Archiv:Vorspann (Liebe Hermine!)
VORSPANN
„Liebe Hermine!“
So beginnen die Briefe meiner Mutter aus der Kriegs- und Nachkriegszeit an eine ihrer Schwägerinnen, Hermine Faust. Diese war Lehrerin und nahm als ältere Schwester Anfang des vergangenen Jahrhunderts ihren jüngsten Bruder Karl, Ehemann meiner Mutter und mein Vater, bei sich in Harburg auf, wodurch er die Gelegenheit erhielt, aufs Gymnasium zu gehen, Abitur zu machen und zu studieren. Zwischen den Geschwistern entstand daher ein besonders inniges Verhältnis. Mein Vater fiel im März 1943 im Mittelmeer. Meine Mutter und meine Tante Hermine trauerten um denselben Mann, die eine um ihren Gatten, die andere um ihren Lieblingsbruder. Das brachte die beiden Frauen, die sich sonst kaum kannten, einander nahe.
Es sind insgesamt 59 Briefe aus den Jahren 1943 bis 1953 erhalten, die sich höchst unterschiedlich auf die einzelnen Jahre verteilen.
1943 | 1945 | 1946 | 1947 | 1948 | 1949 | 1950 | 1951 | 1952 | 1953 |
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1 | 2 | 11 | 5 | 23 | 4 | 1 | 2 | 8 | 2 |
Davon veröffentliche ich hier 57 in bearbeiteter Form. Ergänzt habe ich die Auswahl der Briefe durch einen weiteren an meine Tante Emma Isernhagen und vier an meine Großmutter Linny Claudius. Die Themen der Schreiben sind der Überlebenskampf in der Kriegs- und Nachkriegszeit sowie die kleinen Begebenheiten und Freuden des Alltags, zu denen nicht zuletzt das Erleben der körperlichen und geistigen Entwicklung von uns Kindern, meiner Schwester Wiebke und mir, gehörte.
Die Briefe befanden sich im Besitz meiner Schwester. Ich wußte nichts von ihrer Existenz. Als ich sie vor wenigen Jahren zum ersten Mal las, war ich auf seltsame Weise berührt. Die eigene Kindheit wurde plötzlich wieder lebendig, und damit ein Teil meines Lebens, an den die Erinnerung aus Gründen meines damaligen Alters unzureichend sein muß. Das Bild meiner Mutter stand erneut vor mir, und ich sah mich mit ihren Augen, eine etwas befremdliche Perspektive.
Auch wenn ihre Schrift stumm blieb, so meinte ich doch, sie mit mir sprechen zu hören, vielleicht bewirkt durch ihre unkomplizierte, direkte und frische Art, ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen. Bei manchen Passagen war ich fast zu Tränen gerührt, besonders dann, wenn sie sich die täglichen Sorgen von der Seele schrieb und in ihrer Schwägerin eine Gesprächspartnerin suchte, der sie sich anvertrauen konnte und die ihre innere Not teilte und damit milderte. Ich wurde an die Rolle der Mütter in der Nachkriegszeit erinnert, die eine oftmals vaterlose Generation großzogen und über die ein Schulkamerad mir einmal voller Anerkennung schrieb: „Die Mütter waren es, die unseren Jahrgang prägten.“
Deswegen könnten die Briefe von mehr als rein privatem Interesse sein. Sie geben ein Bild der Zeit: des Krieges, der Nachkriegszeit mit seiner Not und seinen Entbehrungen, dem täglichen Kampf ums Überleben, aber auch vom beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung nach der Währungsreform, dem Aufbau Anfang der 50er Jahre und den damit verknüpften Hoffnungen. Die Erlebnisse und Empfindungen meiner Mutter stehen stellvertretend für die einer ganzen Generation von Frauen. Meine Mutter war kein Mensch, den die hohe Politik bewegte. Dafür fehlten damals nicht nur ihr die Kraft und — nach dem verbrecherischen Mißbrauch des politischen Engagements großer Teile des deutschen Volkes durch die Machthaber des III. Reiches — das Interesse. Manche geschichtlich bedeutsamen Ereignisse der Zeit werden von ihr gar nicht oder nur am Rande behandelt und sind nur dann der Rede wert, wenn sie das eigene Leben betreffen.
Zum Verständnis der Briefe ist ein kurzer Abriß der Geschichte meiner Familie unerläßlich. Dabei beginne ich nicht ohne Grund mit meiner Mutter, denn an meinen Vater habe ich keinerlei Erinnerung, während mich mit ihr ein langes Stück gemeinsamen Lebens verbindet.
Meine Mutter wurde am 29. September 1907 in Wolmersdorf bei Meldorf als fünftes Kind des Arbeiters Johann Hoops und seiner Ehefrau Margaretha Catharina geboren, die noch im Kindbett verstarb. Da der Vater meiner Mutter, die auf den Namen Catharina getauft wurde, keine Möglichkeit sah, seine jüngste Tochter großzuziehen, gab er sie in die Pflege der Pastorenwitwe Linny Claudius. Diese hatte im April 1905 en Neumünsteraner Gefängnispastor Wilhelm Claudius geheiratet, einen Neffen des „Wandsbeker Boten“, des Dichters Matthias Claudius. Er starb ein Jahr später. Da die kurze Ehe kinderlos geblieben war, nahm die junge Witwe die kleine Catharina Hoops in ihre Obhut und adoptierte sie im November 1922. In einem vor dem Amtsgericht Neumünster aufgesetzten Vertrag übertrug Johann Hoops seine elterlichen Rechte vollständig auf Linny Claudius, die so für meine Mutter deren Mutter und für mich meine Großmutter wurde.
Diese wurde 1876 in Schlesien als ältestes Kind des Textilfabrikanten Jung und seiner aus England stammenden Ehefrau geboren, mit der er 1885 samt seinen drei jüngeren Kindern ins Heimatland seiner Frau emigrierte. Meine Großmutter blieb in Deutschland, bestand 1899 in Neumünster ihr Lehrerinnenexamen für höhere Schulen und fand dort 1902 eine Anstellung. Nach dem Tod ihres Mannes mietete sie ein Haus auf der sogenannten Klosterinsel, vom Flüßchen Schwale umgeben, und betrieb eine Pension für junge Mädchen, die auf die nahegelegene Klaus-Groth-Schule gingen, ein Lyzeum.
Mit im Haus lebte ihre zwei Jahre jüngere Schwester Else, unverheiratet und von Beruf „Fürsorgerin“, die ebenfalls in Deutschland geblieben war. Zwischen dem deutschen und dem englischen Zweig der Familie bestanden rege Verbindungen, wie Briefwechsel und gegenseitige Besuche. Meine Mutter wuchs so mit familiären Beziehungen zu zwei Nationen auf. Sie machte ihr Abitur, studierte Englisch, Erdkunde und Sport und unterrichtete ab 1936 als Studienassessorin an mehreren Gymnasien in Schleswig-Holstein.
Im Oktober 1939 heiratete sie den 1902 geborenen Karl Isernhagen, der nach einem Jurastudium mit anschließender Promotion seit 1935 „Erster Bürgermeister“ der Kleinstadt Salzwedel war, im Nordwesten der Altmark gelegen.
Mein Vater ist der jüngste Sohn von Peter Heinrich Georg Isernhagen. Geboren 1846, übernahm mein Großvater im Jahr 1872 in Schätzendorf in der Lüneburger Heide den Bauernhof seines Vaters. Er war ein fleißiger Mann, sowohl bei der Produktion von Nachwuchs als auch bei der Sicherung von dessen Zukunft. Aus erster Ehe blieb nur der spätere Hoferbe Heinrich am Leben, dessen Enkel heute den Isernhagen-Hof bewirtschaftet.
Aus zweiter Ehe mit meiner Großmutter Caroline Dorothee Schlüschen gingen neun Kinder hervor, deren Lebenslauf ich hier kurz anreiße, da sie in den Briefen meiner Mutter eine Rolle spielen.
Die Älteste, Caroline, verheiratete sich mit einem Kapitän namens Westhusen. Sie lebte in der Nachkriegszeit mit ihrer Tochter Grete, deren Mann und Kindern in einer Baracke in Schätzendorf, nachdem ihr Zuhause in Harburg 1944 durch Bomben zerstört worden war.
Emma betrieb in Harburg ein sogenanntes Parapack-Institut mit Wärmebehandlungen gegen Gicht, Rheuma, Ischias und Stoffwechselerkrankungen. Otto besuchte erst eine Ackerbauschule und wanderte 1910 nach Brasilien aus. Berta heiratete den Kleinbauern Ernst Voss aus Schätzendorf. Gustav war zunächst auf dem väterlichen Hof tätig. Er folgte 1912 seinem Bruder nach Brasilien.
Hermine wurde Lehrerin, wegen Krankheit pensioniert und heiratete den Studienrat Dr. Faust, mit dem sie nach dem Krieg auf dem Hof ihres Schwagers Voss lebte. Adele verehelichte sich mit Karl Asche, der als junger Mann bei meinem Großvater gearbeitet hatte. Dieser fand seine Tochter aus dem Hofbesitz mit Haus und Land ab, so daß das Paar über eine eigene Bauernstelle verfügte.
Walter meldete sich nach Ausbruch des I. Weltkrieges mit 15 Jahren freiwillig zum Militär. Er war der jüngste Soldat Niedersachsens und fiel mit 18 Jahren. Ich trage pen anne ihm zum Gedenken seinen Namen.
Meine Mutter heiratete somit in eine kopfstarke Sippe ein, von meinem Vater ironisch als „das Volk Isernhagen“ bezeichnet, wohl wissend, daß für seine Frau der Umgang mit den ausgeprägten Charakteren ihrer angeheirateten Verwandtschaft nicht immer einfach sein würde. Der Stammbaum am Ende des Buches verschafft einen groben Überblick über die Familie Isernhagen.
In einem Brief aus Brasilien gab ihr Schwager Gustav — beide hatten sich noch nie gesehen und sollten es auch in Zukunft nicht — meiner Mutter einen Einblick in Wesen und Werdegang des „Volkes Isernhagen“, den ich hier in gekürzter Form wiedergebe, beschränkt auf die Familiengeschichte.
Gustav Isernhagen Engenheiro Tres Passos Rio Grande do Sul Brasilien den 3. Oktober 1947 Liebe Kaethe un dat luedde Kropptueg![1] Dein lieber Brief vom 27. Juli 47, an Otto und mich gerichtet, ist angekommen; nach 14taegiger Abwesenheit ... fand ich ihn bei meiner Rückkehr vor und habe mich ganz maechtig gefreut! .... Ein seltsames Geschick scheint die Isernhagen getroffen zu haben. So weit unsere Familiengeschichte reicht, ist nie ein Isernhagen in den Krieg gezogen oder ins Ausland, in das „Elend“ gegangen. Und jetzt fordert der erste Weltkrieg ein Opfer in der Familie: der junge Freiwillige Walter, der mit 15 Jahren ins Feld zog, um fuer seine beiden aelteren Brueder, die nicht kommen konnten, einzuspringen, hess sein Leben, der zweite (Weltkrieg) forderte den letzten. Und die beiden Aelteren essen fremdes Brot, und alles Wuenschen zurueckzukehren scheint sich nicht zu erfuellen. So hat unsere Familie in einer Geschlechterfolge mehr erlebt als sonst in Jahrhunderten. Line, die Aelteste, heiratet einen Schiffskapitaen, steckt die Nase in die Welt; sieht fremde Laender und Haefen. Emma, die ewig suchende und unzufriedene, fast moechte ich sagen, die faustische Natur, findet nicht ihre Erfuellung im Ehe- und Mutterstand aus Gruenden, die ich wohl verstehe, erfuehle, aber nicht ganz begreife. Sie haette nach unseren Begriffen, d.h. nach den Begriffen, wie sie gueltig sind in unserer Heide, eine gute Partie machen koennen und wollte nicht. Schliesslich baut sie ihr eigenes Leben auf, schafft sich ihren Wirkungskreis. Otto treibt es hinaus in die Ferne. Hochbegabt, schnellen Geistes, eckte er doch oft an; eine durch Jahrhunderte ererbte Schwerfaelligkeit laesst sich nicht ueberwinden in einer Generation... Berta blieb immer zu Hause... Ich, der dann kam, zeigte so herzlich wenig Lust zum Bauernspielen, zum Lernen und ernstlichen Arbeiten, dafuer aber zu einer Menge dummer und — leider — auch schlechter Streiche, dass Vater - nicht Mutter! — mich viel leichteren Herzens ziehen liess als zwei Jahre frueher Otto. Es haette mich auch nichts mehr gehalten in der Heimat, ich meinte, ich muesste hinaus! Dummer Bengel, der ich war! Nun, das Leben hat mich hart, sehr hart vorgehabt, und dass es mich nicht zerbrochen hat, verdanke ich, glaube ich, dem Gedenken an meine Mutter, an meine einzige, unvergleichliche Mutter, auch wohl etwas Vaters sturem Sinn und dem Stolz auf die Isernhagen, und ich glaube, er hatte auch Recht dazu! ebenfalls war sein Aufstieg, sein Sichanpassen an das Neue einzigartig! Bedenke doch nur: Oft hat er uns erzaehlt, wie er, der frueh Verwaiste, als Junge ueber die einsame Heide ging..., die langen, langen Zuege von Frachtwagen, 50, 60 und mehr hintereinander, an ihm vorbeizogen auf der „Napoleonchaussee“ auf ihrem Wege Bremen — Hamburg oder umgekehrt, und wie seine Gedanken dann mitwanderten in die Ferne, die er doch nie (zu) sehen bekommen sollte. Sein langes Leben hat alles umschlossen, was Deutschlands Werden, Aufstieg und Fall war. Er, der Haeuslingssohn, der seinen Vater frueh verlor und keinen guten Stiefvater bekam, der auch bald starb, musste mit 18 Jahren die Leitung des kleinen Anwesens ... uebernehmen... Dann kam die erste Ehe. Von 5 Kindern sterben ihm 4, und bald auch die Frau. In 2. Ehe wurde er der Ehemann meiner Mutter, und mit ihr, der auch Mittellosen,... begann der Aufstieg, langsam, sicher, aber muehevoll. 10 Kinder werden geboren. Mit Ausnahme der aeltesten, totgeborenen Zwillingstochter, erreichen alle volljaehriges Alter und verlangen Schule und Auslagen. Denn in dieser Sache ging Vater einen anderen Weg als der Durchschnitt der Lueneburger Bauern: seine Jungens, auch die Maedchen, sollten etwas lernen und nicht Haeuslinge oder Handwerker werden. .... Vater und Mutter haben es geschafft, haben einen grossen, schoenen, schuldenfreien Hof geschaffen, der schliesslich doch uns Schlueschenkindern verloren ging. Was Vater urspruenglich dachte ueber die Nachfolge, weiss ich nicht, jedenfalls sollte Otto Lehrer werden. Er ging auch 2 Jahre auf die Praeparandenanstalt in Lueneburg, um dann abzuspringen und auf die traditionelle Ackerbauschule in Ebstorf zu gehen. Er wird also Hoferbe. Dann kam sein Draengen in die Ferne. Ich kam nicht in Frage, da ich anscheinend wenig Anlagen zum Bauern entwickelte. .... Hermine wurde Lehrerin, Walter wuchs heran als Hoferbe, Adele, die sorgliche, in vielem Mutters Ebenbild wie Berta, blieb meistens zu Haus, und Karl ging nach Harburg, bei Hermine wohnend, das Gymnasium zu besuchen. Der Tod Walters warf alle Plaene bezueglich der Nachfolge über den Haufen. .... So kam der Hof in die Haende unseres Stiefbruders, und uns Schlueschenkindern ging die Lebensarbeit unserer Mutter und unser Vaterhaus verloren... Ich habe das dumme Gefuehl, als wenn mein Brief so etwas wie Kraut und Rueben durcheinander geht, er das angeschnittene Thema nicht ausschoepft. Ist wohl auch nicht moeglich in diesem engen Rahmen. Das ist eine Geschichte, auszuspinnen in langen, langen Abenden, wenn man aufgelegt ist, spuerenden Sinnes zu horchen, woher die Lebensstroeme kommen, wie es moeglich ist, dass man so vieles tut und laesst, was der rechnende Verstand verdammt und das man doch tun muss, trotz allem und immer wieder. Wenn ich versuche, Dir ein schwaches, wie ich fuerchte, nicht ganz gelungenes Bild zu geben von der Art und Weise — wie ich die so grosse Verschiedenheit und doch auch wieder Einheit des Fuehlens und Denkens von uns Geschwistern sehe — so deshalb, weil aus Deinem Brief ein so brennendes Verlangen nach Verstehen des so anscheinend Widerspruchsvollem, das Du siehst, herausklingt. Und wie koennte es auch anders sein bei Dir, der Frau von Karl und Mutter seiner Kinder, seines Weiterlebens auf dieser Erde und die, nach Deinem Brief zu schliessen, in hohem Masse Isernhagen- und Schluescheneigenschaften geerbt haben und deswegen sich wohl noch manche Beule an den Schaedel rennen werden? Wieviel deine Erbmasse mildernd, ausgleichend oder verschaerfend wirkt, weiss ich nicht, da ich Dich und Deine Familie leider nicht kenne, aber hoffe, es noch nachholen zu koennen. .... Unhoeflich ist mein Brief, egozentrisch, spricht nur von uns, und nicht eine Frage nach dem Wohlergehen von Dir und den Deinen. Ich hatte den Rahmen des Briefes zu weit gespannt; Zeitmangel hinderte mich, alles logisch und der Reihe nach zu entwickeln. So musst Du mit diesem Salat vorliebnehmen, hoffe aber, dass Du den Grundgedanken erfasst, eben den, dass der Isernhagencharakter in den einzelnen Mitgliedern der Familie so verschieden zum Ausdruck kommt, so voller Widersprueche ist, manchem, und am meisten uns selbst, die Seele oft wundstoesst. .... Und nun ein grosses Gegruesse von Schwager und Schwaegerin zur Schwaegerin Gustav
Bei Kriegsausbruch 1939 wurde mein Vater eingezogen und übersiedelte nach Neumünster ins Haus seiner Schwiegermutter, während sein Posten in Salzwedel von einem anderen übernommen wurde.
Er knüpfte an die väterliche Tradition eifriger Kinderproduktion an, allerdings erschwert durch die Zeitumstände, denn mit sich verschlechternder Kriegslage wurde
den Soldaten immer seltener Heimaturlaub gewährt. Im Juli 1940 wurde meine Schwester Wiebke, im November 1941 ich geboren. Der Tod meines Vaters im März 1943 machte meine Mutter zur Kriegerwitwe und uns zu Halbwaisen.
Der nächste Schicksalsschlag traf uns im Oktober 1944. Beim ersten Großangriff der britischen Royal Air Force auf Neumünster wurde das von meiner Großmutter gemietete Haus zerstört. Die Behörden registrierten einen „Totalschaden“. Wir Bewohner überlebten, retteten wenige Habseligkeiten und waren nun ausgebombt, so wie Millionen andere auch.
Ein neues Zuhause fanden wir in Homfeld bei Innien, einem der fünf Dörfer des Aukrugs, circa 15 Kilometer westlich von Neumünster gelegen. Einige der jungen Mädchen, die meine Großmutter aufgenommen hatte, stammten von Homfelder Bauernhöfen, und daher hoffte sie, daß wir dort nicht ganz als Fremde betrachtet würden.
Eine Bleibe fanden wir im Haus der Familie Maaß: ein einziger Raum, dessen vorderer Teil als Küche diente und vom restlichen durch einer türartige Öffnung abgetrennt war. In diesem lebten wir zu fünft: Großmutter, Großtante, Mutter und zwei Kinder. Meine kranke Großtante Else schlief jedoch in einer Dachkammer des auf der anderen Straßenseite gelegenen Hauses der Familie Blöcker.
Die Einwohnerzahl Homfelds stieg von circa 230 auf über das Doppelte; durch Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene, für die wie für uns nach dem Krieg eine schwere Zeit begann.
Die Jahre zeichneten sich durch einen allgemeinen Mangel aus, selbst von so etwas Alltäglichem wie Schreibpapier. Meine Mutter verwendete daher für ihre Briefe alles Mögliche, vor allem bisher nicht verbrauchte Feldpostbriefbögen und Faltbriefformulare aus der Zeit des III. Reiches.
Die Abbildung ist ein Faksimile in Originalgröße und zeigt die letzte Seite eines Briefes vom 31.7.1946, geschrieben auf Feldpostpapier. Später benutzte sie eine Zeit lang Rechnungsvordrucke des Parapack-Institutes meiner Tante Emma Isernhagen.
Sie schrieb anfangs mit Füllfederhalter, dann auf ihrer Schreibmaschine der Marke „Erika“, doch die Buchstaben sind kaum lesbar; zu oft war das Farbband benutzt worden. Erst nach der Währungsreform gab es eine derartige Kostbarkeit wieder frei zu kaufen. Ihr erster Brief vom 18.2.1943 ist noch in deutscher Schreibschrift gehalten. Nach dem Untergang des Hitler-Reiches schrieb sie mit lateinischen Buchstaben.
Wie soll ich nun mit dem Inhalt der Briefe umgehen? Gebe ich sie als getreuen Nachdruck des Originaltextes wieder, oder bearbeite ich sie? Da meine Mutter keine historische Persönlichkeit ist, wo Gelehrte meinen, aus jedem Wort, aus der Interpunktion, selbst aus orthographischen Fehlern wissenschaftlichen Honig saugen zu können, habe ich mich zu einer Bearbeitung entschlossen. Ich verspreche mir davon einen Gewinn an Lesbarkeit ohne spürbaren Verlust der Eigenarten ihres Schreibens.
So habe ich manche rein privaten Ausführungen weggelassen und Nebensächlichkeiten gekürzt, nicht aber die sich wiederholenden Schilderungen der täglichen Aktivitäten angetastet. Ich hoffe, daß deren Lektüre nicht ermüdend wirkt, sondern deutlich wird, welche Mühe und Anstrengung der Überlebenskampf damals erforderte.
Zwei Briefe — die vom 2.9.48 und 29.9.48 - wurden ganz weggelassen. Andererseits fügte ich fünf Schreiben an andere Adressaten als meine Tante Hermine ein, um inhaltliche Zusammenhänge herzustellen und die Zeitumstände gründlicher zu beleuchten.
Längere Auslassungen sind mit ....., kürzere mit ... gekennzeichnet.
Meine Mutter liebte Endlossätze. Hier griff ich behutsam durch das Setzen von Satzschlußzeichen ein, wo bei ihr nur ein Komma oder Semikolon steht. Auch verwendete sie bestimmte Wörter in oft inhaltsloser Häufung, zum Beispiel „ja“ und „nun“. Etliche davon strich ich ersatzlos.
Mit Ausrufezeichen meinte meine Mutter, vielen ihrer Sätze, die grammatisch Aussagen sind, mehr Gewicht verleihen zu müssen. Sie setzte zur Erhöhung des Nachdrucks vielfach nicht nur eines, sondern mehrere. Manche Sätze enden mit vier Ausrufezeichen.
Dazu kommen noch Unterstreichungen einzelner Wörter als weitere Hervorhebung. Ich habe diese Marotte auf ein vertretbares Maß reduziert. Private Abkürzungen, die der Platzgewinnung in Zeiten der Papierknappheit dienten, habe ich aufgelöst.
Auch verwendete meine Mutter statt des unbestimmten Artikels oft die Zahl 1. Ich habe dafür den Artikel eingesetzt. Ihr unterliefen trotz ihres Doktortitels auch einmal Rechtschreibfehler, aus welchen Gründen auch immer. Ich habe diese stillschweigend korrigiert.
Meine Mutter machte nur selten Absätze. War es ihr Stil, oder hielt sie den freibleibenden Raum für Papierverschwendung? Ich fügte zusätzliche Absätze ein, wo es mir angebracht erschien, um den Text übersichtlicher zu gestalten. Einfügungen in den Text durch mich habe ich in Klammern gesetzt, um deutlich zu machen, daß sie von meiner Hand stammen.
Möge sie mir all diese Eingriffe gnädig verzeihen!
Zum besseren inhaltlichen Verständnis werden Personen bei ihrem ersten Auftauchen mit einer Fußnote eingeführt. Wird nun jemand längere Zeit nicht erwähnt, können bei der Zuordnung das alphabetisch angelegte Personenregister und die Stammbäume der Familie Isernhagen und des Autors am Schluß des Buches helfen. Hierbei beschränkte ich mich im wesentlichen auf die Personen, die in den Briefen meiner Mutter eine Rolle spielen.
Fussnoten
- ↑ Die Schreibmaschine meines Onkels wies keine Umlaute auf, er schreibt daher statt ä, ö und ü wie folgt: ae, oe und ue.