Archiv:Kriegsjahre in Neumünster (1940-1944)

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Das Pastorat auf der Klosterinsel in Neumünster

KRIEG

Reichskleiderkarte 1940

Viel ist es nicht, was mir mein Vater außer den bereits genannten Studienbüchern hinterlassen hat: seinen Nachnamen, etliche seiner Eigenschaften, zwei Schießbücher aus den Jahren 1935 und 1936, einen Wehrpaß, dessen Eintragungen durch Wassereinwirkung zum Teil unleserlich sind, zwei Orden - das EK Il der eine und der andere ungarischer Herkunft — sowie das Buch „Krieg“ von Ludwig Renn. Das ist alles.

Für den I. Weltkrieg war mein Vater zu jung gewesen, dem großen Schlachten des zweiten sollte er nicht entkommen.

Sein Wehrpaß erlaubt es, ziemlich lückenlos seine militärische Laufbahn nachzuvollziehen. Da die Weimarer Republik wegen des Versailler Vertrages keine allgemeine Wehrpflicht kannte, erst das III. Reich führte diese im März 1935 ein, rückte mein Vater, damals bereits Bürgermeister, als Freiwilliger im niedrigsten Rang eines Schützen im Herbst 1935 in die Kaserne ein und verbrachte jedes Jahr bis zum Sommer 1938 einige Wochen bei der Wehrmacht mit der Ausbildung zum Infanteristen. Er wurde zum Feldwebel befördert und gehörte der Reserve an, die ab August 1939 prompt zu den Waffen gerufen wurde. Nach einer Offiziersausbildung machte er ab Mai 1940 den Feldzug in Frankreich mit, von dem mir seine „Tagebuchstichworte“ vorliegen, aus denen ich auszugsweise zitiere:

10. Mai 1940
Neumünster. Morgens am Rundfunk, Einmarsch in Holland und Belgien gehört. Nachmittags gepackt. 18.38 ab zur Kompanie. Angenehme Fahrt.
15. Mai 1940
7 Uhr im Wagen aufgestanden, gut geschlafen. Schöner Morgen. Den ganzen Tag an der Sauer herumgelegen. Stippbesuch in Luxemburg. Schlechte Verdauung. Um 19.54 über die Grenze gegangen. Herrliche Gegend. Um 24 Uhr ins Quartier.
23. Mai 1940
Morgens 1/2 8 aufgestanden. Unteroffizier Herbst macht 6 englische Gefangene. Ich vernehme sie. Nachmittags abrücken und sogleich ins Gefecht. Feuertaufe an der Somme. Schwerer Artillerie- und M.G.-Beschuß. Abends neue Stellung im Abschnitt der Kompanie. Nachts geschanzt.
29. Mai 1940
In der Nacht Abrücken in ein neues Quartier. Belle Foullefort. Dort im Wagen geschlafen. Morgens durch die Kreidedünen nach Osten. Im Park gerastet. 85-er getroffen, Schokolade

aus Calais bekommen. Calais brennt. Mittags weiter ins Chateau 6 km südlich von Calais. Um 15 % feindlicher Aufklärer. Zum ersten Male wieder arbeitende Bauern gesehen. Schöner Abend. Im Freien bei den Fahrzeugen übernachtet.

31. Mai 1940
Lange geschlafen. Nachmittags mit Koch Quartier gemacht, englischen Schlafsack, in Flakstellung gefunden. Abends bei französisch-flämischer Bauernfamilie Omelett gegessen.

Schöner Abend. Wieder im Stroh der Feldscheune übernachtet.

6. Juni 1940
Im Freien gut geschlafen. Rege Fliegertätigkeit; ich geschlafen. Wieder schöner Sonnenschein. Den ganzen Tag herumgefaulenzt. Abends beim Bataillonskommandeur und auf dem Bataillonsgefechtsstand.
14. Juni 1940
Fast verfranzt; lebhafte Fliegertätigkeit in der Nacht. Gegen 4 Uhr bei L’Echelle vor Montmirail ins Biwak, BeiHaute Feuille Mittagsrast. Kapitulation von Paris!

Eine nüchterne Alltagsdarstellung, die zeigt, was dem Soldaten Karl Isernhagen wichtig erschien. Es ist in den gesamten Aufzeichnungen keine Spur von Haß oder Feindbild zu erkennen, vielmehr wird der Krieg als selbstverständliche, aber auch beschwerliche Pflicht von meinem magenkranken Vater empfunden, der, wenn er im Urlaub mit seiner Schwiegermutter und Frau am Essenstisch saß, häufig dermaßen von Blähungen gepeinigt wurde, dass er aufstand, auf den Flur ging und sich dort erleichterte, was von den Tischgästen als eine Art ferner, ab er doch deutlich vernehmbarer Artilleriedonner wahrgenommen wurde.

Nach einer Zeit als Besatzungssoldat in Frankreich mit anschließender Verwendung im „Heimatkriegsgebiet“ war mein Vater von Oktober bis April 1941 bei einer Lehrtruppe in Rumänien. Die nächsten Eintragungen im Wehrpaß sind verwässert und daher unleserlich, doch ich meine zu wissen, dass er den Russlandfeldzug von Anfang an mitmachte.

Sicher belegt ist dann ab Juni 1942 seine Zugehörigkeit zur Heeresgruppe Süd, die den Vorstoß in Richtung Stalingrad und Kaukasus unternahm. Mein Vater war Verbindungsoffizier bei ungarischen Verbänden, machte den Rückzug im Winter 1942/43 mit und wurde im März 1943 aus Russland mit dem Ziel Tunesien mit einer neu aufgestellten Einheit als Verstärkung des bereits eingeschlossenen Afrika-Korps in Marsch gesetzt. Sein Regiment wurde in Palermo eingeschifft und dann auf hoher See aus der Luft und vom Wasser her angegriffen und völlig zerschlagen. Ende März wurde seine Leiche auf Sizilien angeschwemmt, wo mein Vater beerdigt ist. Posthum wurde er zum zweifelhaften Trost seiner Witwe zum Hauptmann befördert. Den. Geist, besser den. Ungeist der Zeit, atmet der offizielle Nachruf seines Stellvertreters als Salzwedeler Bürgermeister:

„In diesen Tagen traf hier die Nachricht ein, dass Salzwedels Erster Bürgermeister,
Oberleutnant Dr. Karl Isernhagen, sein Leben für den Führer in diesem
Entscheidungskampf um Sein oder Nichtsein des Reiches lassen musste...
Der Krieg rief ihn zu den Waffen; als Nationalsozialist und SA-Mann folgte er dem Rufe
des Führers...
Stadtverwaltung und Betriebsgefolgschaft betrauern den Verlust ihres hochverehrten,
genialen Chefs und vorbildlichen Betriebsführers und werden sein Andenken verewigen,
indem in seinem Geiste weitergearbeitet wird.
Salzwedel, den 15. Mai 1943 Prilipp, 2. Bürgermeister“

Die von meiner Mutter aufgegebene Todesanzeige traf den Sachverhalt wohl besser:

„Mein geliebter Mann, der Vater meiner beiden kleinen Kinder, ...Dr. Jur. Karl Isernhagen ...
fand den Heldentod....
In tiefem Schmerz Dr. Käthe Isernhagen.“

DAS MUTTERKREUZ

Das Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster 2013[1]

Meinem Vater wurden im Verlaufe des Krieges zwei Orden verliehen. Meine Mutter sollte nach seinem Wunsch zumindest einen erwerben; und das mit seiner tätigen Mithilfe: Das Mutterkreuz. Dieses gab es für die Zeugung von Kindern, in seiner untersten Stufe vier an der Zahl, natürlich nur bei rein arischem Nachwuchs. Dieses hehre Ziel vor Augen, machten sich meine Eltern an die Produktion, und zumindest hier deckten sich private Wünsche mit dem Streben des Führers nach weiteren germanischen Herrenmenschen, wobei mir unbekannt ist, ob schnöde Lustgefühle oder staatspolitisch verantwortliches Handeln bei den einer Geburt vorausgehenden Handlungen im Vordergrund standen. Als erster Erfolg an der bevölkerungspolitischen Front wurde im Juli 1940 meine Schwester Wiebke geboren, und endlich — ich ersehnte schon im Mutterleib die eigene Geburt herbei — erblickte ich um die Mittagszeit des 13. November 1941 im Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster das Licht der damals so friedlosen Welt.

Meine erste Handlung auf derselben war wenig heroisch, eher ein Akt biologischer Notwendigkeit: Ich entleerte meine Blase auf dem Bauch meiner Mutter, die, in einer Mischung von Empörung und Neugier, mit den Augen die Herkunft des sie nässenden Strahls verfolgte, meinen kleinen „Piephahn“ als Übeltäter entdeckte und voller Stolz rief: „Ein Junge“!

Der ersehnte Stammhalter war da und wurde im Gedenken an seinen im I. Weltkrieg gefallenen Onkel Walter mit eben diesem Namen versehen. Von einer Taufe wurde auf Wunsch meines Vaters, der aus der Kirche ausgetreten war, und sich, wie es damals Mode war, „gottgläubig“ nannte, erst einmal abgesehen. Weiterer Nachwuchs war geplant, doch die sich verschlechternde Lage des Krieges in Russland führte zu immer weniger Urlaub meines Vaters, so dass es nicht zu mehr Kindersegen kam, bis dieser endgültig durch den Tod meines Vaters verhindert wurde. Meine Mutter, später von mir zu diesem Problem befragt, antwortete lakonisch: "Wir haben zwar noch während der Fronturlaube geprobt, aber es kam zu keinem erneuten Stapellauf.“ Ich habe den Verdacht, dass weiterer Nachwuchs ebenfalls mit einem ‚W“ am Anfang benamst worden wäre, doch so blieb das Erdenrund von einem Werner oder Wilfried, von einer Waltraut oder Wilhelmine Isernhagen verschont, und meine Mutter blieb ohne Mutterkreuz.[2]

VON WEIBERN UMGEBEN

Wiebke und ich im Garten der Klosterinsel
Linny Claudius in der Ausstellung "Frauen in der Geschichte Neumünsters"[3]

Nachdem ich erzählerisch nun endlich das Licht der Welt erblickt habe, könnte man von mir einen Satz erwarten, wie "in Neumünster stand mein Vaterhaus“. Damit kann ich nicht dienen, denn mein Vater, der seit Kriegsbeginn ja Soldat war, hatte seine Dienstwohnung in Salzwedel aufgegeben, da diese von ihm nicht mehr benötigt wurde, und seine Habe im Hause seiner Schwiegermutter untergebracht. Deren Adresse lautete damals: Neumünster, Adolf-Hitler-Straße 61a, Kloster.Was verbarg sich hinter der Bezeichnung „Kloster“? Aufschluß darüber gibt der bisherige Lebensweg meiner Großmutter Linny Claudius[4].

Diese wurde 1876 in Ziegenhals, Oberschlesien, als Tochter des Textilfabrikanten Jung und seiner aus England stammenden Ehefrau geboren. Der Herkunft ihrer Mutter verdankte meine Großmutter ihren englischen Vornamen. Ihr Vater war Besitzer einer Weberei und Färberei im schlesischen Ort Langenbielau, wo meine Großmutter die Erziehung einer „höheren Tochter“ wohlhabender Eltern aus dem Großbürgertum erfuhr. Dazu gehörte Bildung, wie die Kenntnis von Fremdsprachen, vor allem Französisch und Englisch, aber auch Erfahrung mit verfeinerter Lebensart durch einen längeren Aufenthalt in einem Haushalt als ‚Haustochter“ in Paris, was beileibe nicht mit einem Dienstmädchen verwechselt werden darf. Die Umstände, wann, wie und wo meine Großmutter ihren Mann, den Pastor Wilhelm Claudius kennenlernte und heiratete, sind mir unbekannt. Die kurze, kinderlose Ehe und die Adoption meiner Mutter wurden bereits erwähnt. Nach dem Tod ihres Mannes mietete die junge Witwe dessen Dienstwohnung, das Pastorat auf der sogenannten Klosterinsel, vom Flüsschen Schwale umgeben, zugehörig zu Neumünsters Hauptstraße, dem Großflecken. Dieser wurde im III. Reich, wie so viele Straßen, in Adolf-Hitler-Straße umgetauft.

Meine Großmutter nahm in ihrem Haus ihre zwei Jahre jüngere Schwester Else auf, die eine ähnliche Ausbildung wie sie genossen hatte und danach „Volkspflegerin“ oder „Fürsorgerin“ wurde, wie man ihre Tätigkeit damals bezeichnete. Heute würde man „Sozialarbeiterin sagen. Tante Else blieb unverheiratet und schenkte uns Kindern die ganze Liebe und Güte ihres großen Herzens. Ich wurde für sie, wie sie auf Schlesisch sagte, ihr „Jungchen“.

Beide, Linny Claudius und Else Jung, hatten weitere Geschwister, die schon vor dem I. Weltkrieg ins Heimatland ihrer Mutter, England, zurückgekehrt waren. Sie passten ihren deutschen Namen dem Englischen an, nannten sich dort also „Young“. Zwischen dem deutschen und dem englischen Zweig der Familie bestanden rege Verbindungen, wie Briefwechsel und gegenseitige Besuche, die nur während der beiden Weltkriege erschwert oder ganz unterbunden waren. Die Pension meiner Großmutter war gering, sie musste für ein standesgemäßes Leben dazuverdienen. Daher betrieb sie, das Pastorat war ein geräumiges Haus, mit Hilfe eines Dienstmädchens eine Art Pension für junge Mädchen, die von auswärts kamen und auf der Klaus-Groth-Schule, dem nur einen Steinwurf entfernten Neumünsteraner Lyzeum, das auch meine Mutter besucht hatte, das „Einjährige“ machten. Sie erfuhren damit die Weihen höherer Bildung bis einschließlich Untersekunda.

Meine Großmutter war als Pastorenwitwe eine vertrauenswürdige Person, spielte auch sonst in der Neumünsteraner Gesellschaft und Politik durchaus eine Rolle. Sie war Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei, eines Vorläufers der heutigen FDP, und kandidierte, wenn auch erfolglos, während der Weimarer Republik für einen Sitz im Preußischen Landtag, denn Schleswig-Holstein war ja preußische Provinz. Sie war also jemand, dem man ohne Bedenken die eigenen Töchter zur Beherbergung und Erziehung anvertrauen konnte.

Besonders enge, fast freundschaftliche Beziehungen ergaben sich zu einigen Bauernfamilien aus den Dörfern aus der Umgebung Neumünsters, wo meine Großmutter regelrecht weiterempfohlen wurde. Nachdem mein Vater 1943 im Krieg gefallen war, war ich das einzige männliche Wesen auf der Klosterinsel, umgeben von Großmutter, Großtante Else, Mutter, Schwester, Dienstmädchen und den im Hause wohnenden Mädchen.

Das Leben im Hause war von christlicher Einstellung geprägt, die auch mein sich „gottgläubig“ nennender Vater, der aber wohl letztendlich ein moderner Heide war, nicht während seiner kurzen Aufenthalte als Fronturlauber gefährden konnte. In diese von Frauen bestimmte Welt schien ich nicht zu passen. Zwar zeigt ein Foto aus dem Jahr 1944 ein friedlich spielendes Geschwisterpaar, doch die Aufnahme trügt: Meine Schwester Wiebke unternahm, so die mündliche Überlieferung der Familiensaga, auf mein junges, unschuldiges Leben einen ruchlosen Anschlag, und zwar durch unterlassene Hilfeleistung, als ich, noch ungeschickt und tapsig, in die die Klosterinsel umfließende Schwale geriet. Sie soll keinerlei Hilferuf ausgestoßen haben, sondern ruhig zugesehen haben, wie ich mich im Wasser abstrampelte, bis ein mir unbekannter Retter mich ans Ufer zog. Meine erschrockene, aber auch erleichterte Mutter vermutete, dass Wiebke mich „aus Eifersucht ersäufen wollte, damit die Aufmerksamkeit der Familie sich wieder ungeteilt auf sie richtete“. So erzählte sie später mit amüsiertem Lächeln. Diesen Anschlag auf mein kostbares Leben überstand ich unbeschadet, doch der nächste Anschlag galt nicht nur mir, sondern uns allen, und er war ernst zu nehmen.

AUSGEBOMBT

Betreuungskarte für Fliegergeschädigte Neumünster 1944, Ausschnitt
Die Einträge des Wirtschaftsamtes vom 29. Oktober und 02. November 1944

Für die Bevölkerung in den Orten der Heimat war der Krieg in erster Linie eine Bedrohung aus der Luft. Im „Neumünster-Buch“ heißt es dazu: „Zunächst hatte die Bevölkerung Neumünsters vom Luftkrieg so gut wie nichts bemerkt ...

Daß es 1940 einige Male Luftalarm gab und wohl mehr aus Versehen die erste Brandbombe auf ein Haus in der Plöner Straße fiel, gab noch wenig Anlaß zur Beunruhigung.“ Doch je länger der Krieg dauerte, desto häufiger wurden auch kleinere Städte das Ziel von Luftangriffen, und Neumünster bildete durchaus ein lohnendes Ziel: Das Aluminiumwerk von Sörensen & Köster im Stadtteil Brachenfeld hatte sich zu einem kriegswichtigen Großbetrieb entwickelt, die Firma „Land- und See-Leichtbau‘“, an der Heider Bahn zwischen Carlstraße und Rendsburger Straße gelegen, war ein reiner Rüstungsbetrieb und produzierte und reparierte Flugzeuge; es gab das Reichsbahnausbesserungswerk, und Neumünsters bedeutende Tuch- und Lederindustrie wurde spätestens ab 1943 auf Kriegsproduktion umgestellt. Außerdem war Neumünster ein Eisenbahnknotenpunkt.

Die Bevölkerung bereitete sich auf einen Luftangriff vor. Bei uns standen zwei bis drei Koffer griffbereit, mit dem Nötigsten versehen, in der Nähe des Hauses wurden Splittergräben ausgehoben, und das Heulen der Sirenen gehörte bald zum Alltag: Voralarm — Hauptalarm — Entwarnung.

Auf den möglichen Verlust seiner Habe war man eingestellt. Vor mir liegen, auf leichtem Luftpostpapier mit Schreibmaschine geschrieben, was auf etliche Durchschläge hinweist, mehrere Seiten betitelt wie folgt: „Aufnahme und Schätzung - Hab und Gut der Kriegerwitwe Frau Dr. Käthe Isernhagen geb. Claudius nebst Kindern Wiebke und Walter in Neumünster, Adolf-Hitlerstraße 61a, Kloster“.

Auf sechs Seiten folgt detailliert eine schier endlose Liste von Gegenständen, beginnend mit „1 Schlafzimmer-Einrichtung in Mahagoni: 600,-" bis zu ‚2 Kindergummimäntel 8,-". Die Ausstellung ist von einem vereidigten Versteigerer und Schätzer vorgenommen worden. Das Hab und Gut meiner Mutter wird insgesamt mit 17.100,- Reichsmark bewertet, das meiner Großmutter, für die eine gleichartige Liste vorliegt, mit 17.556,- Reichsmark. Beide Dokumente datieren vom 12. Oktober 1944, und als habe diese Vorsichtsmaßnahme und nicht das lohnende Ziel Neumünster mit seinen Betrieben den Angriff provoziert, erfolgte am 25. Oktober 1944 der erste Großangriff aus der Luft auf meine Heimatstadt. Das „Neumünster-Buch“ berichtet:

„Den ersten schweren Bombenangriff hatte die Stadt Neumünster ... in der Mittagszeit des 
25. Oktober 1944 zu bestehen. Innerhalb von zwölf Minuten entluden etwa 180 Bomber 
ihre Tod und Zerstörung bringende Last über der Stadt... Besonders schwer getroffen
wurden die 163er-Straße und die Sick-Kaserne, der Großflecken im nördlichen Teil, der
Kuhberg, die Christianstraße und die Kieler Straße... Das Gelände des Renckschen Parks
und der Klosterinsel wurden in eine Kraterlandschaft verwandelt.“

Wir, die wir auf der Klosterinsel wohnten, erlebten den Angriff wenig geschützt im Keller unseres Hauses, der Weg zu den nahen Splittergräben und den weiter entfernten Bunkern hätte anscheinend zu viel Zeit gekostet. Das Haus wurde von Brandbomben getroffen und begann zu brennen, worauf wir ins Freie flohen. Zur Brandbekämpfung eingesetzte Hitleriungen versuchten vergeblich, das Feuer zu löschen. Nun hatte uns das gleiche Los ereilt wie vor uns schon Millionen andere: Ausgebombt, das Leben und einige Wertsachen gerettet, auf fremde Hilfe angewiesen.

Eine „Betreuungskarte für Fliegergeschädigte“ registrierte einen „Totalschaden“, und das Wirtschaftsamt der Stadt Neumünster vermerkte am 29.10.44 als erste Hilfe für meine Mutter und uns zwei Kinder „3 Wolldecken“ und am 2.11.44 „1 Sammelbezugschein“, damit wir uns mit dem Allernötigsten versorgen konnten.

Wohin nun mit der ausgebombten, obdachlosen Bevölkerung? Im „Neumünster-Buch“ heißt es, „... daß in der Folgezeit viele Ausquartierungen in die ländliche Umgebung erfolgten“. Auch meiner Mutter schien das Leben ihrer beiden kleinen Kinder auf dem Lande sicherer zu sein, und meine Großmutter entsann sich der jungen Mädchen, die sie in ihrem Hause aufgenommen hatte, und zu deren Eltern es oft zu freundschaftlichen Beziehungen gekommen war. Mehrere davon stammten aus dem kleinen Dorf Homfeld, und Oma meinte, dass wir dort nicht als Fremde betrachtet werden würden, sondern auf verständnisvolle Aufnahme hoffen dürften.

Fortsetzung

Fortgesetzt im Kapitel Als Fliegergeschädigte in Homfeld (1944-1950).

Einzelnachweise

  1. Das Foto des FEK wurde vom Chronikteam ergänzt
  2. * Zur Bedeutung und Geschichte des Vornamens Walter: WALTER, (auch:) Walther: alter deutscher männl. Vorn., eigentlich etwa Heerführer” (der 1. Bestandteil gehört zu ahd. ‚walten, herrschen’ ; der 2. Bestandteil ist ahd. heri = ‚Heer‘), Der Name Walter war im Mittelalter weit verbreitet. Bekannt war er vor allem durch die Sagengestalt des westgotischen Königssohns Walther von Aquitanien (Waltharilied), Im 19. Jh. wurde Walter im Anschluß an die historische Dichtung neu belebt. Aus Schillers „Wilhelm Tell“ sind Tells Schwiegervater Walther Fürst und Tells Sohn Walther bekannt, aus Wagners „Meistersingern“ der Ritter Walter von Stolzing. Besonders häufig aber wurde der Name in Erinnerung an den großen mittelhochdeutschen Dichter Walther von der Vogelweide (12./13. Jh.) gegeben.“ Quelle: Dudenlexikon der Vornamen, Mannheim, Wien, Zürich 1974, S. 212
  3. Das Roll-Up der Ausstellung über Linny Claudius wurde nachträglich in den Artikel eingebunden
  4. Linny Claudius (1876 – 1952) war 1919 eine der ersten beiden Frauen in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Neumünster