Archiv:Vaasbüttel - Mein Heimatdorf

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Titelseite des Manuskriptes

Heinrich Raabe: Vaasbüttel - Mein Heimatdorf, Manuskript, 1949

Heinrich Raabe

Als Schuljunge stürzte Heinrich Raabe und verletzte das Schienbein. Noch am Abend bekam er Schüttelfrost und erst nach Tagen kam er - mit Pferd und Wagen - nach Kiel in die Klinik zur Operation. Von dieser Zeit an ist sein Leben ein anhaltender Kampf mit dem offenen, entzündeten Bein geblieben(Tbc). Aus seiner ausführlichen Lebensbeschreibung erfahren wir, daß er darum auf seinen Wunschberuf – Lehrer – verzichten mußte und Uhrmacher wurde. Mit vielen Unterbrechungen durch weitere Operationen und Kuren lernte er sein Handwerk in Kiel, Berg i. Dithm. und Meldorf. Als Geselle suchte er sich dann in der Schweiz Arbeitsstätten in Olten, Interlaken und Davos.

Durch Einwirkungen der Kriege und Inflation mußte er mehrfach zusätzlich seine Arbeit unterbrechen und kam nach Holstein zurück. Die alt gewordenen Lehrmeister holten ihn gern zu Vertretungen, doch die Gesundheit zwang ihn zurück in die Schweiz. Dort lernte er auch seine Frau Margrit Wohlschlegel kennen. Sie heirateten 1931. Seine Frau holte Pflegekinder ins Haus und nähte für Kunden. So konnten sie den Lebensunterhalt notdürftig bestreiten. Am 18. 03. 1960 kam Heinrich Raabe abends nicht aus dem Geschäft zurück. Man fand ihn verletzt und tot in seinem Laden.

Erinnerung

G o t t    	m i t	     u n s

M. Raabe	E. Raabe   1857

Diese Inschrift steht über der grossen Hoftür meines Elternhauses in Vaasbüttel bei Hohenwestedt. Der Grossvater, der dieses Haus erbaute, stammte aus Lokstedt bei Kellinghusen, dem Stammhof der Raaben und hatte die Grossmutter, eine geboren Warnholz, geheiratet. Wie viele Bauern ihrer Ahnen auf den Feldern des Hofes gesäet und geerntet haben, weiss ich nicht. Von dem, was sie erlebt und erlitten haben, kann ich nur wenig berichten. Als ich geboren wurde, war der Grossvater bereits tot und der Vater trug den Keim zu einer schweren Krankheit in sich. Zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt - April 1893 - schloss auch er die Augen für immer. - Der Name unserer Väter soll in den Kirchenbüchern geändert worden sein. Unsere Ahnen haben sich nicht Raabe, sondern Rave genannt und geschrieben. Es ist wohl nicht ausgeschlossen, dass der Name, der in der Heimatsprache vor der Reformation Rav oder Rab genannt wurde, nach derselben einfach in die Schriftsprache in Raabe übersetzt wurde. Ob diese meine Vermutung auf Wahrheit beruht, weiss ich nicht; ich möchte es aber hier niederschreiben, dass die Lokstedter Familie sich Rave schreibt, während die aus dem gleichen Hause stammenden Vaasbüttler sich Raabe schreiben. Die Umänderung des Namens erfolgte auf Antrag von dem verwandten Bauern Markus Rave aus Lokstedt, der in den Kirchenbüchern von Kellinghusen die ursprüngliche Veränderung gefunden hat. Zur Namensänderung war ein Antrag beim Amtsgericht notwendig und das wollte unsere Mutter nicht. Auch von den Ahnen der Grossmutter fehlt jede Aufzeichnung, da die alten Kirchenbücher bei drei grossen Bränden von Hohenwestedt vernichtet sind. Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen Ahnenforschung zu treiben, sondern Leid und Freud', Gehörtes und Erlebtes aus eigener Familie zu erzählen.

Ich wandere in Gedanken zunächst um die Jahrhundertwende - 1900 über die Dorfstrasse von Vaasbüttel, schaue in jedes Haus und erzähle von denen, die damals noch lebten und nun auf dem Friedhof von Hohenwestedt ruhen. Auch für uns wurde das Jahr 1900 zu einem Trauerjahr. Unsere 85jährige Grossmutter starb. Mehrere Jahre hat sie den Lehnstuhl hinter dem Ofen nicht mehr verlassen können; ihre Schwerhörigkeit wurde schlimmer. Ich erinnere mich des letzten Abendmahls. Vor ihrem Lehnstuhl war ein Tisch mit weissem Linnen und zwei silberfarbige Leuchter wurden angezündet. Mein Bruder Markus hatte Pastor Tödt mit dem Wagen geholt. Er grüsste die Greisin und uns, goss Wein in einen kleinen Kelch und legte die Hostie bereit. Nach einem kurzen Gebet sprach er über das Bibelwort: Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Er sprach von dem Lebensabend der Grossmutter und bat sie, die Bitte der Jünger zu ihrem Gebet werden zu lassen. Die Beichtfrage musste er mit erhöhter Stimmen wiederholen weil Grossmutter sie zuerst nicht verstanden hatte. Nach ihrem schlichten " Ja " sprach er die Worte der Sündenvergebung und gab ihr dann das Heilige Mahl. Langsam und feierlich klangen die Worte durch den Raum: "Nehmet hin und trinket, das ist mein Blut; für dich und deine Sünden dahin gegeben in den Tod". Nach der Feier blieb die Grossmutter still in ihrem Stuhl sitzen. Als Mutter Kaffee bringen wollte, schüttelte sie verneinend den Kopf. Sah sie im Geiste noch einmal ihr Leben? Zogen die 85 Jahre an ihr vorüber mit Freud' und Leid? Ein Sohn zog in den Krieg und kam nicht zurück und sie weinte nicht. Ein Sohn starb in Hamburg und sie weinte nicht. Ein Sohn siechte vor ihren Augen dahin und sie weinte nicht. Neun unmündige Kinder blieben zurück, sie trug die Not und die Sorgen des Hauses mit, ohne Tränen. In diesem Jahr trat der Tod als Bote Gottes zu ihr und gebot: "Komm, Feierabend." Als ich mittags aus der Schule heimkam, sagte die Mutter zu mir: "Nun ist unsere Grossmutter tot." Ihre einzige Tochter, Tante Sievers aus Niendorf, war mit dem Wagen geholt worden. Sie fand die Mutter nicht mehr lebend. Am Nachmittag musste ich von der Schule nach Remmels, wo unsere Schwester Marie bei Radbruch in Stellung war, um ihr die Trauernachricht zu überbringen. Sie war im Keller und putzte Stiefel. Als ich meinen Auftrag ausgerichtet hatte, lehnte Marie sich an den Türpfosten und weinte bitterlich. - Am Tage der Beerdigung regnete es. Der Sarg wurde nicht aus der Haustür, sondern über die grosse Diele getragen, zur Hoftür hinaus. Wie oft ist die Grossmutter über diese Diele gegangen mit ihrem Mann und Kindern, zur Arbeit und in Feierabendstunden. Nun trug man die letzte Warnholz noch einmal über die Diele zum letzten Feierabend. Pastor Tödt sprach an ihrem Sarge über das Bibelwort:" Unser Leben währet 70 Jahre und wenn es hoch kommt, sind es 80 Jahre und wenn es köstlich gewesen ist, ist es Mühe und Arbeit gewesen." Nach der Ansprache, Gesang und Segen, wurde der Sarg zu Grabe getragen und sie ruht dort heute an der Seite ihres Mannes. Wenn im Dorfe ein Toter zu Grabe getragen wird, so nimmt die Dorfgemeinschaft Anteil daran. Es besteht noch die gute Sitte der Nachbarschaft. Die Totenfrau geht von dem Trauerhause zu den Nachbarn, um ihnen das Ableben mitzuteilen. Wenn der Tote in den Sarg gelegt wird, sind auch die Frauen der Nachbarn anwesend und leisten kleine Handreichungen. Am letzten Abend vor der Beerdigung kommen die Frauen des Dorfes in das Trauerhaus, um den Verstorbenen nochmals zu sehen. Sie bringen Blumen und Kränze mit, um den Sarg zu schmücken. Mir blieb aus frühester Jugendzeit in Vaasbüttel besonders ein Toter im Gedächtnis. In unserer Kate wohnte damals Claus Breiholz mit seiner Frau Anna und der jüngsten Tochter Greta. Er arbeitete bei Claus Voss, Sägerei in Hohenwestedt. Seine Frau war bei uns und anderen Bauern im Dorfe tätig. Greta ging noch zur Schule und sollte im nächsten Frühling konfirmiert werden. Claus Breiholz war ein Mann von hohem Wuchs und wenig Worten. Auf der Diele hatte er noch eine Hobelbank stehen, um an den Feierabenden noch kleine Arbeiten zu verrichten. Tag für Tag ging er morgens zur Arbeit nach Hohenwestedt, kam mittags kurz heim, um bald wieder an die Arbeit zu gehen. Nur an einem Tag, es war ein Sonnabend, kam er nicht heim. Zu uns kam ein Bote aus der Sägerei. mit der Nachricht, der Tod habe ihm die Säge aus der Hand genommen. Er sei an einem Herzschlag gestorben; meine Mutter möge Anna Breiholz die Nachricht bringen. Mutter ging mit gesenktem Kopf über Diele und Hofstätte ins Nachbarhaus. Die beiden Frauen wussten von dem, was das Leben zerbricht, aber sie zerbrachen nicht, denn sie hatten glauben und beten gelernt. Anna Breiholz konnte es nicht glauben, die Nachricht war zu schmerzlich, kam zu plötzlich. Erst als Dr. Martens ihr einige Stunden später bestätigt hatte, dass ihr Claus die Augen auf dieser Erde nicht mehr öffnen würde, glaubte sie es. Unser Knecht holte den Toten heim. Als Greta mittags aus der Schule kam, erzählte die Mutter auch ihr, dass der Vater zu den Toten gezählt werden müsse. Laut weinend ging sie zur eigenen Mutter. Am Dienstag nachmittag nahm meine Mutter mich an der Hand und wir gingen in das Trauerhaus. Ich ging nicht gerne. In einem Bilderbuch hatte ich ein Knochengerüst gesehen und man hatte mir gesagt: „Das ist der Tod." Nun glaubte ich, Claus Breiholz würde auch so aus­sehen und davor graute mir. Anne Breiholz gab Mutter und mir die Hand zur Begrüssung. Dann traten wir an den Sarg. Ich war freudig überrascht, denn der Tote sah nicht so aus, wie ich es mir in meiner kindlichen Phantasie ausgemalt hatte. Er schien nur zu schlafen. „ Wadd ist he schmuck", rief ich aus. Die Mutter zupfte mich unwillig am Aermel und mahnte: " Jung, du muss beten". Da faltete ich meine Hände und sprach mein Kindergebet: " Lieber Heiland mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen ". Dann schaute ich den Toten wieder an. Haar und Bart waren gekämmt, auf dem Kissen lagen Blumen und sein Gesicht sah so still und friedlich aus. Mir schien, er brauchte nur den Mund aufzumachen und mich zu fragen, wenn ich zu ihm kam:" Na, Hein, watt wult du?" Er fragte mich nie mehr. Am Tisch sah ich seine Tochter; sie hatte den Kopf auf den verschränkten Armen liegen und schluckste, so dass ihr ganzer Körper zitterte. Dieser Schmerzausbruch eines Erwachsenen bewegte mich tief; an diesem Tage hatte ich am kindlichen Spiel gar keine Freude mehr.

Am nächsten Tage schaute ich durch die Türspalte unserer Diele nach dem Trauerhaus. Unser Knecht hatte die Pferde vor dem sauber gewaschenen Wagen gespannt und wartete vor der Türe. Der Bauernwagen, der Saat auf den Acker und volle Ähren wieder in die Scheune gebracht hatte, sollte nun eine Saat nach dem Gottesacker fahren. Der Sarg wurde aus der Türe getragen und auf den Wagen gehoben. Die Witwe und ihre Kinder kamen aus der Tür, um den Mann und Vater das letzte Geleit zu geben. Der älteste Sohn war Lehrer, zwei seiner Brüder Soldaten. Die erwachsenen Töchter gingen mit der Mutter hinter dem Sarge her. Auch die Vassbüttler nahmen Anteil und waren mit im Trauergefolge. Als mein Vater starb, war ich zu klein, um Tod und Trauer zu verstehen, jetzt aber ahnte ich etwas von der Welt des Todes und der Tränen. Das Leben ging seinen Gang weiter. Die Breiholz-Kinder reisten wieder ab. Greta kam nach ihrer Konfirmation nach Bargfeldt bei Innien, um dort von ihrem Bruder für die Aufnahmeprüfung eines Lehrerinnen-Seminars vorbereitet zu werden. Mehrere Monate später zog Tante Breiholz nach Hohenwestedt. Die Hobelbank, die Meissel, Hammer und Sägen kaufte Hans Ratjen. In unsere Kate kam August Porwien und Familie. Später hat Bruder Gustav dort seine Bienenkästen angefertigt und nach der Uebernahme des Hofes durch Bruder Markus wurde das alte, baufällige Haus abgebrochen. An der Stelle, wo einst Menschen wohnten, Freude und Leid miteinander teilten, wo Wiegen und Särge Standen, ist nun ein Obstgarten.

Unser Elternhaus

Das Wohn- und Bauernhaus der Warnholz soll weiter vom Dorfweg entfernt gewesen sein, als unser Haus. Vermutlich war es an dem schmalen Feldweg, der jetzt hinter dem Schweinestall nach der Hauskoppel und Matthof führt, gelegen. Grossvater baute das jetzige Haus in Ost- und Westrichtung, einige Meter von der Dorfstrasse und dem Kuhstall, als Querbau in Süd - Nordfront. Die drei Zimmer waren an der Westseite des Hauses. Wer den Dorfweg in die Haustür trat, kam auf den mit Schieferfliesen bedeckten Flur. Rechts war früher Grossmutters Zimmer, links ein kleines.Zimmer, in welchem im Sommer gegessen wurde. Dieses Zimmer hatte keinen Ofen und wurde auch als Schlafzimmer benutzt. Vom Hausflur führte eine Treppe nach oben, wo sich die Rauchkammer und der Kornboden befanden. Von dem Kornboden hat Bruder Marcus später ein Zimmer abgetrennt und ausgebaut. An der Südseite wurde der Flur von der Küche begrenzt, rechts von der Küche das Wohnzimmer, links eine kleine Speisekammer. Von dem Flur führte ebenfalls eine Treppe in den geräumigen Keller. Eine breite Tür und zwei Fenster trennten den Hausflur von der grossen Diele. Die Diele wurde begrenzt von den Pferdeställen, der Futterkammer, eine Gerätekammer, der Knechtskammer und dem Kuhstall. Der alte Kuhstall, in dem 10 Kühe und die gleiche Anzahl Jungvieh Platz hatten, wurde 1903 abgebrochen und durch einen massiven Neubau ersetzt. In 4 Meter Entfernung war früher gegenüber von dem grossen Haus ein kleines Strohhaus, das ursprünglich als Arbeiterwohnung diente. Die Tür lag unserer Küchentür gegenüber. In der Mitte befand sich eine kleine Küche, rechts ein Raum, der als Backstube diente und links zwei Ställe für Schweine mit Futtergang. Zwischen dem Backhaus, wie wir es nannten, und dem Kuhstall, war nur ein schmaler Gang. Ob dieses Haus schon vor unserem Wohnhaus erbaut wurde, weiss ich nicht. Mein Bruder hat es 1906 abgebrochen und durch einen viel grösseren Neubau ersetzt. An der Ostseite, mehrere Meter vom Kuhstall entfernt, lag in Nord- und Südrichtung die alte Scheune. Auch diese war mit Stroh, oder genauer gesagt, mit Reet gedeckt. An der Nord- und Südseite waren zwei grosse Türen, so dass die Wagen auf der einen Seite ein und der anderen Seite ausfahren konnten. Die Scheune diente hauptsächlich zur Lagerung des Winterfutters Heu und Stroh, auch das Brennmaterial für Küche und Haus wurden hier aufbewahrt. Die Feuerung bestand hauptsächlich aus Busch, Holz und Torf. Auf dem Südgiebel der Scheune befand sich ein Storchennest, in dem Herr und Frau Störchin jeden Sommer Wohnung hatten. Auch diese Scheune steht heute nicht mehr. An der Stelle, wo die alte Scheune stand, ist heute ein Stall, in dem mein Bruder Jungvieh einstellt im Winter. Unverändert steht somit heute nur noch das grosse, 1857 erbaute Wohnhaus. Die Häuser und Scheunen, die abgebrochen wurden, waren alt und baufällig. Der Blitz, der so viele Bauernhäuser in Schleswig-Holstein in Flammen setzte, schlug einmal auf Thuns Koppel neben unserem Haus ein, aber wir blieben ohne Schaden. Die Westseite des Hauses war durch einen Blumengarten geschmückt, der auf einer Seite Ziersträucher, gegen den Obstgarten südlich Nutzsträucher - Stachelbeeren - hatte. Nach dem Gemüsegarten führte eine Erdtreppe, an der Blumenbeete erhöht, angepflanzt waren. In der Mitte dieser Beete, war eine aus dichtem Buchenstrauch gepflanzte Laube, im Sommer ein idealer Platz zum ausruhen. Ein grosser Obstgarten mit ungefähr 50 verschiedenen Apfel-, Birnen- und Kirschbäumen begrenzte das Haus. Am Ende des Obstgartens befand sich am Wege zum Matthof der Backofen. Wegen Feuersgefahr durften die Backöfen nicht in der Nähe von Häusern und Scheunen gebaut werden.

Noch kann ich mich gut an die Jahre erinnern, wo tagein und tagaus das gleichmässige Klappen der Dreschflegel auf der grossen Diele zu hören war. Das Ausdreschen des Getreides war damals die Winterarbeit des Bauern. Wenn die schweren Holzarme der Dreschflegel mehrfach auf das ausgebreitete Korn gefallen war und die Ähren von den Körnern frei, wurde das Stroh zusammen ge­harkt, die Körner in einen Sack geschaufelt, um später durch die Staubmühle gereinigt zu werden. Die Zeiten haben sich geändert. Was früher in monatelanger schwerer Arbeit fertiggestellt wurde, vollbringt die Dreschmaschine heute in Tagen. Aber trotz der Einschaltung der Maschine in den Arbeitsprozess des Bauern, bleibt für ihn das Bibelwort Wahrheit: „ Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Welcher Beruf ist so abhängig vom Sonnenschein und Regen, von Gewitter und Sturm, wie der des Bauern? Grosse Dürre und ein Gewitter mit Hagelschauern, wochenlanges Regenwetter während der Erntezeit und die ganze mühselige Arbeit war vergeblich. Saat und Ernte bleiben, Säemann und Erntearbeiter wechseln. Wo in meiner Kinderzeit der Grossvater noch auf dem Hofe war, arbeitet heute bereits der Enkel. Bauerngeschlechter kommen und gehen, werden und sterben. Über ihrem Land stürmen Schneestürme und scheint die Frühlingssonne, das ewige Gesetz des Lebens wirkt sich aus im Wachsen und Gedeihen. Was ist die Arbeit des Bauern ohne die Naturkräfte, welche die Hand des Schöpfers in den Schoss der Erde gelegt hat? Vergeblich wäre alle Arbeit, alles Sorgen, alles Mühen. Bis an das Ende seiner Tage arbeitet der Bauer mit dem festen Glauben, dass auf seine Saat eine Ernte folgen muss. Erst wenn er in den Schoss der Erde gebettet wird und über seinem Sarg die Worte ver­hallen: Von Erde bist Du gekommen, zu Erde sollst Du werden", hat auch für ihn die Arbeit ein Ende. Wie viele unserer Ahnen Bauern waren, weiss ich nicht. Ueber das Leben des Grossvaters und meine Vaters kann ich nur wenig erzählen. Ein Bild des Grossvaters ist erhalten geblieben und zeigt ihn mit dem Jagdgewehr und der Jagdtasche. Auch der Vater war Jäger. In unserem Wohnzimmer waren an der Wand Geweihe von Rehböcken aufgehängt. Eine Erzählung von einem Knecht des Grossvaters will ich hier wieder geben. "Wir waren am Mist fahren, der Bauer und ich. Ich musste auf laden und er lud den Mist auf der Hauskoppel ab. Immer, wenn er mit dem leeren Wagen zurück kam auf der Deichsel sass ich und pfiff ein Lied. Das ärgerte ihn. Er arbeitete rascher, ich auch. Wie viele Wagen von Mist wir an dem Tag gefahren haben, weiss ich nicht, aber ich blieb Sieger. Immer war ich vor ihm fertig. Am Abend, als wir " de Grüt to Liev halln " nahm er den Zigarrenkasten vom Schrank und gab mir schmulzelnd eine Hand voll Zigarren."

Ein solcher Wettstreit der Arbeit zwischen Bauer und Knecht wäre heute gewiss manchem Bauer willkommen. Es war Sitte, dass der Bauer mit seiner Familie und Knechten und Mägden am gleichen Tisch das gleiche Essen einnahmen. Das Morgen- und Abendessen war sehr einfach. Die Hauptmahlzeit bildete die Buchweizengrütze entweder in Butter oder Magermilch gekocht. Eine Bratpfanne voll gebratener Kartoffeln oder Klössen bildete den Auftakt. Zu der Grütze gab es ein Stück Roggenbrot. Das Land, welches zum Hof gehört, liegt innerhalb der Vaasbüttler Gemarkung in verschiedenen Gegenden. An den Obst- und Gemüsegarten schloss sich die Hauskoppel an. Im Norden begrenzt durch den Weg von Vaasbüttel nach Hohenwestedt bildeten im Osten und Süden Matthofräller und Ratjens Krütstücken die Grenze. Ein schmaler Fahrweg, der Matthofräller führte vom Haus nach dem Matthof. Ein anderer Acker - der Bosskamp - lag mitten im Dorf. Die Einfahrt war am Anfang des Weges nach Tappendorf. Der Bosskamp diente bald als Weide, dann aber auch als Getreidefeld. Unweit von der Landstrasse Hohenwestedt-Niendorf lag Grotlo. Auf diesem Acker hat mein Bruder den letzten Flachs gesät. Die enorm viele Arbeit von der Flachsernte bis zur fertigen Leinwand macht den Flachsbau nicht erträglich. Am Wege nach der Ziegelei lag Jimvort. Ein Erdwall, der früher diese Koppel teilte, ist abgetragen. Direkt an der Ziegelei ist noch ein Acker, der hauptsächlich zum Anbau von Kartoffeln, Rüben und Kohl diente. Auf diesem Acker lag, als mein Vater noch lebte, ein grosser Stein. Ob riesige Gletscher in der Urzeit ihn dorthin getragen haben, ob es ein altgermanischer Opferstein war, das weiss ich nicht. Als Vater mit Detlef Hauschildt aus Hohenwestedt zur Jagd ging, fragte er ihn, ob der Findling verkäuflich wäre. Vater bejahte lachend und verlangte 10.- Mk für den Koloss. Hauschildt bezahlte und der Kauf war abgeschlossen. Den wirst du wohl liegen lassen, soll Vater gesagt haben. H. liess den Koloss nicht liegen und scheute auch keine Kosten. Der Transport des Steines von unserem Acker bis zu seinem Haus in Hohenwestedt soll ihn 200.- Mk. gekostet haben. Nun steht der Koloss schon länger als 50 Jahre vor dem Muschelhaus in Hohenwestedt. Vater war auch mit Claus Voss Inhaber der Vaasbüttler Ziegelei. Seine Mutter ist mit diesem Co.-Geschäft wohl nicht einverstanden gewesen, denn sie hat damals das Wort geprägt " Companie ist Lumpanie. Für unsere Mutter hatte dieses Geschäft nach seinem Tode noch einen Prozess mit dem Zieglermeister Huvendiek zur Folge. Die Toten können nicht als Zeuge vernommen werden. Der Zieglermeister schwor einen Eid und Mutter musste ausser den Gerichtskosten 700,-Ivtk. zahlen. Gegenüber der Ziegelei auf der anderen Seite der Bahn, hatten wir drei Wiesen nebeneinander. Mein Bruder hat die Mühlenwiese von Wilhelm Sievers auch noch gekauft, somit gehören nun mit unserer Brunnswiesch 5 Wiesen nebeneinanderliegend zum Hof. Am Weg von Vaasbüttel nach Bucken war die Moorkoppel. Auch diese Koppel ist durch denKauf der Koppel von Tams vergrössert. Auf derMoorkoppel befinden sich die Moorkuhlen, in denen noch jeden Sommer der Torf für die Winterfeuerurg gegraben wird. Neben der Moorkoppel jedoch mit der Zufahrt vom Feldweg her ist die Neenwisch und daran die Auwiese. Neben der Bahn mit Zufahrt vom Feldweg her befand sich noch eine kleine Wiese, de Wiesbeek. Wie gross das Land und der Wiesenbesitz in Hektargrösse ist, weiss ich nicht.

Wenn ich heute die Namen und Aecker falsch geschrieben habe, so bitte ich zu bedenken, dass ich diese Namen nur in meiner plattdeutschen Sprache gehört habe. Aus dem Leben des Vaters kann ich nur wenig erzählen. Er wird als Bauer sein volles Mass an Arbeit gehabt haben. Wann die ersten Anzeichen der schweren Krankheit sich zeigen und ihn an der Arbeit hinderten, weiss ich nicht. In den Erzählungen der alten Nachbarn hat sich vielleicht ein Körnlein Dorfklatsch mit eingeschlichen und deshalb gebe ich es nicht wieder. Als er nach 22 jähriger Ehe die Augen für immer schloss, blieb die Mutter mit neun Kindern allein. Ein Kind (Emma) war klein noch an Diphtherie gestorben.

Vaasbüttel - unser Heimatdorf

1. Christian Horst - Nachrtwächter - begann seine Arbeit um 10 Uhr abends. Durch einmaliges Pfeifen gab er kund, dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen und er nun die Ruhe des Dorfes bewache. In den meisten Häuserrn brannte dann kein Licht mehr. Bauernarbeit verlangt frühes Aufstehen und darum geht der Bauer auch rechtzeitig zur Ruhe. Um 11 Uhr gab es zwei kurze Pfeifensignale und in der Mitternachsstunde drei. Das war auch in der Neujahrsnacht 1900 nicht anders. Bauern sind nicht Freunde von lärmender Lustigkeit und viel Narretei. Sie wissen, dass ein neues Jahr ihnen die alte, schwere Arbeit bringen wird und haben kein Verlangen durch Bleigießen und sonstigen Mumpitz hinter den Vorhang der Zeit zu schauen. Christian Horst, des Nachtwächters Erdentage waren gezählt. Manches Jahr hat er bei Sturm und Wetter seinen Wächterdienst getan. Er horchte an den Ställen und weckte den Bauern wenn er glaubte, dass es notwendig sei, nach den Tieren zu sehen. Brach Feuer aus, so schreckte er durch Hornsignale die Einwohner aus dem Schlaf. Nun war er alt – ich glaube an die 70 Jahre und seine Lebensuhr war im Begriff, stille zu stehen. Als die Mutter hörte, dass er krank sei, schickte sie mich mit einigen Bratäpfeln zu ihm. Er wohnte in der Armenkate und sein Sohn Wilhelm war bei ihm. Ich klinkte die Außentür auf, klopfte an die Innentür. Willem, der mich wohl schon durchs Fenster gesehen hatte, rief: „Komm man rin, Heine.“ Der alte Nachtwächter sass am Tisch und holte mühsam Atem. Seine Lungen waren krank. Meine Bratäpfel stellte ich vor ihm auf den Tisch und bestellte den Gruß der Mutter. Kaum konnte er noch sagen: „ Sägg dien Mudder man velen Dank, Heine.“ Ich schaute ihn noch einmal an. Er sah fast so aus wie der Weihnachtsmann in den Bilderbüchern. Ein langer weisser Bart, buschige Augenbrauen, ein Paar grosse graue Augen. Einige Tage später schloss Christian Horst diese .grossen Augen und machte sie nicht wieder auf. Sein Sarg wurde auf einen Wagen von Hans Thun gestellt und dann gaben die Vaasbüttler Bauern ihrem toten Nachtwächter das letzte Geleit. Mehrere Jahre vorher war ein anderer Sarg aus der Armenkate getragen worden – Marx Griebel. Der war unser Dachdecker. Einmal - es war im November und ein Sturm fegte über Land und Dörfer – einmal hatte der Sturm das Strohdach unseres Hauses beschädigt. Marx Griebel stieg noch in der Dämmerstunden des Abends hinauf um den Schaden auszubessern. Der Schaden wäre von Stunde zu Stunde grösser geworden, denn der Sturm hielt die ganze Nacht an. Lena Griebel war die Totenfrau von Vaasbüttel. Später verdiente sie ihr Brot mit Spinnen. Mutter Lena hatte eine alte, graue Katze, von der sie sagte: „De is to ful ton Müs fang.“ Wenn die Katze vor dem fenster sass und sich putzte, behauptete Mutter Lena: „ Dat giv anner Weller, de Kate putz siek“. Später wohnte Lena Griebel bei ihrem Schwiegersohn Hans Kröger in der Kate von Marcus Thun und zuletzt in unserer Nachbarschaft im Haus von Claus Stieper. Nun zählt auch sie schon lange Jahre zu den Toten.

Auf der anderen Seite der Armenkate wohnte Marx Harbek mit Frau und Tochter. Er hatte noch einen Webstuhl und auch ging er am Sonnabend von Haus zu Haus und rasierte die Bauern. Sie verdienten ihr Brot schlicht und recht – die Bewohner der Armenkate - und darum waren sie auch im Dorf geachtet. Ihre Behausung war sehr klein und bescheiden Wer durch die Aussentür eintrat sah eine offene Feuerstätte. An der Wand ein Gestell für Teller und Töpfe. Eine schmale Leiter führte auf den Boden, wo Feurung und sonstiges Gerät aufbewahrt wurde. In der Stube standen ein Tisch, einige Stühle, ein großer Koffer, in dem Kleider und Wäsche aufbewahrt wurden. Der Fussboden war geteerter Lehm und mit weissem Sand bestreut. Das Zimmer war gleichzeitig Schlafraum.Die Betten – in der Wand eingebaut – waren tagsüber durch zwei Schiebetüren geschlossen und nicht zu sehen. Bei Mutter Lena stand noch in der Ecke ein Spinnrad und auf dem Stuhl beim Ofen sass die faule Katze. Am Sonntag schnurrte das Spinnrad nicht, dann ging Mutter Lena in die Kirche. Zu der Armenkate gehörte noch ein Garten, der gut angepflanzt und gepflegt wurde. Sie waren arm, die Leute in der Armenkate, oder waren sie reich, weil ihr kindliche gläubiges Gemüt nicht mit der Sorge um vergängliches Gut behaftet war? ---

Meine Erinnerungen an Vaasbütttel habe ich absichtlich mit der Armenkate angefangen, denn die alten Vaasbüttler, die zu meiner Kinderzeit noch lebten, die sind heute alle, alle auf dem Kirchhof. Ihren Todestag kenne ich nicht, die Krankheit an der sie gestorben sind, weiss ich auch nicht, aber an sie selbst kann ich mich sehr gut erinnern. So gut, als hätte ich gestern noch mit ihnen gesprochen über Nichtiges und Wichtiges. Stille gelauscht habe ich, wenn sie erzählten - aus ihrer Jugendzeit, aus ihrer Soldatenzeit, aus ihrem Leben. Ich- will nichts niederschreiben, was der Wahrheit widerspricht, ich will nichts erzählen, was ich für wahr halte, weil die Männer und Frauen, die es angeht, zu den Toten zählen. Menschen - oft sehr irrende Menschen - waren auch die Bauern von Vaasbüttel und ihre Frauen. In manchen Häusern haben sich Trägödien abgespielt, die Menschenglück restlos zerstörten. Schuld und Schicksal gaben einander die Hand. Geschwisterliebe wurde durch Hass vertrieben. Kinder verstanden ihre Eltern nicht und Frauen ihre Männer noch weniger. Über Schuld und Schicksal der Menschen schreitet die Zeit und jedes Menschenherz, das einmal in Freude oder Hass schneller geschlagen hat, zerfällt im Schoss der Erde zu Staub und Asche. Wollte ich richten und verurteilen, so müsste ich mein eigenes ich an die Spitze der Vaasbüttler stellen und mit unbeschwerter Wahrheitsliebe restlos Alles ans Licht bringen, was ich gefehlt und gesündigt habe. Ich sehe in meinem Vaasbüttel die Heimat, die ich nie vergessen konnte, weder in den Alpen noch in den Grosstädten, weder auf dem Operationstisch, noch in den Tagen des Glücks. Heute nach dem zweiten Weltkrieg sind Millionen heimatlos.

Die Bauern von Vaasbüttel durften in ihren Häusern bleiben, auf ihrer Scholle weiterarbeiten, an ihrem Tisch das tägliche Brot essen. Ein Grund, Gott zu danken. ---Nun will ich versuchen, die einzelnen Häuser in Vaasbüttel und deren Bewohner zu beschreiben, soweit, wie mein Gedächtnis sie noch in Erinnerung hat. Zu den ersten Häusern der Gemeinde Vaasbüttel zählten die Wirtschaft Ludwigslust und das villenartige Wohnhaus, das von Kaufmann Andersen in Hohenwestedt gebaut und bewohnt wurde. Ludwig Eggers, der einstige Besitzer der Wirtschaft, hatte eine kleine Gastwirtschaft. Am Eingang des mit hohen Bäumen ausgeschmückten Gartens war zu lesen: „Hier ünner düsse Böken een Piep Tobak schmöken, de Drossel fleut so nüdli, watt is datt hier gemütli.“ In Ludwigslust wurde jedes Jahr unser Kinderschulfest, das Vogelschießen, abgehalten. Nach einem Umzug durch Hohenwestedt begannen hier das. Vogel­stechen und Scheibenschiessen für die Knaben und das Topfschlagen für die Mädchen. Der beste Schütze erhielt als König eine Taschenuhr. Der Tag endete mit Tanz in zwei der Hohenwestedter Wirtschaftssälen. Ein großer Teich, der im Winter zum Schlittschuhlaufen und im Sommer zum Baden frei war, gehörte mit zur Wirtschaft. Ludwig Eggers und seine Anne hatten zwei Töchter - Anna und Martha - und einen Sohn Ludwig. Die beiden Töchter sind mit den Söhnen von Maurermeister Rehder verheiratet und nach Hamburg gekommen. Die Wirtschaft wurde nach dem Tode Ludwigs von Heinrich Tank, Vaasbüttel, übernommen.

Auch Andersen zog nach Hohenwestedt, wo er die Kredit Bank führte und verkaufte sein Haus an Oberstleutnant ........................................................................................ ...................................................... Gegenüber auf der anderen Strassenseite baute unser Müller Johann ..?.. noch sein Korn an. Der Kirchhof wurde erst später angelegt. Am Weg nach Vaasbüttel stand dann dort, wo die Wege sich trennen, das kleine Haus von Siebke. Elsbeth Siebke starb an Magenkrebs. Amanda kam zu einer älteren Schwester. Das Haus wurde verkauft und Chrüschen wohnte bei Stina Lohse am Bahnübergang nach Bucken. In dem Hause wohnt jetzt Briefträger Rieper und Familie. Sein Sohn ist im letzten Krieg gefallen. Als Erster siedelte sich auf der rechten Seite am Wege Christian Ott an. Er war Maurer und baute sich hinter seinem Hause einen geräumigen Schweinestall. Der Weg geht langsam abwärts und dann steht als erstes `Bauernhaus von Vaasbüttel auf der rechten Seite unser Elternhaus vor uns. Beim Bau und vor allen Dingen bei der Anlage des Gartens hat der Grossvater Schönheitsinn bewiesen. Früher standen noch zwei grosse Pappelbäume auf der Hofstätte. Eine Wiederholung der Beschreibung des Hauses, der Neubauten und der Bewohner erspare ich mir. Die Hofstätte fällt mit der Strasse nach Osten leicht ab. Das war nicht günstig für unsere Pferde, denn sie mussten die schweren Erntewagen bergan ziehen.

Unser nächster Nachbar rechts von der Dorfstrass war Johann Timm. Sein Haus und auch die anderen Bauernhäuser waren weiter von der Dorfstraßsse abgebaut. Johann Timm war der Milchfuhrmann von Vaasbüttel. Jeden Morgen im Sommer und im Winter brachte er die Milch des Dorfes in die Meierei nach Hohenwestedt und einige Stunden später die leeren Flaschen oder Butter- und Magermilch wieder zurück. Seine Frau Wiebke und seine beiden Kinder Samuel und Anna standen dem .Vater bei der Bauernarbeit treu zur Seite. Hinten im Garten hatte er ein kleines Bienenhaus. Anna verheiratete sich mit Bornhold aus Grauel. Wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, ist sie früh. Witwe geworden. Als Samuel heiratete, kaufte Nachbar Timm das Anwesen von Peter Jürgens und blieb in seinem Haus als Altenteil. Nur wenige Jahre sollte er den Lebensfeierabend erleben. Er starb 1908. Auch seine Wiebke ist lange tot und in dem Hause, wo ich als Kind oft ein- und ausgegangen bin, wohnen fremde Menschen, die ich nicht kenne. Auch die Mieter, die im Hause unserer Mutter wohnen, kenne ich nicht. In dem nächsten Nachbarhaus an der linken Seite der Strasse, wohnten als Rentner Hinrich Hebel und seine Frau Anna. Hinrich Hebel hatte früher die Landstelle von Peter Jörgens gehabt. Da die Ehe kinderlos war verkaufte er seinen Besitz an Jörgens. Hebel starb an einem Magenleiden in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Seine Frau hat ihn fast 20 Jahre überlebt. Das Haus kaufte Elsbeth Tank als Altenteil. Im alten niedersächsischen Bauernhaus wohnte Nachbar- Claus Stieper mit seiner Frau Anna und den beiden Kindern Claus und Marie. Marie Stieper verheiratete sich mit Claus Delfs in Sarlhusen. Claus Stieper nahm Elsbeth Ohrt aus Rade zur Frau. An ihrem Hochzeitstag musste ich den Kranken und Armen von Vaasbüttel Essen bringen. Später kaufte Claus das Bauernhaus von Hans Soht, neben Herrmann Ratjen. Anna Stieper starb vor ihrem Mann und unser Nachbar wohnte lange Zeit allein in der kleinen Kate mit dem Ziehbrunnen. Sein Haus kaufte Hans Kröger und wurde mit seiner Lise und deren Mutter unsere Nachbarn. Auch hier fand der Tod eine offene Tür. Während unsere Totenfrau Mutter Lena Griebel ein hohes Alter erreichte, starb ihre Tochter Lise Kröger an einer Darmverschlingung. Hans Kröger wohnte später bei seinem Sohn Heinrich. Heinrich Kröger ist Maurer und hat sich am Weg nach Hohenwestedt ein Haus gebaut. Sein Bruder Hermann wurde Schneider und ist in Hamburg.

Im niedersächsischen Buernhaus wohnt nun eine Familie Schleuss. Die Söhne sind aus dem Zweiten Weltkrieg nicht heim gekommen. An das Grundstück von Nachbar Stieper grenzt die Wiese und das Haus von Johann Staben. Auch dieses kleine Bauernhaus ist alt und Johann Staben und seine Frau auch. Die älteren Kinder sind alle verheiratet. Nur Trina ist bei den Eltern daheim. Ihr Bruder Marcus diente 12 Jahre bei den Soldaten in Neumünster. Im Weltkrieg 1914/18 ist er am Herzschlag gestorben. Das Haus und die Wiese hat Bruder Marcus gekauft mit der Bestimmung, dass die beiden Alten bis an ihr Leibensende im Hause wohnen bleiben. Nach dem Tode der Eltern zog Trina nach Hohenwestedt. Ob Marcus das Haus behalten hat, weiss ich nicht. Wir gehen wieder in die Dorfstrasse zürück. Im Haus neben Hinrich Hebel wohnte als Rentner Johann Kröger und seine Haushälterin Trina Böy. Johann Kröger stammte aus Haale bei Todenbüttel. Sein Bruder war Timm Kröger aus Kiel, Justizrat und Schriftsteller. Von seinen Söhnen ist am meisten Baurat Jürgen Kröger bekannt geworden durch seine Grossbauten im ganzen Reich. Baurat Kröger hatte seinen Wohnsitz in Berlin. Die Ansgar Kirche in Kiel, die Laurenciuskirche in Lübeck, der Bahnhof in Metz sind von ihm gebaut. Von der Regierung wurde er mehrfach durch Ordensverlleihungen ausgezeichnet. Mit vielen Deutschen verlor auch er sein Vermögen durch die Inflation und lebte zuletzt in Innien. Der zweite Sohn Marcus Kröger war Rektor in Berlin. Herrmann Kröger Lehrer am Real – Gymnasium in Kiel. Der älteste Sohn Hans Kröger wanderte aus nach Amerika.

Heinrich Kröger musste infolge eines Augenleidens das Studium aufgeben und übernahm den kleinen Bauernhof des Vaters. Er war verheiratet mit Anna Ratjen in Vaasbüttel. Bei der Geburt des ersten Kindes starben Mutter und Kind. Heinrich Kröger verkaufte dann seine Landstelle Heinrich Trede aus Jahrsdorf und lebte einige Jahre bei seinem Vater. Später hat er sich einen Marschhof gepachtet, wieder geheiratet und ist fast erblindet in Husum als Rentner gestorben. Nach dem Tode seiner Frau kam Trina Böy aus Haale nach Vaasbüttel und hat den Haushalt geführt. Sie blieb im Haus wohnen und ist im Oktober 1914 an Gehirnschlag gestorben.

Hohe Begabung und tiefe Heimatliebe waren Kennzeichen der Söhne Johann Krögers. Ein trauriges Familienschicksal war für Hermann Kröger bestimmt. Sein Sohn Hans wurde durch die übermütige Dummheit eines Kameraden beim Gewehrputzen erschossen. Die beiden jüngsten Söhne gehen freiwillig nacheinander aus dem Leben. Als nächstes Bauernhaus liegt nun rechts von der Straße das Anwesen von Heinrich Trede. Heinrich Trede war ein Bastler von großer Vielseitigkeit. Radiogerät, einen Photoapparat, alles baute er sich selbst. Auch in der Imkerei hatte er guten Erfolg und bekam mehrfach Auszeichnungen auf Ausstellungen. Ein einziges Kind wurde den Eltern wieder genommen, bevor es noch den ersten Schritt gehen konnte. Heinrich Trede ist an Kopfkrebs gestorben. Seine Maria wohnt noch im Haus, die Landwirtschaft ist verpachtet oder verkauft.

Im nächsten Haus wohnten Peter Jörgens mit Frau und zwei Töchtern. 1903 wurde das Anwesen verkauft. Das Haus kaufte wie schon erzählt Johann Timm und sein Sohn Samuel wohnt nun dort mit seiner Familie. P. Jörgens ist glaube ich nach Gokels gezogen. Nach Tams seiner Hauswiese steht nun gegenüber von dem Weg nach Tappendorf das Haus von Hans Tank. Das. ursprüngliche Strohdachhaus ist durch einen Neubau ersetzt. Hans Tank und seine Elsbeth hatten zwei Kinder, Tine und Heinrich. Tine Tank ist nach Schenefeld verheiratet und Heine Tank hat die Landwirtschaft verpachtet und ist nun Wirt auf Ludwigslust. Links von der Strasse wohnt unser Höker Johann Voss. Er war Zimmermann und seine Grete versorgte uns mit Kolonialwaren. Sehr oft hiess es daheim: „ Jung, gah na’n Höker un hiol twe Pund Riess. Um nichts Falsches zu bringen, sagte man dann die Dorfstraße hinunter: Twe Pund Riess --- twe Pund Riess. Kam dann ein Erwachsener des Wegs daherund sagte: „Watt, Jung, datt is jo Garni wohr, Du schass jo Plum holen“, so geriet das Gedächtnis in Verwirrung, man geht noch einmal wieder nach Hause und fragt: „Wat schall ick bin Höker holn?“

Im gleichen Hause wohnte auch Maria Voss mit, eine fleissige Arbeiterin, die dem Leben nur in ihren letzten Jahren einen kurzen Feierabend abgewinnen konnte. Die Tochter Doris verheiratete sich mit Johannes Mohr und ihr Sohn hat nun ein gut gehendes Geschäft in Vaasbüttel. Neben der Klate von Hans Thun gehen wir vorbei und stehen nur vor der ältesten Eiche in Vaasbüttel. Ein kurzer knorriger Stamm von beträchtlichem Umfang und eine grosse Krone lassen uns das hohe Alter des Baumes erahnen. Wie mancher Sturm bog seine Zweige, wie mancher Tote wurde neben ihm vorbei gefahren. Die Eiche schweigt!

Die alte Eiche ist gefällt. Die strohgedeckte Scheune ist abgebrochen. Hans Thun und seine Frau ruhen im Grab. Von den Kindern lebt Hanna im Altenteilhaus in Hohenwestedt. Hermann hatte nach Innien geheiratet. Er ist tot. Hans wohnt mit seiner Frau in Vaasbüttel. Alfred kam aus dem ersten Weltkrieg nicht wieder heim. Im Hause von Hans Thun arbeitet nun der Enkel. Vor 50 Jahren bestellte der Großvater noch das Feld, nun führt die Hand des Enkels den Pflug über den Acker. Die Jahre sinken ins Meer der Vergangenheit und wir gehen dem Grabe entgegen. Hans Thun war Hauptmann der Vaasbüttler Feuerwehr. Er hat mit seinen Männern bei manchem Feuer mit geholfen, das verheerende Elend zu löschen.

Gegenüber auf der anderen Seite der Dorfstraße wohnte Marcus Thun mit seiner Frau und seinen drei Kindern Wilhelm, Amanda und Helene. Zwei ältere Töchter waren verheiratet, eine in Bucken und eine in Jahrsdorf. Marcus Thun war Kirchenältester und hat in einer sehr bewegten Zeit über das Geschick der Hohenwestedter Kirche mit beraten. Er starb an einer Blinddarmentzündung. Der Hof wird weiter geführt von seinem Enkel Marcus Göttsche aus Bucken. Wilhelm Thun ging mit seinen Schwestern ins Verlehnthaus und war mehrere Jahre Gemeindevorsteher von Vaasbüttel. Nun ist er tot und seine Schwester Amanda auch.

Mitten im Dorf wohnte Hinrich Tams mit seiner Familie. Er war wohl die längste Zeit Gemeindevorsteher. Das Amt brachte ihm keine grossen Einnahmen. Die Frau und Mutter seiner Kinder starb an der Zuckerkrankheit. Dethlef heiratete in die Gegend von Heide. Anna verheiratete sich mit dem Nachbarsohn Heinrich Tank. Heine und Else sind im Hause des Vaters und führen die Landwirtschaft weiter. Willi war Lehrer. Was aus Hermann und Martha geworden ist, weiss ich nicht.

Neben Hinrich Tams wohnte Wilhelm Sievers. In seinem Verlehnthaus wohnten noch die Eltern und seine Schwester Emma. Emma Sievers ist nach Wapelfeld verheiratet. Wilhelm Sievers verkaufte seinen Besitz und wohnte dann in Dörpstedt. Das Haus kaufte Mathias Kühl aus Vaale in Dithmarschen. Seine Tochter ist mit Rudolf Ratjen verheiratet. Das Haus von Eggert Sievers kaufte Johannes Brüggen. Er war bei unserer Mutter als fleissiger Knecht und später bei Marcus als ebenso treuer Arbeiter. Auch er zählt zu den Toten. –

An den alten Hans Ratjen kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an seine Frau und seine Kinder. Unsere Mutter ging oft zu Trina Ratjen und mitunter nahm sie mich mit. Sie war zuletzt sehr einsam. Ihre beiden Töchter Anna und Trina musste sie zu Grabe geleiten. Auf ihrem größten Hof des Dorfes war Joachim Bauer, sein Bruder Hans wohnte in der Kate. Ein Gewirr von „einander nicht mehr verstehen“ hat dieser Familie viel Leid gebracht. J. Ratjen starb 1914. Sein Sohn Hans ist im ersten Weltkrieg gefallen. Die anderen Kinder leben zum Teil noch in Vaasbüttel. In dem Haus, wo heute Hermann Stieper wohnt, lebte 1900 Hans Soht mit seiner Frau. Land und Tiere waren verkauft, nur die Wohnräume wurden als Altenteil benutzt. Hans Soht war stellvertretender Amtsvorsteher. Bis in sein hohes Alter ging er noch gern auf die Jagd. Er starb 1903.

Und nun gehen wir hinab nach Kuhlenborn. Über der Haustür von Hans Thun sen. grüsst uns ein Bibelspruch und damit wissen wir gleich, wes Geistes Kinder hier wohnen. Das Haus ist neu, denn das alte Bauernhaus hat vor 1900 in einem Gewitter der Blitz angezündet. Hans Thun baute es wieder auf und lebte in der vom Dorf abgelegenen Stille seines Bauernhauses mit seiner Familie weiter. Eine Tochter war verheiratet in Amerika, sein Sohn Gustav war auf dem Prediger Seminar in Kropp, um später ebenfalls nach Amerika zu kommen. In der Wohnstube seines Hauses wurden Bibelstunden abgehalten und die Vaasbüttler dazu eingeladen. Einige kamen, andere nicht. Mit seinem Sohn Marcus und den Töchtern Ida und Wilhelmine wurde die Arbeit im Feld und Garten und Haus getan. Sie waren treue Kirchengänger, und dann traten sie 1903 aus der Kirche aus. In den Deutschen Universitäten war der Glaubenskampf ausgebrochen. Liberale und Positive stritten um die Frage: Wer ist Christus? Gottes Sohn oder Mensch? Die Auseinandersetzungen fanden Eingang in den Blätterwald.

Der Kampf in der Öffentlichkeit für oder gegen die neue Richtung setzte ein. Die Gemüter wurden beunruhigt und begannen zu fragen. das Suchen nach Wahrheit und Klarheit begann. Die Kirche verläßt das alte Evangelium, sie wendet sich von der Lehre Luthers ab, sie stellt Irrlehrer auf die Kanzel, lautete der Vorwurf ernstgemeinter Männer und Frauen. Hans Thun hatte Christus als seinen Erlöser bekannt. Dieser Glaube war das Grundfundament seines Lebens und er war darum nicht gewillt, den zweiten Artikel nach den Worten gekreuziget, gestorben und begraben, zu schließen. Ein toter Religionsgründer, ein Idealmensch, der vor 1900 Jahren in einem fernen, fremden Land gelebt hatte, konnte nicht der Inhalt seines Lebens, seine einzige Hoffnung im Leben und im Sterben sein. Er trat mit seiner Familie aus der Landeskirche aus. Mit ihm die Familien Möller Nindorf, Harbek Hohenwestedt, Stieper Poyenberg und einige Einzelne. In der Nähe von Maas Mühle wurde eine kleine Kirche gebaut, in der alle 14 Tage ein Pastor aus Hamburg predigte. An den übrigen Tagen war Lese – Gottesdienst. Zur inneren Ausschmückung hatte Marcus Thun, der ein Meister im Holzschnitzen war, viel beigetragen. Wenn man bedenkt, dass er nur abends seine Schnitzarbeit verrichtete und keinerlei Lehre oder Anleitung hatte, verdient diese Arbeit volle Anerkennung. Zu der kleinen Gemeinde der Freikirche kamen wenig neue Mitglieder. Was der Bauer als gut erkennt und besitzt, behält er. Mehrere Jahre nach seinem Kirchenaustritt verkaufte Hans Thun seinen Hof und wanderte mit seiner Familie nach Amerika aus. Es ist anzunehmen, dass der Gedanke ihn bewogen hat, mit seinen Kindern, die drüben waren, wieder vereint zu werden, aber dennoch muß ich Fragen: Musste das sein? Alte Bäume verpflanzt man nicht und alte Holsteiner Bauern gehen in der Fremde zu Grunde. Muss es sein, dass die Heimath immer wieder Menschen verliert wie Hans Thun und seine Familie? Die, gerade die sind es wert, der Heimath erhalten zu bleiben. Und wenn ihre Mitmenschen zehnfach ihre Anschauungen nicht teilen, wenn sie hundertfach Enttäuschungen erleben, dennoch, dennoch hätten sie in der Heimath bleiben müssen. Hans Thun und seine Frau ruhen in fremder Erde, vielleicht leben auch seine Kinder nicht mehr alle, sie waren doch waschechte Vaasbüttler und gesegnete Menschen.

Der Hof wechselte seither zweimal den Besitzer. Erst kaufte Hilbert ihn und verkaufte später wieder an Heeschen. Hilbert baute sich oben am Weg ein neues Haus und Wirtschaftsgebäude. Auf dem Hofe ist nun – wenn ich nicht irre – seine Tochter Agnes. Wir gehen zurück. – Wer in dem kleinen Haus am Kattnpol wohnt, weiss ich nicht. Früher waren Heinrich Todt und seine Frau dort, später Heinrich Kröger – Maurer.

Mein Rundgang durch Vaasbüttel ist nun beendet. Die meisten Vaasbüttler, von denen ich erzählt habe, ruhen im Grab. Die Jugend in Vaasbüttel kenne ich nicht. Nun trennen mich tausend Kilometer von meinem Heimatdorf und ich weiss nicht, ob ich es noch einmal wiedersehen werde. Die Jahre schwinden und auch für den Uhrmacher kommt die Stunde, wo die Lebensuhr stille steht. Auf der Dorfstrasse von Vaasbüttel würde ich heute viele fremde Gesichter sehen, Menschen, die der Krieg vertrieben hat von Haus und Hof. Die Vaasbüttler Bauernhäuser sind nicht zu Ruinen geworden. Auf eigenem Ackern können die Bauern wieder Brotkorn säen und ernten. Was innerhalb der Häuser geschieht ist dem ewigen Gesetz Gottes unterworfen, ein Werden und Sterben, dazwischen viel Arbeit, schwere Arbeit. Die Erde ist kein Paradies, sie wird es in den nächsten 50 Jahren erst recht nicht. Für den Bauernstand werden die schwersten Jahre noch kommen, für viele ein Kampf ums dasein. Da werden Bauern mit erdgebeugtem Blick hinter dem Pflug hergehen und die Sorge wie dunkle Nachtgestalt durch die Häuser. „Op ewig ungedeelt“ – war einst das trotzige Losungswort der Ahnen. Wird die Heimath wirklich „ungedeelt“ bleiben? werden die Ränke der Politik zerstören, was Arbeit und Treue aufgebaut haben?

Behüt Dich Gott, mein Heimatland - behüt Dich Gott, mein Heimatdorf Vaasbüttel.

Weil a. Rhein, Ende Februar 1949


Lose Blätter sollen es sein, Blätter aus dem Buch des Lebens, die geschrieben sind von Menschenhand. Erzählungen aus dem Alltag mit seiner Arbeit und Müh. Geschichten, die nicht erfunden oder erdichtet sind, sondern Wahrheiten, die erlebt werden. Erlebt von Menschen, deren Fuß nicht mehr über diese Erde wandert. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, oft ist sie einfach und schlicht, die Blätterseiten sind vorgeschrieben von Arbeit und kleinen Alltagsmühen. Jeder Mensch schreibt aber auch die Gerichtsacten seines Lebens selbst. Auf dem Papier versucht er sich zu entschuldigen, aber im Leben kann er nie auslöschen, was er an Sünde und Schuld in sein Lebensbuch geschrieben hat. Wir Menschen irren – alle. Wir Menschen begehen Fehler--alle. Es gibt nichts Vollkommenes auf dieser Erde.

Vom Kampfe des Menschen mit Schicksal und Schuld will ich erzählen

Ehlert Voss war unser Schuhmacher. Sehr oft brachte ich ihm Arbeit. Am Sonnabend ging ich in sein Geschäft und fragte: Sünd mien Stäweln fertig? Mitunter wurde ein anderer Tag zum Abholen bestimmt, mitunter hiess es auch: „Ga na de Werkstatt un frag“. Dann stieg ich die Treppe hinauf, denn die Werkstatt des Schusters war auf dem Boden, trat ein und wiederholte meine Frage. Sett Di man Ogenblick dol, sagte der Meister, wenn die Reparatur der Schuhe noch nicht fertig war. Aus dem „Ogenblick“ wurde eine Viertelstunde. Ich sass auf einem Holzbock und schaute den Männern zu, dem Meister, dem Gesellen und den Lehrlingen. Alle waren fleissig. Jahre lang ging diese Arbeit des Schustern und seiner Angestellten den gleichen Weg, im Sommer und im Winter. Und dann nahm sie ein jähes Ende und mit ihr das Leben des Meisters. Ehlert Voss hatte einen Gesellen entlassen. Warum weiss ich nicht. Ob die Arbeit des Gesellen oder der Lohn des Meisters die Ursache war, ich kann es nicht erzählen, aber die beiden, Meister und Geselle trennten sich im Unfrieden. Der Geselle findet Arbeit bei einem andern Meister.

In Hohenwestedt ist Maskenball und dort sehen sie sich wieder, der Meister und sein Geselle. Sie geraten in einen Wortwechsel und Streit. Der Geselle verläßt die Wirtschaft und geht hinaus, der Meister geht ihm nach. der Streit geht weiter, es kommt zu einer Schlägerei und der Geselle zieht das Messer. Ehlert Voß wird tot nach Hause gebracht, der Geselle wird verhaftet und kommt ins Gefängnis. Sie suchten die Freude in Tanz und Vergnügen und fanden die Zwietracht und den Hass. Und der Meister den Tod. Es gab große Aufregung und viel Gerede. Die öffentliche Meinung war auf der Seite des Meisters und ein großes Gefolge geleitete ihn zu Grabe. Das Schwurgericht in Kiel urteilte anders. Weil der Geselle die Wirtschaft verlassen hatte, nahmen die Geschworenen an, dass er den Streit nicht gewollt habe. Der Meister sei Ihm an Körperkraft überlegen und der Geselle habe aus Notwehr zum Messer gegriffen. Justizrat Kröger verteidigte den Gesellen und die Geschworenen sprachen ihn frei. Die Einwohner von H. schüttelten die Köpfe und der Geselle ging aus dem Gefängnis in die Freiheit. Ehlert Voß, unser Schuster, war tot, ein loses Blatt, das zur Erde fällt und wieder zu Erde wird. Hört der Geselle in der Nacht, wenn es still ist um ihn, noch das Todesröcheln seines Meisters? Kann er seines Lebens noch von Herzen froh werden? Das Leben geht seinen Gang weiter, die Schuhe repariert ein anderer Meister. Ein Mensch wird wie ein Blatt durch Menschenhand vom Baum des Lebens gerissen. Wer ist hier der Unglückliche, der Meister oder sein Geselle?

Brunnengräber Alpen gräbt sein eigenes Grab

Bei Schmidts Mühle – an der Straße von Hohenwestedt nach Remmels – wollte er einen Brunnen graben. Jahrzehnte war das sein Beruf. Im Sommer und Winter suchte er in der Erde nach Wasser und baute die Brunnen aus. Nur einige Meter tief unter der Oberfläche fand er die Wasseradern. Hier bei Schmidts Mühle mußte er tiefer graben und fand dennoch kein Wasser. Da beschloß er, den Brunnen wieder zu schließen.

An einem Vorfrühlingstage, kurz vor der Mittagspause, kam der Tod zu ihm hinab in den Brunnen und nahm ihm die Schaufel aus der Hand. Das Gerüst des Brunnens brach zusammen, die Bretter stürzten ein und die Sandmassen wurden für den Brunnenmacher zu einem tiefen Grab. – Die freiwillige Feuerwehr wurde alarmiert. Auch die Schüler der landwirtschaftlichen Lehranstalt und viele Freiwillige eilten mit Schaufeln nach Schmidts Mühle, um den Brunnengräber wieder auszugraben. Sie mußten in weitem Umkreis die Erde fort schaufeln, denn der Brunnen war tief. Erst am nächsten Morgen gegen 9 Uhr wurde Alpen geborgen. Er war tot. Sein Sohn war unser Schulkamerad, einen Kopf größer als wir andern. Am Unglückstag kam er nachmittags zu spät in die Schule. Der Lehrer fragte nach ihm und wir erzählten dem Lehrer, was vorgefallen war. Eine kurze Pause kam in den Unterricht. Der Lehrer sagte nicht, aber mir schien, er sinne über die Rätsel des Lebens nach. Alpen hatte Frau und Kinder - Kinder, die noch kein eigenes Brot verdienen konnten. Als der Schüler Alpen nach einer halben Stunde in das Klassenzimmer trat, blieb er in der Tür stehen. Er wollte dem Lehrer wohl etwas sagen, sich entschuldigen, aber er brachte kein Wort über die Lippen. Geh an Deinen Platz, befahl der Lehrer, aber schon nach 10 Minuten sagte er: „Alpen, geh nach Haus“.

Der Schüler konnte heute dem Unterricht nicht folgen, hatte kein Interesse für Weltgeschichte , seine Gedanken waren bei dem Vater im verschütteten Brunnen. Ob er noch lebte? 20 Stunden mußte er noch auf Antwort warten und dann brachte diese Antwort Trauer und Schmerz. Tot --- keine Hoffnung mehr. – Hohenwestedt hat wohl sehr selten eine so so große Trauergefolgschaft gesehen als einige Tage später der Brunnengräber zu Grabe getragen wurde. Wer geholfen hatte, ihn aus dem Brunnen auszugraben, gab ihm nun das Geleit zu dem Grab, das der Totengräber für ihn gegraben hatte. Dem Leichenwagen voran schritten die Männer der Feuerwehr, die Schüler der landwirtschaftlichen Schule, verschiedene Vereine mit dem Trauerflor an ihren Fahnen. Als Alpen den letzten Lebenstag gearbeitet hatte, schien die Sonne. Nun wirbelten Schneeflocken aus dem grauen Himmel. Wir waren schon auf dem Heimweg aus der Schule, als wir vom Kirchhof die Musik spielen hörten: Ich bete an die Macht der Liebe, die mich in Jesu offenbart. Nun betteten sie Alpen in ein kleines Grab und dort ließen sie ihn ruhen. Einige Tage war das Unglück noch Gesprächsthema, dann ging das Leben seinen Gang weiter. Einer der Söhne und Brunnengräber wurde Friedhofswärter und Totengräber in Hohenwestedt. Hat er bei dieser Arbeit an den Vater gedacht, der sein eigenes Grab grub?