bereits von den Rindern, Schafen und Schweinen und wussten, wie die sich vermehrten. Wir lebten halt in einem Bauerndorf.

Da war auch noch die Familie Klawunn mit einem Sohn, der durch einen vorgetäuschten Selbstmord die gesamte Ortschaft in Atem hielt. Man hatte seine Tabakpfeife im Wald gefunden auf der eingeritzt war, dass er seinem Leben ein Ende setzten wollte. Er wurde weder lebend noch tot gefunden!

Frau Schön (wir nannten sie Tante Hübsch) mit Oma und Tochter, Vater unbekannt, bewohnte ein Haus gegenüber vom Schuster und dem Bauernhof Berend. Vor ihrem Haus gab es die meisten Fledermäuse. Sie waren so zahlreich, dass, wenn wir eine Jacke oder ein Tuch im Dämmerlicht hochwarfen, sie darin eingefangen wurden. Es gab noch einige andere Familien, deren Namen mir nicht mehr einfallen wollen. Entweder hatten sie keine gleichaltrigen Kinder oder waren schon selber zu alt.

Die Versorgung und das Dorfleben

Diese Familien mussten natürlich alle versorgt werden und so ergab es sich, dass der alte Nikodemus das Dorf mit einem hölzernen Pferdekastenwagen mit Brot versorgte. Er kündigte sich stets mit Gesang an. Meistens war er hochprozentig, da er bei seinen Zwischenstops immer einen Grund für einen Schnaps fand. Er verstand es hervorragend, seine Stimme zu ölen. Sein treues Pferd kannte seine Kundschaft sowie die Wege und übernahm nach einer gewissen Zeit die Führung. Wenn jemand Fleisch oder Wurst brauchte, musste er ca. 2 km nach Innien laufen. Auch das großes Kaufhaus Braasch und ein Elektrogeschäft befanden sich wie Arzt, Polizei, Post, Bahnhof, Schule und Kirche in Innien. Für jeden Furtz und Feuerstein mussten wir also in diesen Ort pilgern.

Der Schuster am Rande des Dorfes hatte immer viel zu tun, und wir Kinder besuchten oft diesen freundlichen Mann namens Hans Stender, der stets eine warme, nach Leder und Schuhcreme riechende Stube hatte.

Es gab, wie gesagt, weder einen Bäcker noch einen Fleischer, lediglich die kleine Hökerei[8], die von Otto Carstens und seiner Frau am Dorfende unterhalten wurde. Hier gab es das Nötigste zu kaufen. Wir gingen gerne dort hin, denn Frau Carstens war immer ausgesprochen nett zu uns armen Flüchtlingskindern. Zwei Häuser weiter lebte die Familie Oppermann. Vater Oppermann besaß zur damaligen Zeit ein wunderschönes Kasperltheater, was er auch einmal im Jahr inszenierte. Sohn Harald ging durch das Dorf und lud die Kinder nach einem speziellen Verfahren zur Vorstellung ein.

Wir mussten die Hand ausstrecken und auf welche er schlug, der hatte die Eintrittskarte in der Tasche. Alle biederten sich diesem Kerl, der seine Machtposition schamlos übertrieb, auf die unterschiedlichste Art an. Meine Cousine Linda bekam immer den Zuschlag. Warum -, kann ich leider nicht sagen. Das Kasperltheater reizte mich aber dermaßen, dass auch ich wie ein unterwürfiger Sklave um seine Gunst buhlte. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich meine Seele verkauft. Egal wie, die Vorstellung habe ich noch in guter Erinnerung.

Durch dieses Erlebnis wurde mein Verlangen nach weiteren Bühnenereignissen gesteigert und so kam es, dass ich eine Zaubervorstellung im Gasthof Lipp in Innien besuchen durfte. Ich war so fasziniert von dieser Vorstellung, dass ich spontan beschloss, auch einmal ein großer Zauberer zu werden. Ein großer wurde ich nie, aber später wurde ich Mitglied und Ortszirkelleiter von Bielefeld beim Magischen Zirkel von Deutschland und hatte mindestens 58 öffentliche Auftritte, davon zwei im Ausland (Belgien und Frankreich).

Aber zurück zur Zaubervorstellung in Innien. Die Zaubertricks waren so fesselnd, dass ich mir ein dringendes Bedürfnis unterdrückte und da der Zauberer wegen mir keine Pause machte, und ich nichts versäumen wollte, passierte dass, was man "in die Hose pissen" nannte. Als die Vorstellung zu Ende war, hinterließ ich eine beträchtliche Pfütze unter meinem Stuhl. Ich hatte mich noch nicht einmal geschämt, warum auch, es hatte ja niemand bemerkt. Seitdem interessierte ich mich für die Zauberei und alles was damit zusammen hing, aber in die Hose gepinkelt habe ich nie mehr!

Schon in meinem zarten Alter fesselte mich die Tatsache, dass Menschen hypnotisierbar sind. Ich hatte die Trickhypnose während der Zaubervorstellung für echt gehalten. Ein Phänomen, welches mich bis heute noch interessiert. Ich habe später viele Bücher gelesen, Einweisungen und Workshops besucht und bald war ich auf diesem Gebiet bestens informiert, lehnte aber die Anwendung in meinen Zaubervorstellungen kategorisch ab. Es gehörte einfach nicht hierher! Dafür stieg mein Interesse an der Mental-Magie, welche in Perfektion aus Amerika zu uns herüber schwappte. Sie nahm einen festen Bestandteil in meinen Bühnenauftritten und bei Sonderveranstaltungen ein.

Auch einen Zirkusbesuch bei einem berühmten Zirkus[9] gehörte zu meinen außergewöhnlichen Erlebnissen in Bargfeld. Mein Vater fuhr mit meinem Bruder und mir mit der Eisenbahn von Innien nach Kiel zur Kindervorstellung. Ich sah zum ersten Mal lebende Tiger und Elefanten.

Der Familienalltag

Jede Gelegenheit zum Geldverdienen wurde wahrgenommen. Durch Nachhilfeunterricht zweier einheimischer Jungen, Gastwirtssohn Peter Lipp und Hein Möller, Sohn eines Großbauern aus Innien, wurde so mancher Pfennigsbetrag durch Ingenieur Willy Walter dazu verdient. Meine Eltern bekamen auch den Zuschlag für die Reinigung der Milchkannen in der örtlichen Meierei. Der Meierist hieß Heinz Steffen und war der Sohn des Dorfschmiedemeisters. Sein Vorgänger war der Altmeierist Emil Ladehoff. Es gab nicht nur etwas zu verdienen, auch die aus vielen Kannen zusammengeschüttete Restmilch war uns willkommen. Wir Kinder waren in den Arbeitsprozeß eingebunden. Abwechselnd mussten wir die Kannendeckel in einem großen Wasserbottich mittels Bürste und warmen Wassers reinigen.

Zu meinem Vater hatte ich nie ein enges Verhältnis gehabt. Er war für mich immer ein Fremdkörper, der irgendwann einmal zu unserer Familie gestoßen ist. Das er mein Erzeuger war, ist mir erst später bewusst geworden. Ich akzeptierte ihn als dazugehörig, fand aber nie eine innere Bindung zu ihm. Auch gab es jetzt öfters Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Ehefrau. Da meine Mutter sehr leicht und schnell beleidigt war, verließ sie meistens nach einem Streitgespräch unter Tränen die gemeinsame Wohnung. Ich bin ihr mehr als einmal nachgelaufen, um sie wieder ins Haus zu holen. Mein Vater wurde mir dadurch nicht sympathischer, denn ich gab ihn — unberechtigterweise - immer ungeprüft die Schuld an dieser Situation.

Trotzdem ging ich gerne für ihn zum Kröger[10], um in einem großen Henkeltopf für 50 Pfennige Bier zu holen. Auf dem Weg nach Hause schlürfte ich immer den Schaum vom Bier ab. Durch den Transport war eben der Schaum auf „natürliche“ Weise verschwunden. Mein Vater ging nie oder nur wegen dörflicher Belange in eine Wirtschaft. Da er aber den ganzen Tag nicht nur zu Hause herumsitzen konnte, musste er auch irgendetwas Sinnvolles machen. Deshalb betätigte er sich gelegentlich im hiesigen Moor und musste dort unter schweren Bedingungen Torf stechen. Ich weiß, dass es ihm nie gefallen hatte, aber zu der Zeit war es eben Männersache. Eine anstrengende Arbeit für einen studierten Ingenieur. Die Frauen taten natürlich auch etwas, sie schichteten die nassen Torfstücke zum Trocknen zu kleinen Türmchen auf. Vater Walter musste natürlich bei heißem Wetter zusätzlich versorgt werden und so kam es, dass ich ihm wieder einmal ein Getränk rausbringen musste.

Meine Mutter hatte heißen Kaffee oder Tee gekocht, und ich sollte ihn in einem unhandlichen Behälter ins Moor bringen. Schlau und praktisch, wie ich glaubte veranlagt zu sein, kam ich auf die Idee, das heiße Getränk in eine verschließbare Glasflasche umzufüllen. Sie war halbvoll, da machte es „peng!“ und die Glasscherben flogen durch die Gegend. Das gute Nass gegen Vaters Durst floss über den Tisch, was nun. Etwas war ja noch in der Kanne. Ich füllte vorsichtig Wasser nach, - von der Farbe her sah es gut aus - und brachte es, ohne dass irgendeiner von dieser Sache Wind bekam, zu meinem Vater.

Wie bereits erwähnt, gab es öfters Unstimmigkeiten zwischen meinen Eltern, die ich damals schon bewusst mitbekam. Meine Mutter war sehr empfindlich, sehr nachtragend und neigte zu theatralischen Szenen. Sie drohte meinem Vater mit schlimmen Aktionen und Konsequenzen, die sie zum Glück nie wahrmachte. Sie ahnte allerdings nicht, wie sehr sie damit ihre Kinder belastete. Es war eine schlechte Eigenart, die sich noch mehrmals wiederholen sollte.

Onkel Karl hat sich einmal beim Torfstechen eine etwas größere Verletzung am Arm zugefügt. Er blutete sehr stark, war kalkweiß und wurde, auf einem Pferdewagen stehend, in ärztliche Behandlung gebracht. Er sah aus wie ein Gladiator, der aufgerichtet über ein Schlachtfeld fuhr, nur nicht so heroisch. Das Moor zog mich immer wieder magisch an, denn dort gab es viel Natur zu sehen. Nirgendwo habe ich so viele Vogelnester vorgefunden. Ich hatte dort auch meinen ersten Kontakt mit einer Waldohreule und einer Kreuzotter, die ich dummerweise aus Unkenntnis mit einem Spaten getötet hatte, obwohl sie mich gar nicht beachtete. Sie war halt eine Giftschlange. Ich war damals sehr stolz darauf.

Dorfidylle

Die Kinder der Flüchtlingsfamilien prägten das Dorfbild, zu mindest an Tagen, wenn sie lärmend und spielend die Straßen und Bauernhöfe heimsuchten. Es kam immer wieder zu kleineren Reibereien und Zwischenfällen. Mein Bruder Rolf Eberhard hatte sich einen Zwille gebastelt und wollte damit eine Schwalbe von der Hoflampe vor dem Pferdestall von Bauer Harder vertreiben. Der Vogel würde heute noch leben, wenn er nicht einen natürlichen Tod gestorben wäre. Die Lampe war allerdings hin. Bei Walters gab es wieder Hiebe. Mein Vater hielt sich nie bei einer langen Befragung nach dem Schuldigen auf, es gab Kloppe für alle Erreichbaren.

Ich schnitt einmal sämtliche Knospen von Tante Idas Rhododendrenstrauch vor ihrer Haustür ab. Auch hier trat wieder das alte Familiengesetz - „Kloppe für alle“ - in Kraft. Auf dem Bauernhof Harder gab es eine schöne sandige Stelle, auf der wir Dorfkinder gerne zusammen waren. Vor dem Schweine- und Kälberstall holt Erika Harder uns Kinder zu einem Kinderfoto zu sich auf den Rübenwagen vor den unterirdischen Silo. Hier lagerte die Silage für die Versorgung des Viehes im Winter. Auf diesem Platz trafen sich oft die Kinder des Dorfes um hier ihre einfachen Spiele zu spielen.

Der danebenliegende Misthaufen störte uns überhaupt nicht. Auch der Bauer hatte nichts dagegen, wenn wir uns dort aufhielten. Seine Tochter Erika schaute uns oft bei unseren phantasievollen Spielen zu und setzte sich sogar mit uns in den Sand. (siehe Foto) Auch die große Scheune mit den angrenzenden Kuh- und Pferdställen war oft unser Spielplatz und Aufenthaltsort. Hier tobten wir mit dem selbst gebastelten Vollgummiball, den mein Vater in der Gummi-Fabrik für uns aus lauter kleinen Gummistreifen konstruiert hatte, ohne Rücksicht auf die Pferde herum.

Oma Sielaff musste und, oft zur Ruhe mahnen! Der Ball war rabenschwarz und so groß wie ein Kinderkopf, aber leider auch so schwer und unhandlich. Er hat so manche Einrichtungen zerstört. Bei den Spielen in der Scheune von Harders haben wir öfters den armen Wilhelm Sielaff bis zur Weisglut geärgert. Wilhelm hatte ständig eine laufende Schnoddernase. Wenn er dann heulend zur Oma gelaufen ist, haben Siegfried und ich uns schnell versteckt.

Einmal kündigten wir Kinder unter meiner Leitung eine Zirkusvorstellung auf der Koppel vom Bauern Harder an. Plakate wurden angeklebt und die tollsten Kunststücke wurden angepriesen. Aus welchen Gründen auch immer, der Zirkus fand nie statt. Die alte Oma Sielaff hatte mir das nie verziehen, denn sie hatte als einzige eine Karte gekauft und war dann doch sehr enttäuscht, als die Veranstaltung, nachdem sie suchend auf der Wiese herumlief, ins Wasser fiel. Der Bach mit Namen „Tönsbek“, der ganz in der Nähe von unserer Wohnung quer durch das Dorf floss, war ein beliebter Spielplatz für alle Kinder des Ortes. Im Sommer diente er uns auch als Badewanne. Er war ja so erfrischend und kalt. Wir wurden hineingestellt und von oben bis unten abgeschrubbt. Die Geländer der Brücke waren als Turngerät hervorragend geeignet. Im Winter war Hajo Rathjen einmal mit der Zunge an der Stange festgefroren, als er daran leckte. Ein Teil seiner Zungenhaut blieb daran zurück.

Einmal hatten mein Freund und ich, wie öfters, wieder am Bach gespielt. Wir wollten Schiffchen fahren lassen, hatten aber kein entsprechendes Material zur Verfügung. Ich erinnerte mich an die, wie ein Boot aussehenden, Camelias[11] meiner Mutter. Ein paar dieser komischen Dinger wurden aus dem blauer Karton geholt und schon sausten die ersten Schiffchen/Camelias unter der Brücke hindurch. Irgendjemand, es war ein alter Bauer aus dem Ort, ging über die Brücke und sah die rosaroten Wattepakete im Wasser schwimmend. Er schüttelte den Kopf über diese seltsamen Gebilde, aber er schien sie irgendwie zu kennen. Am anderen Ende der Brücke saß mein Freund und meldete mir, bevor die kostbaren Gebilde untergingen, durch lautes Zurufen die Ankunft derselben an. Meine Mutter hatte diesen Verlust nie bemerkt, zumindest hatte sie nie darüber gesprochen. Ein weiterer Spielplatz waren auch die Sandkuhlen in Richtung Sarlhusen und Innien, die in Zweitfunktion als „Schietkuhle“ für die Entsorgung von Müll der Dorfbevölkerung dienten. Hier fand ich so manches Ersatzteil für mein altes Fahrrad oder andere Bauteile für unsere Buden.

Ein freundlicher Einheimischer, war der Förster Hans Ritter. Als stolzer Besitzer eines Motorrades, nahm er uns immer mit, wenn er uns unterwegs auf dem Schulweg begegnete. Man erzählte mir, dass er durch ein Selbstschussgerät in der Nähe seiner Jagdhütte, Teile seiner Männlichkeit verletzt hatte. Weidmannsheil! Ein großes Dorfereignis war das jährliche Ringreiten. Es wurde von den Bauern als Dank an die Knechte und Mägde ausgerichtet. Auf Pferden reitend mussten die Knechte unter einer Stange, an der ein abziehbarer Ring fixiert war, mittels eines Ringstechers, diesen abziehen.

Der Sieger mit den meisten Ringen wurde König. Der schlechteste Reiter bekam eine „Brezel“ und wer beim Ritt vom Pferd fiel, bekam den Titel "Sandreiter". Königin wurde die beste Teilnehmerin aus dem Taubenstechen der Mägde. Eine hölzerne Taube mit einer Metallspitze im Schnabel, musste an einem Band hängend, durch Fallenlassen ins Ziel balanciert werden. Der ganze Ort war festlich geschmückt und im Dorfkrug war Hochbetrieb. Der Aukrug war die einzige Gaststätte im Dorf. Es gab einen gemütlichen Gastraum, eine Veranda mit Weinstöcken und einen wunderschönen Garten mit noch schöneren Nelkenrabatten. Die Nelke wurde später meine Lieblingsblume, aber ich habe sie in dieser Pracht nie wieder gesehen.

Als ich später nach 50 Jahren zu meinem 60. Geburtstag in Bargfeld verweilen sollte, spendierte uns der Enkel vom Kröger je zwei Weintrauben aus dieser besagten Laube. Es war ein Hochgenus für mich und eine ganz besondere Ehrung! Alte Erinnerungen wurden wieder wach und es tat mir sehr gut! Aber zurück zum Ringreiten. Auch wir Kinder fühlten uns eingeladen, da wir beim Kartoffelnsammeln und „Pferde-auf-die-Weide-bringen“ stets mitgeholfen haben. Es war eine schöne Sitte und eine nette Geste der Bauern, welche heute wahrscheinlich ausgestorben ist, da es wohl kaum noch Knechte und Mägde gibt. Ganz zu schweigen von den vielen Pferden auf den Bauernhöfen.

Die wunderschönen Zeiten in den Wäldern und Feldern, am Bach, auf den Bauernhöfen, in der Heide und beim Spiel auf den Dorfplätzen waren ein Teil meiner schönsten Kinderzeit. Kinder. Räuber und Gendarm war unser Lieblingsspiel an Sonntagen, es waren immer genug Kinder anwesend und Verstecke gab es in Hülle und Fülle! Abends spielten wir Völkerball, Schlagball, Brandball, Kippel-Kappel[12] und vieles mehr.

Eines Tages, bei einem Völkerballspiel mit vielen anderen Dorfkindern auf dem Platz vor Hermann Ratjen Bauernhaus, geschah folgendes. Plötzlich stand Tante Minna am Rand des Spielfeldes und alle sahen, dass ihre Schlüpfer (zwei links, zwei rechts) auf die Füße gerutscht war. Tante Minna hatte einen Schlaganfall zwar gut verkraftet, konnte sich aber nicht mehr wie früher bewegen. Sie rief um Hilfe: „Kinder kommt mal her, helft mir!“, aber alle Kinder liefen weg oder rührten sich nicht von der Stelle, nur Manni ging hin und versuchte mit spitzen Fingern die Hose wieder in Position zu bringen. Es gelang mir nicht, weil ich mich nicht so recht traute. Glücklicherweise kam dann ihre Tochter und führte das Werk zu Ende. Tante Minna war seitdem immer sehr freundlich zu mir und meldete diese Heldentat auch bei nächster Gelegenheit meiner Mutter. Meine Mutter hat mir diese Geschichte immer wieder erzählt und sich dabei köstlich amüsiert.

Einzelnachweise

  1. Entlassung aus der englischen Gefangenschaft in Heiligenhafen
  2. Genossenschafts-Sammelstelle, hier lieferten alle Bauern ihre Milch zur weiteren Verarbeitung an
  3. großer Blecheimer aus militärischen Restbeständen
  4. Meine jüngste Schwester Rosemarie wurde in Schleswig-Holstein (Bargfeld) von den Einheimischen Mieke genannt. Norddeutsch Mieke = (Rose)Marie. Wir nahmen alle schnell diese Namensänderung an und nennen sie bis heute noch Mieke.
  5. geistig behindert
  6. großes Kaufhaus
  7. Dieses Ereignis hat mich sehr negativ beeinflusst. Paul war in meinen Erinnerungen einer der ersten schlechten Menschen, die ich damals bewusst wahrgenommen hatte. Er wurde zu einem Alptraum in späteren Jahren.
  8. Kramladen
  9. Circus Sarasani in Kiel
  10. Dorfwirt
  11. Vorgänger der Damenbinde
  12. ein geschicktes Stockspiel