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Einleitung
Im nunmehr hundertjährigen Geschichtsbild der Deutschen Invaliden-Versicherung spiegelt sich u. a. auch der entscheidende Erfolg wider, der in dieser Zeitspanne in der Bekämpfung der Tuberkulose als individualmedizinisches wie als epidemiologisches Problem erreicht wurde. Grundlage entsprechender Beziehungen war das scheinbar so moderne, in Wirklichkeit aber schon im Invalidenversicherungsgesetz von 1889 verankerte Prinzip, "Rehabilitation geht vor Rente“. Dieses gestattete der Rentenversicherung, Heilmaßnahmen zu gewähren, um Rentenzahlungen zu vermeiden, und ermöglichte, die Gesundheitsfürsorge für die versicherte Bevölkerung in ihren Aufgabenkreis einzubeziehen.
Der damals volksseuchenhafte Charakter der Tuberkulose bot hierfür ein weites Feld, bei dessen Bestellung durch die Rentenversicherungsträger in weitsichtiger und konsequenter Nutzung zunehmender Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung und der mit diesen gestiegenen Erfolgsaussichten in der Behandlung auch ein entscheidender Beitrag zur Überwindung der Tuberkulose als seuchenhygienisches Problem geleistet wurde.
Flankiert von einer dem jeweiligen Stand des Wissens angepaßten Gesetzgebung führte dieser Weg unter Koordination der Eigenaktivitäten mit denen anderer in gleicher Sache engagierten Institutionen zum Auf- und Ausbau eines flächendeckenden Netzes von Behandlungsstätten im Gebietsbereich der Rentenversicherungsträger. In diesen bündelte sich im Kreis der dort tätigen Ärzte ein entsprechendes Wissen und Erfahrungsgut, das unter kritischer Prüfung eine ständige Fortentwicklung erfuhr, weitergegeben wurde und überdies in seiner Ausstrahlung Niederschlag in den sonstigen Bemühungen um eine effiziente Tuberkulosebekämpfung fand. Erfolge blieben hierbei nicht aus, betrafen aber unter häufig hilfreicher Auswirkung im Einzelfall vorwiegend den individualmedizinischen Bereich und hatten in epidemiologischer Hinsicht allenfalls marginale Bedeutung.
Die entscheidende Wende, und dies in beiderlei Beziehung, ergab sich erst mit der durch die Tuberkulosewissenschaft zur Verfügung gestellten Chemotherapie. Diese ermöglichte den direkten Angriff auf den Krankheitserreger selbst und damit die kausale Behandlung der Tuberkulose, in deren Verfolgung für die Anwendung der neuen Mittel mit den heute gültigen Therapieregeln in den Behandlungsstätten der Versicherungsträger gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen wesentliche Richtlinien beisteuerten.
Hiermit mündete ein langer Marsch, der zudem auf einer keineswegs geradlinigen und ebenen Straße erfolgt war, nach mancherlei Irrungen und Wirrungen im Ziel. Sein Ende krönte der Sieg über die Tuberkulose als individuelles und epidemiologisches Schicksal. Sie war nunmehr, obschon mit den Merkmalen der Mycobakteriose, eine Infektionskrankheit wie andere auch geworden und bot insbesondere keine speziellen Invaliditätsprobleme mehr. Die Rentenversicherungsträger konnten sich daher nach ihrem maßgeblichen Beitrag zur Überwindung der Tuberkulose von dieser zurückziehen und sich verstärkt anderen Schwerpunkten ihres Aufgabenbereiches zuwenden.
Hiernach restierte jedoch kein abgeerntetes, leeres Feld. Vielmehr verblieben erst im Umfeld der Erkennung, Bekämpfung und Besiegung der Tuberkulose geschaffene bzw. ausgebaute technische Methoden und Fertigkeiten, die neben einem gesteigerten Wissen um pathophysiologische Vorgänge und die Ätiopathogenese sonstiger pulmonaler Affektionen in die Gesamtmedizin eingebracht wurden und hier speziell dem pneumologisch engagierten Arzt in der Diagnose, Beurteilung und Behandlung von Atemwegserkrankungen unterschiedlichster Genese wie etwa bei den infektiösen, berufsbedingten, allergisch-immunologischen und zirkulatorischen Lungenleiden, aber auch bei den primären und metastatischen Lungentumoren von Nutzen ist. Wie andernorts auch hatte die LVA Schleswig-Holstein schon bald nach ihrer Institutionalisierung damit begonnen, ihren an Tuberkulose erkrankten Versicherten Heilfürsorge zu gewähren. Diese basierte in medizinischer Hinsicht auf den damals obherschenden, durch BREHMER und DETTWEILER inaugurierten Vorstellungen von der Heilbarkeit der Tuberkulose durch eine mit sog. hygienisch-diätetischen Maßnahmen verknüpfte Anstaltsbehandlung.
Die Einleitung einer derartigen Heilkur war jedoch eine Kann-Leistung und an der entsprechenden Ermächtigung der Rentenversicherungsträger den Erfolg mit einer Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit bzw. der Verhütung der Erwerbsunfähigkeit zur Voraussetzung. In der Praxis der Handhabung bedeutete dies, daß Kranke in fortgeschrittenen Stadien ihres Leidens von solchen Maßnahmen ausgeschlossen blieben und damit massive Infektionsquellen mit allen ihren Konsequenzen im heimischen Milieu fortbestanden. Trotz dieser nicht zu übersehenden Unzulänglichkeit, was die epidemiologische Bekämpfung der Tuberkulose betraf, war jedoch der grundsätzliche Rechtsanspruch des Versicherten auf Heilbehandlung bei tuberkulöser Erkrankung gegenüber vorausgegangenen Zeiten, in denen diese lediglich Begüterten offenstand und von den weniger privilegierten Volksschichten im Kompetenzgerangel der verschiedenen Wohltätigkeitsinstitutionen nahezu erbettelt werden mußten, ein eindeutiger Fortschritt, der sicher für manches individuelle Tuberkuloseschicksal die Wende zu einem sonst nicht eingetretenen günstigen Verlauf darstellte.
Diesbezüglich war es in Schleswig-Holstein sicher ein Nachteil, daß die LVA während vieler Jahre über keine eigenen Kur- oder Erholungsstätten verfügte und deshalb ihre Patienten abhängig von der jeweiligen Belegungssituation in anderen, zwischenzeitlich schon im Lande im Rahmen der Volksheilstättenbewegung entstandenen Häusern unterbringen mußte. Immerhin kamen aber um die Jahrhundertwende bereits 261 Kuren im Jahr zur Abwicklung, die vornehmlich in entsprechenden Einrichtungen in St. Peter und Warwerort vorgenommen wurden, deren Ausstattung von der LVA unterstützt worden war.
Bis zum Kriegsjahr 1914 war die Zahl der betreffenden Kurgewährungen auf 890 im Jahr angestiegen. Während des Krieges erfuhren diese einen steten Rückgang. Maßgeblich hierfür war Jedoch keine rückläufige Entwicklung der Tuberkulose, sondern kriegsbedingte äußere Verhältnisse, wie u. a. die Beschlagnahme von Betten der Belegungsanstalten für Lazarettzwecke oder auch Schwierigkeiten in der Beschaffung einer ausreichenden Verpflegung für die Kurinsassen. Als nach dem Ersten Weltkrieg im Gefolge der damals angespannten allgemeinen Lebensverhältnisse die Tuberkulosemorbidität zunahm und sich damit die Zahl der Heilverfahrensträger eindeutig erhöhte, versuchte die LVA, diesen Trend durch die Einrichtung eigener Erholungsstätten aufzufangen. Im Zuge dieser Absichten wurde im Jahre 1919 das Grundstück Wilhelminenhöhe in St. Peter und das Kurhaus Kaiserberg angekauft bzw. Kaiserberg auch schon 1919 in Betrieb genommen. Hinzu kam das Erholungsheim Tannenfelde, dessen Ankauf und Ausbau im Jahre 1925 beschlossen wurde.
Nach seiner Eröffnung am 2.6.1926 verfügte die LVA Schleswig-Holstein in St. Peter über 60 Betten für Tuberkulosekranke, in Kaiserberg über 57 und in Tannenfelde über ebenfalls 57 also insgesamt über 168 Betten für Tuberkulosekranke.
Bei einer Zahl von 1.100 entsprechenden Heilverfahren, die von der LVA im Jahr zu diesem Zeitpunkt durchzuführen waren, reichte dieses Kontingent in keiner Weise aus, so daß weiterhin zur Unterbringung der betreffenden Patienten auf Fremdbelegung zurückgegriffen und die damit verknüpften Nachteile in Kauf genommen werden mußten. Zudem zeichnete sich in den sog. "Godesberger Richtlinien“ eine Ausweitung der Heilverfahrensgrundsätze mit einer Ausdehnung der Kostenzuständigkeit der Rentenversicherungsträger auf die Ehefrauen und Kinder ihrer Versicherten und damit eine deutliche Zunahme von Heilverfahrensgewährungen bei Tuberkulose ab.
Im übrigen handelte es sich bei den betriebseigenen Kurstätten St. Peter, Kaiserberg und Tannenfelde um keine klinisch geführten Anstalten im eigentlichen Sinne, sondern um Erholungsheime, in denen unter Betreuung durch ortsansässige Ärzte die Kranken nahezu ausschließlich nach den BREHMER und DETTWEILER’SCHEN Prinzipien versorgt wurden. Zwar stellten letztere in Form roborierender Maßnahmen zur Stärkung der allgemeinen und spezifischen Abwehrleistung der Gesamtorganismus immer noch ein wesentliches Fundament jeglicher Tuberkulosetherapie dar, jedoch hatten in dieser auch speziellere Methoden Eingang gefunden.
Beispielsweise wurden im Rahmen einer spezifischen Reiztherapie, um Heilungsvorgänge an tuberkulosen Manifestationen zu beschleunigen oder erst in Gang zu bringen, nach den schlechten Erfahrungen der ersten, noch von Robert Koch selbst initiierien Tuberkulinära statt des Alttuberkulin modifizierte Tuberkuline bzw. Teilsubstanzen des Erregers und ın der unspezifischen Reiztherapie in der gleichen Absicht Eiweißkörper appliziert. Außerdem fanden als erstem Versuch eine Chemotherapie im weiteren Sinne Schwermetalle und hier insbesondere Goldverbindungen Anwendung. Wenn solche Bemühungen retrospektiv auch ohne entscheidenden Erfolg blieben und dazu noch z. T. mit einem nicht unerheblichen Nebenwirkungsrisiko belastet waren, so standen diese damals dennoch des längeren als ernsthafte Möglichkeiten einer differenzierten Tuberkulosetherapie zur Diskussion
Zudem hatten sich mit der Kollapstherapie, deren Wirkungsweise auf der Ruhigstellung von der Tuberkulose befallener Lungenanteile durch einen entsprechenden artifiziell gesetzten Kollaps beruhte, auch andere und neue Wege in der Behandlung der Tuberkulose eröffnet. Wissenschaftlich begründet und ausgebaut durch LUDOLPH BRAUER, der auch ihr Namensgeber war, erfuhr die Kollapstherapie ın der Folgezeit ein zunehmendes Interesse und gewann zusätzliche Bedeutung, als der Anatom GRAEFF 1921 auf der Tagung der Deutschen Tuberkulosegesellschaft in Bad Eister auf die Kaverne als Gestaltungsfaktor des tuberkulösen Schicksals hingewiesen und erklärt hatte, daß die Kaverne über Kirschgröße einem Todesurteil für ihren Träger gleichkäme, andererseits sich aber auch schon in statistischen Auswertungen die deutliche Effizienz der einzelnen Kollapsverfahren wie des Pneumothorax und seiner Ergänzungsoperationen, der Strangdurchtrennung bzw. der Phrenikusausschaltung, der Plombierung und der Thorakoplastik in der Kavernenvernichtung abzuzeichnen begann.