Archiv:Walters Eltern und Großeltern

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WERD’ BLOSS NICHT WIE DEIN GROSSVATER

Meine Großeltern mit ihren Kindern im März 1908
Übersetzung für die, die deutsche Schrift nicht lesen können, in Zeilenanordnung wie im Original:
„Die Arbeit
Wenn man jetzt durch die Felder geht,
so hat / erhält man das Bild der Arbeit vor sich. Die
Arbeit ist die Anstrengung der Kräfte in
seinem Berufe. Es gibt zwei verschiedene
Arbeiten, nämlich: Arbeiten, die mit den leiblichen...

Jeder Mensch hat Großeltern, von den Eltern geschätzt als Aufpasser der eigenen Brut, von den betreuten Kleinen, den Enkeln, häufig geliebt als Menschen, die gerade in dem Alter, wenn man sich mit den Eltern manchmal nicht recht versteht, einen Fluchtpunkt darstellen, einen sicheren Hafen, den man anlaufen kann und wo man Zuspruch und Zuneigung erfährt.

Bei mir ist das anders. Auch ich habe natürlich Großeltern, doch persönlich habe ich nur meine Großmutter mütterlicherseits kennengelernt, die bis zum ihren Tode im Jahre 1952 das Oberhaupt unserer kleinen Familie bildete[1]. Verheiratet war sie mit dem Pastor Wilhelm Claudius, von dem ein Heimatbuch, nämlich „Das Neumünster-Buch“ aus dem Jahre 1985, berichtet: „Außerdem gab es seit 1905 einen Pastor für das Zentralgefängnis.“ Für mich ist Wilhelm Claudius, verwandt mit der Familie von Matthias Claudius, nicht viel mehr als ein Grabstein auf dem Neumünsteraner Friedhof mit der Inschrift:

„Hier ruht in Gott der Pastor
Wilhelm Claudius,
geb. d. 26. Mai 1869
gest. d. 19. Juli 1906.“

Die kurze Ehe blieb kinderlos.

Auch von meiner Großmutter väterlicherseits weiß ich wenig. Vor ihrem Mann, meinem Großvater, warnt mich häufig meine Frau mit dem Worten: „Werd' bloß nicht wie dein Großvater!“ Von ihm lohnt zu reden. Was hat er nur angestellt, der Alte, dass sein Enkel vor ihm gewarnt werden muß? Nun, er wurde aufgehängt, zwar nur als Bild, aber das gleich zweimal in unserem Esszimmer. Ich habe ihn also täglich vor Augen. Das eine ist eine Federstrichzeichnung des Hamburger Künstlers Franz May, das andere ein Aquarell des ebenfalls aus Hamburg stammenden Malers Siebelist. Beide haben ihre Arbeit gut gemacht, und eben das erschreckt meine Frau, wenn sie meinem Großvater in die Augen blickt. Sie sieht den Mann, der nicht nur liebenswerte Charakterzüge gehabt haben muß. Auch ich betrachte ihn des öfteren und frage mich, was für ein Mensch er war, damit ich erkennen kann, woher ich komme und wer ich bin. Gekannt habe ich ihn nicht. Er starb vor meiner Geburt.

Doch es sieht mich einer an, der kein völlig Fremder für mich ist: Ein Greis zwar, denn beide Bilder entstanden am Lebensende, aber einer, der nicht gebeugt ist, den das Leben nicht niedergeworfen hat, auch wenn er auf dem Aquarell schon etwas krumm in seinem Lehnstuhl sitzt. Franz May zeichnet ihn als eine Art Prophetenkopf: Etwas schütteres Haar, ein mächtiger Vollbart, ein harter geschlossener Mund, und das, was allem Leben verleiht, ist ein nachdenklich forschender Blick, dem man ansieht, dass sein Besitzer gewohnt war zu überwachen, anzuordnen, sich durchzusetzen.

Siebelist stellt meinen Großvater im Lehnstuhl sitzend als Altenteiler an seinem Lieblingsplatz dar, vor sich ein Fenster, damit er das Geschehen draußen beobachten, notfalls immer noch selbst eingreifen kann. Es heißt von ihm, der 90 Jahre alt wurde, in der Familienchronik: „Peter Heinrich Georg Isernhagen bewirtschaftete den Hökerhof bis zu seinem 78. Lebensjahre.” Mir zeigte man im großväterlichen Hof die Rillen, die er beim Schaukeln mit dem Stuhl in die Fußbodendielen eingekerbt hat, rastlos bis in den Tod. Wenn wir, Großvater und ich, uns in die Augen sehen, frage ich mich manchmal, was er wohl von seinem Enkel denken mag. Doch so lebendig beide Bilder wirken: Opa schweigt. Ich besitze von ihm außer den Bildern zwei Schulhefte, drei Fotos und eine Art Chronik über ihn und seine Familie mit dem Titel „Die Entstehung des Hökerhofes — Seine Besitzer und deren Nachkommen.“

Die Schulhefte sind stockfleckig, ohne Linien, eigenhändig aus Papier geschnitten und geheftet und mit blauen Umschlägen aus Karton versehen. Diese tragen die Aufschrift „Heinrich Isernhagen in Schätzendorf 1860“ und enthalten Schreibübungen in deutscher Schrift des am 3.4.1846 geborenen Großvaters. Er ist damals 14 Jahre alt und befand sich wohl im letzten, im achten Schuljahr, noch vor der Einsegnung, mit der der volle Eintritt ins Erwachsenenleben erfolgte, für ihn das Leben auf dem väterlichen Hofe. Schriftbild und Inhalt des ersten Textes weisen auf einen bereits gefestigten, willensstarken und« feißigen jungen Menschen hin.

Das Foto belegt ebenfalls den Fleiß des Großvaters, wenn auch auf einem anderen Gebiet. Da sitzt ein Patriarch mit strenger Miene auf einem Stuhl, umgeben von seiner zweiten Ehefrau, meiner Großmutter, 1857 als Caroline Magdalene Dorothee Schlüschen geboren, und der mit ihr gezeugten neun Kinder, vier Jungen und fünf Mädchen. Er selbst ist damals knapp über 60 Jahre alt.

Nicht auf dem Foto befindet sich sein späterer Hoferbe Heinrich Isernhagen, einziges überlebendes von vier Kindern aus seiner ersten Ehe mit Katarine Dorothee Mencke. Das am linken Bildrand erkennbare Haus, 1843 gebaut, hatte mein Großvater 1872 samt Hof von seinem Vater übernommen. Es ist das Stammhaus der Isernhagen aus Schätzendorf in der Lüneburger Heide. Auf der Rückseite sind die Namen der Kinder je nach ihrer Position auf dem Foto vermerkt: Caroline, Emma, Otto, Berta, Gustav, Hermine, Adele, Walter und Karl; alle mit ernster Miene, hier in der Reihenfolge ihrer Geburt aufgelistet. Es muß kein leichtes Leben unter der Fuchtel des Alten gewesen sein, denn nach selbstverständlicher Mitarbeit auf dem Hof, auch als Kind, gingen die meisten von ihnen ihrer Wege außerhalb des Hofes und Dorfes.

Otto und Gustav wanderten nach Brasilien aus. Caroline heiratete, Emma baute sich ihr eigenes Leben auf, ebenso wie Hermine, die dann später heiratete, nur Berta und Adele verheirateten sich in Schätzendorf und wurden Bäuerinnen. Ich bin nach meinem Onkel Walter benannt, deswegen über ihn etwas mehr. Er ist, so wie mein Vater Karl Isernhagen, der Stolz, aber auch das Leid der Familie. Walter, so die Familienchronik, ...

..geboren am 8.5.1899 ging mit 15 Jahren freiwillig ohne Einwilligung der Eltern in den I. Weltkrieg, zeichnete sich mehrfach aus, erwarb das EK2[2] und fiel am 1.2.1918 kurz vor seiner Beförderung zum Leutnant als Vizefeldwebel bei Avacour in Frankreich.[3]

Die Familienchronik gibt auch einen Einblick in das Leben der damaligen Zeit, besonders das meines Großvaters. Hier einige Ausschnitte:

Johann Heinrich Isernhagen[4] gründete die heute (1940) noch bestehende Hökerei. Sie war das einzige Geschäft hier in der ganzen Gegend. Noch nicht einmal in den größeren Dörfern Egestorf und Hanstedt war ein Kaufmann, so dass wohl anzunehmen ist, dass das Geschäft den damaligen Verhältnissen entsprechend recht gut ging.

Peter Heinrich Georg Isernhagen[5] betrieb die Hökerei weiter, fuhr fast alle 14 Tage mit dem großen Kastenwagen nach Lüneburg, nahm 1 % bis 2 Faden[6] Buchenholz mit und brachte Hökerwaren und Futtermittel mit zurück, Diese Reisen waren sehr beschwerlich. Bei Wind und Wetter 6 — 8 Std. hin und ebenso lange wieder zurück, Aber es wurde dadurch erreicht, dass die Waren im Laden und die Futtermittel nicht ausgingen.

Später fing er auch noch einen Handel mit Futter und Kunstdünger an und versorgte die ganze Gegend mit diesen Artikeln. Er war lange Jahre auch beeidigter Versteigerer und verdiente sich damit bis in sein hohes Alter ein schönes Geld.

An Gebäuden waren nur das 1843 erbaute Wohnhaus sowie eine alte Strohdachscheune mit herabhängendem ®Bienenzaun, Lehmdiele und Holzschauer vorhanden. In derselben befanden sich der Honigspeicher, einige Schweinestäle, Raum für Brennholz und Bodenraum für Heu.

Im Holzschauer haute Fritz Degen alljährlich den Bedarf an Buschholz im Akkord entzwei, musste dieses Brennholz binden und in den Holzstall packen. Er bekam für ein Schock (60 Stck,) nur 1 Mark und musste sich auch noch selbst beköstigen.

Auf dem Boden des Wohnhauses wurden das Korn und das Heu untergebracht. Das Korn wurde im Winter auf der Lehmdiele mit dem Flegel abgedroschen. Links von derselben befand sich der Kuhstall für 4 Kühe, rechts eine Schlafkammer, Hühnerstall und Schweineställe.

Die Kühe wurden entweder im Stall gefüttert oder mussten, besonders nach der Ernte, an den Gemeindewegen, auch auf Ödland, Wiesen, in knappen Futterjahren sogar im Walde, gehütet werden.

Rechts vom westlichen Hauseingang befand sich, wie auch heute noch, die Wohnstube. Diese war aber viel kleiner als heute, weil sich in derselben die sogenannte Hökerkammer und ein Alkoven (Schlafstelle der Eltern) befand. Zwischen diesem und dem Ofen war gerade noch soviel Platz, dass dort die heute noch vorhandene Kommode stehen konnte, in welcher der einzige Sohn aus erster Ehe, Heinrich, schlafen Ronnte. Die Schlafstelle war also tagsüber Kommode, nachts Schlafstelle.

Aus diesen bescheidenen Verhältnissen arbeitete sich mein Großvater, und davon handelt der längere Teil der Familienchronik, heraus, und die Eigenschaften, die dazu nötig waren oder die er im Laufe seines Lebens entwickelte, waren: Fleiß, Zielstrebigkeit, geistige Regsamkeit, aber auch Starrsinn, Härte, Rücksichtslosigkeit. Die Wünsche anderer hatten zurückzutreten, sie waren seinem Willen unterzuordnen, nur er konnte bestimmen und herrschen; sonst war nichts für ihn und seine stetig wachsende Kinderschar zu erreichen. Und dann hieß er auch noch ISERNHAGEN, was jemand als Namen einmal so erklärte: „Einer aus dem eisernen Wald.“ Nomen est Omen. Ich merke es, wenn sich mein Opa in mir regt, und meine Frau merkt es auch, fürchtet es und meint : „Werd’ bloß nicht wie dein Großvater!“

PAPIERE UND DOKUMENTE I

Papier I: ein Foto

Ebensowenig wie meinen Großvater habe ich meinen Vater, Karl Isernhagen, gekannt, denn er fiel rund eineinhalb Jahre nach meiner Geburt im Krieg, zu früh, um an ihn eine Erinnerung zu haben. So stehe ich vor der Schwierigkeit, das Bild eines Menschen, sein Leben und seine Wesensmerkmale aus den Erinnerungen und Erzählungen anderer und aus den wenigen mir vorliegenden Papieren entwickeln zu müssen.

Mein Vater ist am 3.11.1902 in Schätzendorf geboren, wuchs dort als Junge auf, zeigte eine auffallende Begabung beim Lernen in der Schule, so dass ihn mein Großvater in die Obhut seiner älteren Schwester Hermine gab, die in Harburg als Lehrerin lebte, wo er das Gymnasium besuchte und sein Abitur machte. Weitere Stationen seines Lebensweges zeigen diverse Papiere und Dokumente.

Papier I ein Foto
Ein blonder Jüngling mit hoher Stirn — oder verliert er schon Teile seiner Haarpracht? — sieht neugierig und doch auch etwas schüchtern an der Kamera vorbei. Auffallend sind die hellen Augenbrauen und eine sogenannte Sattelnase, die als Erbteil seiner Mutter bei seinen Schwestern oft als niedliche Stupsnase, so wie auch bei seiner Tochter Wiebke, meiner Schwester, ausgeprägt war, ihm jedoch recht weiche Züge verlieh.
Papiere II drei Studienbücher
Danach besuchte er im Sommersemester 1922 und darauf folgenden Wintersemester 1922/23 die Universität Hamburg als „Student der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät‘, ebenso im Wintersemester 1923/24. Für das Sommersemester 1923 fehlen die Unterlagen. Im Sommersemester 1924 und im Wintersemester 1924/25 studierte er in Göttingen. Die Studienbücher weisen die Art der Vorlesung, Namen und Testate der Dozenten und die Studiengebühren aus. Wann und wo mein Vater sein Examen absolviert und unter welchen Umständen er promoviert hat, lässt sich meinen Unterlagen nicht entnehmen.
Papiere III Postkarten aus Österreich und Ungarn
Sie zeigen Abbildungen aus Orten entlang der Donau, vor allem von Wien. Einige Postkarten sind aus Budapest. Mein unternehmungslustiger Vater wanderte als Student donauabwärts bis dorthin; einen Fotoapparat besaß er nicht, also bildeten gekaufte Postkarten seine Reiseandenken.
Papier IV ein Reisepaß, ausgestellt im Februar 1933
Er weist meinen Vater in der Personenbeschreibung unter „Beruf“ als Gerichtsreferendar mit dem Wohnort Düsseldorf aus.
Papier V ein Vertragstext
Am 1. Juli 1933 unterschrieb mein Vater einen „Privatdienstvertrag“ als Gerichtsassessor in Emden.

Danach verliert sich seine Spur, die ich mit Papieren verfolgen kann. Ich meine mich zu erinnern, dass er bereits als junger Mann Mitglied der SA wurde und als sogenannter „Märzgefallener“[7] Mitglied der NSDAP wurde, was eine schnelle Karriere förderte, denn seit Dezember 1934 war er in Salzwedel einer der jüngsten Bürgermeister des Ill. Reiches.

PAPIERE UND DOKUMENTE II

Papier II: ein Foto von Walters Mutter

Während die Existenz meines Vaters für mich eine papierne ist, zum Teil auch auf den Erzählungen anderer beruht, verbindet mich mit meiner Mutter ein langes Stück gemeinsamen Lebens. Die Erinnerungen an sie sind, jetzt im Alter, je nach Begebenheit stärker oder schwächer, manchmal bis zur Unkenntlichkeit verblasst, zuweilen aber steht das Bild meiner Mutter lebendig vor mir. Doch bin ich auch bei ihr bei vielem auf papierne Hilfe angewiesen, besonders bei Dingen, die in Gesprächen zwischen uns kein Thema waren oder die mich in meiner Jugendzeit einfach nicht interessierten. Nun, da sie schon über dreißig Jahre tot ist, kann ich sie nicht mehr befragen. Mögen mir also Papiere und Dokumente helfen, den Teil ihres Lebens zu erhellen, der mir kaum bekannt ist.

Papier I Auszug aus dem Geburts- und Tauf-Register der evangel.-lutherischen Kirchengemeinde
Nach Angabe der Meldorfer Geburts- und Tauf-Register, ... ist Catharina Marie Dora ehel. Tochter des Arbeiters Johann Hoops in Wolmersdorf und dessen Ehefrau Margaretha Catharina, geb. Holm, geboren 1907 den 29 ten September“. Meine Mutter, die noch weitere vier Geschwister hatte, kam schon bald in die Pflege der kinderlosen Pastorenwitwe Linny Claudius in Neumünster. Die Gründe verrät ein am 29. Dezember 1922 vor dem Amtsgericht Neumünster aufgesetzter Adoptionsvertrag.
Papier II Abschrift des Protokolls
Ich (Linny Claudius) nehme ... die Catharina Marie Dora Hoops ... an Kindes Statt an und will, dass sie meinen Familiennamen Claudius ohne Hinzufügung des bisherigen Namens Hoops führen soll.

Ich (Johann Hoops) gebe meiner Tochter ... die Einwilligung dazu, dass sie mit Frau Pastor Claudius einen Kindesannahmevertrag abschließt und von ihr an Kindes Statt angenommen wird. Ich bin darauf hingewiesen worden, dass meine Einwilligung unwiderruflich ist.“ „Da ich damals noch vier weitere Kinder hatte und es mir zumal infolge des Todes meiner Frau (sie starb im Kindbett) schwer geworden wäre, meine jüngste Tochter großzuziehen, so habe ich meine Tochter... bereits im Jahre 1908 an Frau Pastor Claudius übergeben, ihr die ganze Erziehung meiner Tochter überlassen und ich sozusagen die mir an meiner Tochter zustehenden Vaterrechte vollständig abgetreten.

Meine Mutter erklärte dazu: „Im Besitze der Einwilligung meines Vaters nehme ich die Annahmeerklärung der Frau Pastor Claudius hiermit an.

Welch menschliches Schicksal verbirgt sich hinter dem dürren Amtsdeutsch! Einem armen Landarbeiter in Dithmarschen, schon vierfacher Vater, stirbt bei der Geburt des fünften Kindes die Frau im Kindbett, und er weiß sich nicht anders zu helfen, als das Kind in fremde Obhut zu geben. Das Kind wächst dort bis zum fünfzehnten Lebensjahr heran, ist im Beisein des Vaters mit einer Adoption einverstanden und unterhält danach zu ihm und den eigenen Geschwistern so gut wie keine Verbindungen, im Bewusstsein, nicht zu zwei Familien gleichzeitig gehören zu können.

Papier III ein Foto
Es zeigt einen Menschen, der, trotz vertrauter Gesichtszüge, auf mich etwas fremd wirkt. Ernst, nachdenklich, fast erwachsen wirkend, so kenne ich meine Mutter, die zur Zeit der Aufnahme nicht älter als 15 Jahre ist, eigentlich nicht. Hier sieht sie mich an als jemand, der im Bewusstsein lebt, dass mit der Adoption für sie sich andere Möglichkeiten als ein Leben als Magd in Dithmarschen ergeben, nämlich der Aufstieg ins Bildungsbürgertum, zu dem die Adoptivmutter gehörte, der sich aber auch fragt, ob er nun deren Ansprüchen gerecht werden kann, die vielleicht auch eine Belastung darstellen könnten.
Papiere IV Zeugnis der Reife
Das Abiturzeugnis meiner Mutter macht sie richtig sympathisch. Sie hat einmal eine Klasse wiederholt, viele Zensuren sind „genügend“, heute also eine Vier, und auch ein „nicht genügend‘ ist zu finden, und zwar in Musik. Sie wusste also, dass einem nicht alles zufällt, Gott sei Dank!
Papier V Zeugnis über eine Prüfung im Lateinischen
Zum Studium benötigte sie offensichtlich Kenntnisse in Latein, die sie während der Schulzeit nicht erworben hatte, und deren Erwerb sie 1929 vor einer Kommission der Neumünsteraner Holstenschule, dem örtlichen Gymnasium für Jungen, nachwies.
Papiere VI Studienbücher
Diese belegen, vollständig erhalten, das Studium der Fächer Englisch, Erdkunde und Sport; ab Sommersemester 1928 vier Semester in Kiel, Sommersemester 1930 in Graz, Wintersemester 1930/31 in Freiburg und dann noch zwei Semester in Kiel.

Die nächsten vier Semester war sie beurlaubt, sie bereitete sich auf ihr Examen, zu dem sie sich am 21.2.33 gemeldet hatte, vor und verbrachte einige Zeit, ich meine ein Jahr, in England mit Studien vor Ort für ihre schriftliche Staatsexamensarbeit mit dem Titel „Die ländlichen Siedlungen Bedfordshires am Beispiel von Totternhoe“. Von ihrer Studienzeit hat meine Mutter oft geschwärmt. „Claudia“, abgeleitet von ihrem Familiennamen Claudius, machte als humorvoller, lebensfroher Mensch Bekanntschaften und schloß Freundschaften, die zum Teil ein Leben lang hielten. Meine Mutter war ein vorsichtiger Mensch. Deshalb legte sie zwei Prüfungen während ihres Studiums ab , die ihr einen Broterwerb auch dann sicherten, wenn sie mit ihrem Staatsexamen scheitern sollte.

Papier VII Zeugnis
Fräulein stud. phil. Catharina Claudius ... ist nach Beibringung der vorgeschriebenen Zeugnisse in der Zeit vom 15. — 25.2.30 ... geprüft worden ... Auf Grund dieses Ergebnisses der Prüfung wird ihr die Befähigung zur Anstellung als Turn- und Sportlehrerin zuerkannt.
Papier VIII Zeugnis der Befähigung als Mittelschullehrer
Hier „ .. wird dem Fräulein Catharina Claudius die Befähigung zur einstweiligen Anstellung als Mittelschullehrerin zuerkannt“, und zwar in Schleswig am 1. November 1932.
Papier IX „Zeugnis über die wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen“ (10.2.1934)
Nach dem damit absolvierten Staatsexamen begann damals wie heute die praktische Ausbildung als Referendarin, wovon das nächste Dokument kündet.
Papier X Zeugnis über die Pädagogische Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen vom 6.10.1936
Hier heißt es: „Die Vorbereitungszeit hat sie von Michaelis 1934 bis Osten 1935 am Oberbyzeum Neumünster, von Osten bis Michaelis 1935 am Oberlyzeum Schleswig, von Michaelis 1936 am Oberlyzeum Wandsbek abgelegt.“ Jetzt fehlte nur noch eine Anstellung. Doch das war nicht ganz einfach. Es beugte der Staat, hier Preußen, durch den Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein, so vor: „.. eröffne ich Ihnen, dass durch Ihre Ermennung zur Studienassessorin ein Recht oder eine Anwartschaft auf Beschäftigung im öffentlichen höheren Schuldienst ... nicht begründet wird.

Auch waren im III. Reich Frauen an Gymnasien nicht so gerne gesehen, der „Führer“ Adolf Hitler betrachtete als deren Wirkungsplatz mehr den Kreißsaal und die Küche. So konnte meine Mutter von Glück sagen, als ihr am 1. Oktober 1936 „namens des Führers und Reichskanzlers“ mitgeteilt wurde:

Papier XI Emennung zur Studienassessorin
Im Namen des Reichs. Ich emenne unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs die Studienreferendarin Catharina Claudius zur Studienassessorin im preußischen Landesdienst.“ Nach der Heirat mit meinem Vater wurde sie auf eigenen Wunsch vom Dienst an der pädagogischen Front des Reiches entbunden.
Papier XII Entlassung aus dem Dienst
Im Namen des Führers und Reichskanzlers entlasse ich die Studienassessorin Fräulein Catharina Claudius auf ihren Antrag. Kiel, den 28. Oktober 1939.

Die Ausbildung meiner Mutter war damit aber noch nicht beendet. Ihr Mann, mein Vater, selbst promovierter Jurist, legte meiner Mutter nahe, doch auch den Doktortitel zu erwerben. Sie war damals jedoch schon damit beschäftigt, ihrem Mann Kinder und damit dem „Führer und Reichskanzler“ den staatlicherseits ersehnten rassereinen Nachwuchs an Edelgermanen zu schenken und fragte daher nach dem Nutzen des zu erwerbenden Titels, was meinen Vater zu der Bemerkung veranlasste: „Dann sagen die Portiers in Hotels ‚Frau Doktor’ zu dir.“ Das Ende vom Lied:

Papier XIII Abschrift einer beglaubigten Abschrift
Die Philosophische Fakultät der Christian-Albrecht-Universität Kjel verleiht .. Frau Käthe Isernhagen, geb. Claudius aus Wolmersdorf die Würde eines Doktors der Philosophie... Kiel, den 7. Dezember 1942

Ich besitze noch drei Exemplare der Doktorarbeit meiner Mutter als gebundene Broschüre und sonne mich in den Doktortiteln meiner beiden Erzeuger, gleichwohl etwas beschämt, dass ich bei der Erringung akademischer Würden nicht in ihre Fußstapfen trat, die Portiers von Hotels zu mir also „Herr Isernhagen“ sagen, ohne jedes doktorale Beiwerk.

BAUMANNS HÖHLE

Mögen es mir meine Eltern verzeihen, dass ihr bisheriger Lebensweg durch meine Art der Darstellung zu einer trocken-verstaubten, papierenen Aktenkompilation geronnen ist, doch jetzt erfolgt ein erster Griff ins pralle Leben. Zwar sind die folgenden Ereignisse für mich Erzählungen aus zweiter Hand, mein juristisch gebildeter Vater würde sie Ereignisse „vom Hörensagen“ nennen; es könnte das Kommende so gewesen sein, muß es aber nicht, zumindest nicht in allen Einzelheiten.

Vier Menschen trafen sich im Sommer des verhängnisvollen Jahres 1939 zum Urlaub in Westerland auf Sylt. Das Treffen war von einer gemeinsamen Bekannten der Beteiligten namens Wilma angeregt und von den anderen in seinem Zweck begrüßt worden, nämlich einen Ehepartner zu finden, denn die Seelenlage der zu Verkuppelnden war ähnlich.

Mein Vater
Er hatte die Lebensmittelkarten für den geplanten großen Krieg schon in seinem bürgermeisterlichen Panzerschrank und fragte sich, ob sich ein Heldentod, denn er würde Soldat werden, für, wie es hieß, „Volk, Führer und Vaterland“ eigentlich lohne oder ob es nicht sinnvoller sei, vorher zu heiraten, eine Familie zu gründen und als Held in den zu erzeugenden Kindern weiterzuleben.
Meine Mutter
Das Dasein als ledige Studienassessorin hatte nicht vermocht, sie völlig auszufüllen, ein Leben ohne Lohnarbeit an der Seite eines Mannes als Ehefrau und Mutter erschien ihr reizvoller.
Siegfried Küster
Freund und Studienkollege meines Vaters, Rechtsanwalt von Beruf, dachte wie dieser.
Wilma
Sie soll um die Gedanken meines Vaters gewusst und bereits ein Auge auf ihn geworfen haben.

Der gemeinsame Nenner ist leicht erkennbar; doch wer kann Neigungen steuern? Zwar war in den Überlegungen Wilmas eigentlich meine Mutter für Siegfried Küster vorgesehen, doch Karl Isernhagen und sie fanden sich von Anfang an sympathisch, kurz gesagt, es „funkte“ zwischen beiden, und binnen kurzem waren sie einander versprochen. Schade nur, dass es nun zwischen Wilma und Siegfried nicht klappte. Diese gingen leer aus.

Dieser Sommer war, den Erzählungen meiner Mutter nach zu urteilen, eine letzte sorgenfreie Zeit gemeinsamen Fröhlichseins. Man genoß Strand, Wasser, Wellen, Baden, Faulenzen und Ausgehen, eben das, was damals wie heute Menschen im Urlaub auf Sylt glücklich macht. Besonders häufig und ausgelassen verbrachten unsere Urlauber ihre Abende im Lokal „Baumanns Höhle“. Im Oktober 1939 heirateten meine Eltern. Auch Siegfried Küster ist mit anderen Gästen auf den Hochzeitsfotos zu sehen. Mein Vater und Siegfried tragen beide Uniform. Der Krieg war da.

Fortsetzung

Fortgesetzt im Kapitel Kriegsjahre in Neumünster (1940-1944).

Einzelnachweise

  1. Linny Claudius (1876 – 1952) war 1919 eine der ersten beiden Frauen in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Neumünster
  2. Eisernes Kreuz zweiter Klasse
  3. Walter musste, damit ihn das Militär nahm, sein wahres Alter verschweigen und seine Papiere fälschen.
  4. Johann Heinrich Isernhagen ist mein Urgroßvater.
  5. Unterstreichungen im Original
  6. Faden: altes deutsches Brennholzmaß, 10 - 15 Kubikfuß
  7. Märzgefallene sind diejenigen, die nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 in die NSDAP eintraten, oft um beruflich vorwärtszukommen.