Georg Reimer und die gedachte Moorleiche
Die Geschichte Georg Reimer und die gedachte Moorleiche ist eine Erinnerung aus der Chronik von 1995. Eine Geschichte zum Schmunzeln für die Alten, die dabei waren (nach einer plattdeutschen Erzählung von Hermann Kröger über eine wahre Begebenheit).
Es war zu der Zeit, da Georg Reimer Lehrer in Böken war. Sein Name war als Heimatforscher im ganzen Aukrug und 'darüber hinaus bekannt. Manches von dem, was er erforscht und gefunden hatte, besprach er auch mit seinen Schülern. Sie wussten von der Entstehung der großen Moore und auch von Leichen, die man darin gefunden hatte. Moorleichen, mehr als tausend Jahre alt, oft gut erhalten, sind wertvolle Funde. Sie wussten auch, dass sie und auch Vater und Mutter aufgefordert waren, die Augen offenzuhalten und alles zu melden, was auffällig war.
Es war Ende März und trockenes, sonniges Wetter. Besonders Eifrige waren schon im Moor beim Torfstechen. Die Böker Kinder aber mussten zur Schule, war kurz vor Ostern. Für Herbert war dann die Schule zu Ende, denn er wurde konfirmiert. Es war ihm verdrießlich, bei diesem schönen Wetter noch zur Schule zu müssen. Das einzig Gute an der Schule war immer der Wandertag gewesen. Das hatte immer viel Spaß gegeben mit den Kameraden und Ulk mit den Mädchen. Aber wie konnte man den Alten jetzt plötzlich zum Wandertag begeistern? Mit Bitten und Bestürmen: ,Herr Reimer, is heut` so'n schönes Wetter, lassen Sie uns doch Wandertag machen!" das nützte nicht. Das wusste er aus Erfahrung.
Erste Stunde Religion. Wundergeschichten. Kannten alle schon aus der Pastorstunde. Und die Sonne lachte! Wie konnte man den eifrigen Lehrer bloß zum Wandertag bewegen. Wie schön und warm müsste es jetzt auf dem weiten Moor sein.
Alle ins Moor, das wäre was! Aber wie? Wenn ihm jetzt nichts einfiel, würd's zu spät, denn es begann schon die zweite Stunde: Rechnen. Lehrer Reimer ließ die Rechenbücher aufschlagen: Bruchrechnung! Auch das noch! Doch nun blitzte ihm ein Gedanke auf. Ja, das war die letzte Möglichkeit: 'ne Moorleiche!! Bloß ganz ruhig und sinnig vorbringen und sich nicht verheddern: „Herr Reimer! Herr Reimer!" Der Lehrer überrascht: „Na, Herbert, was hast du plötzlich so wichtig?" „Herr Reimer, ich hab' das ja bald ganz vergessen! Vater läßt Ihnen sagen, daß er in der Törfbank so was wie Leichenknochen und Zeugreste gefunden hat, bald wie 'ne Moorleiche habe es ausgesehen. — — Ne, ne, Herr Reimer, 'ne ganz alte, anderthalb Meter in de Törfbank, hat Vater selbst gefunden! Noch is nichts verändert."
Des Lehrers Interesse war geweckt. Er begann zu überlegen. Die Mitteilung des Schülers klang überzeugend. Langes Warten brachte den wertvollen Fund in Gefahr. Hier musste schnell gehandelt werden. Das Wetter war gut, der Wandertag ließ sich verantworten. Kurzer Entschluss: „Kinder, wir machen einen Wandertag ins Moor. Herbert soll uns hinführen, wo sein Vater seine Torfstelle hat!" Im Nu flogen die Bücher in die Schultaschen, und schon standen alle Schüler draußen. Die großen Jungs mit Herbert voran, dann die großen Mädchen und der Lehrer mit den Kleinen hinterher. „I gitt! I gitt 'ne Moorleiche! Wie die wohl aussieht! Und über 1000 Jahre galt!" Es gab nur ein Thema auf dem ganzen Weg: die Moorleiche! Der ebenfalls erwartungsvolle Schulmeister musste immer wieder erzählen, wie es wohl zu einer Moorleiche kommen könne. Alle strebten voran, und jeder wollte als erster die Moorleiche sehen.
Endlich war man im Moor. Lehrer Reimer hatte Mühe, mit seinen Schülern Schritt zu halten, aber auch ihn trieb die Wissbegierde. Vielleicht würde die nächste Stunde zur Sternstunde seiner Heimatforschung. Er ermahnte alle, zusammenzubleiben, denn man müsse jetzt in das unwegsame, tückische Moor. „Herbert, du führst uns nun zur Torfbank deines Vaters. Hast du gehört?" „Ja, ja, Herr Reimer!" Er merkte, dass seine Stimme ganz heiser klang und ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Sein Weg ging nun quer durchs Moor, über Gräben, sumpfige Teile, manchmal von Bult zu Bult. Schließlich würde man ja mal angelangt sein müssen.
Herbert ging etwas zur Seite und blieb auf einem trockenen Platz stehen. „Na, Herbert, wo ist nun die Stelle?" Das klang schon ein bisschen ungeduldig. „Ich will — will — mal sehen, Herr Reimer." Es war ihm, als hätte er einen Kloß im Hals, und es lief ihm plötzlich kalt den Rücken 'runter. Er legte noch die Hand über die Augen, als wollte er sich umschauen. Da begannen ihm ,die Knie zu zittern. Er fühlte, nun war es zu Ende. Nun gab es kein Entrinnen mehr. Drum mit letzter trotziger Kraft: „April! April!" — —
Lähmendes Entsetzen! Wie konnte Herbert das nur tun! Der aber stand da, wie der Sünder auf dem Richtplatz. Lehrer Reimer stand wie gebannt. Wie konnte er sich nur so anführen lassen! Zorn ergriff ihn — ein daumendicker Birkenstock half ihm. Herbert schluchzte, und auf ihn passten die Worte: „Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!" Lebhaft und fröhlich war man ausgegangen, schweigend und traurig kam man zurück.
Das hatte Herbert ia gar nicht gewollt. Aber — „Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß` Leid gebracht!" Schulerinnerung aus längst vergangener Zeit!