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Aufgabenerweiterung
Für die Stammbesatzung war daher wieder zusätzliches Engagement gefragt, das auch willig erbracht wurde. Dies war umso erforderlicher, als sich der Aufgabenbereich Tönsheides erweitert hatte, da sich zwischenzeitlich im Lungenfach eine Akzentverlagerung in Richtung auf die obstrukiven Atemwegserkrankungen, das Bronchialkarzinom und auf eine sich ständig verbreiternde Palette anderer unspezifischer Lungen- und Bronchialkrankheiten abzuzeichnen begonnen hatte. Das Lungenfach rückte von der vorher in ihm dominierenden Phthisiologie in die Nähe einer Gesamtpneumologie.
Anfangsschritte in dieser Richtung hatte es in Tönsheide, in dessen Aufgabenverständnis von jeher der Blick über des Tellers Rand eine maßgebliche Rolle gespielt hatte, schon während des Krieges durch die Aufnahme von Thoraxverletzten in das Reservelazarett und die Einrichtung einer Beobachtungsstation in Tannenfelde für das zugewiesene diffential-diagnostische Krankengut gegeben. In den Nachkriegsjahren aufgrund dringlicherer Probleme der Tuberkulosebekämpfung zunächst nicht weiterverfolgt, fanden solche Ambitionen Wiederaufnahme, als bei rückläufiger Tuberkulose im Rahmen der Röntgenreihenuntersuchung zunehmend pulmonale Prozesse zur Aufdeckung kamen, die dieser auf Grund röntgenologischer Kriterien und klinischer Gesichtspunkte nicht zugeordnet werden konnten und dringend weitergehender Abklärungsmaßnahmen bedurften. Tönsheide, das diesbezüglich — und das auch in operativer und bronchologischer Beziehung — über die entsprechenden Techniken verfügte, nahm sich dieser Aufgabe trotz enger Personalsituation mit dem ihm eigentümlichen Elan an. Bald wuchs ihm bei breiter Inanspruchnahme für weite Landesteile die Rolle eines eifrig genutzten differentialdiagnostischen : Zentrums für pulmonale Affektionen zu.
Unmittelbare Folge dieser Entwicklung war die Zuweisung von Problemfällen unspezifischer Lungen- und Atemwegserkrankungen auch zur stationären Behandlung, die zum überwiegenden Anteil aus Krankenhäusern der Regelversorgung vorgenommen wurden. Augenscheinlich fehlte es ihnen am erforderlichen Know-how bzw: der entsprechenden Ausrüstung, ein Umstand, der diesen jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Er hatte letztendlich‘ geschichtliche Gründe, die auf der Ausklammerung der: Tuberkulose aus. der Behandlung der allgemeinen Krankenanstalten bzw. der Unterbringung der Tuberkulösen in eigenständigen stationären Einrichtungen abseits der großen Straßen beruhte. Deshalb sammelte sich in diesen durch die laufende praktische und theoretische Befassung mit den: von der Tuberkulose am Häufigsten betroffenen Atmungsorganen die umfassendsten Kenntnisse und Erfahrungen in dieser Hinsicht an. Andererseits’ war diese Entwicklung wiederum mit dem Nachteil verbunden, daß es den betreffenden Häusern wegen ihrer isolierten Lage zumeist an ausreichend engen interdisziplinären Verbindungen mangelte, um das erarbeitete Wissen lehrmäßig über den Kreis der eigenen: Mitarbeiter hinaus weiterzugeben.
Diese Problematik war Herrn Professor HEIN, der seine medizinische Ausbildung in verschiedenen Fachgebieten, aber auch in unterschiedlichen Instituten und Kliniken des In- und Auslandes absolviert und hierbei die Vorteile übergreifenden Fachwissen kennengelernt hatte, von jeher bewußt. Das ließ ihn sich stets darum bemühen; solche Nachteile für den Bereich Tönsheides durch die Einstellung von Mitarbeitern differenten Fachwissens wie durch einen entsprechenden Assistentenaustausch, aber auch durch die Durchführung von Studentenkursen und die Herstellung interdisziplinärer Verbindungen mit anderen. Kliniken und Forschungsinstituten, möglichst umfassend zu mindern. Auf der gleichen Ebene bewegte sich seine, auch im Interesse eines unmittelbaren Zugangs des ärztlichen Nachwuchses zum pneumologischen Fachgebiet gestellte Forderung nach der Einrichtung selbständiger pneumologischer Abteilungen an den Medizinischen Universitätskliniken. Bereits 1951 erhoben, hat diese Anregung inzwischen weitgehende Verwirklichung gefunden. Hieran war Tönsheide avantgardistisch insofern beteiligt als erste Institutionen dieser Art wie die in Münster und Mainz durch die aus seinem Mitarbeiterkreis hervorgegangenen Professoren Dr. HEIN und Dr. FERLINZ geleitet oder auch jetzt noch geführt werden.
Ende Juli 1966 schied Herr Professor HEIN nach Erreichen der Altersgrenze aus den Diensten der LVA Schleswig-Holstein. 35 Jahre hindurch hatte er die Geschicke Tönsheides bestimmt und dieses innerhalb weniger Jahre zu einem führenden und in aller Welt bekannten Zentrum der Phthisiologie entwickelt. Ebenso ergingen durch ihn von hier aus Impulse, die die gesamte Pneumologie entscheidend mitformten. Als Mitherausgeber der Ergebnisse der gesamten Tuberkulose- und Lungenforschung, des Zentralblattes für Pneumologie und Tuberkulose und schließlich des Handbuches der Tuberkulose erwarb er sich darüber hinaus durch die Schaffung der Voraussetzungen für die Dokumentation unseres gesamten Wissens in der Pneumologie weitere Verdienste. Hauptsächlich seinem weltweiten Ansehen und dem Einsatz seiner kraftvollen Persönlichkeit war es fernerhin zu danken, daß die Bundesrepublik Deutschland 1948 wieder als Mitglied der Internationalen Union gegen die Tuberkulose anerkannt wurde, und daß das American College of Chest Physician schon bald nach dem Kriege auch Deutschland in seine Internationale Akademie aufnahm.
Da sein Rat unverzichtbar erschien, repräsentierte er zudem die deutsche Phthisiologie bzw. Pneumologie in vielen in- und ausländischen Gesellschaften. So gehörte er Jahre hindurch dem’ Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer und dem Wehrmedizinischen Beirat der Sanitätsinspektion der Bundeswehr an und war zur Person gewähltes Mitglied des Zwölferrates der Union Internationale contra la tubereulose sowie des weiteren noch Regent for Germany des American College of Chest Physician bzw. Vizepräsident der Academie interrationale de medicine et chirurgie thoracique. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1968 noch zum Präsidenten des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose ernannt, fand das unermüdliche Wirken von Herrn Professor Hein, dessen ärztlichem Wissen und Können zahlreiche Patienten seiner Klinik, dem Krankenhaus Tönsheide, Leben und Gesundheit verdanken, der darüber hinaus aber auch durch seinen Weitblick wie seine Tatkraft der Tuberkulosebekämpfung insgesamt neue, erfolgreich beschrittene Wege wies, manche wohlverdiente Anerkennung. U. a. dokumentierte dies die 1964 erfolgte Wahl zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Lungenkrankheiten und Tuberkulose sowie die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik und der Ehrenmitgliedschaft des Robert-Koch-Institutes in Würdigung seiner großen Verdienste in der Fortsetzung dessen Arbeitstradition.
Die nachhaltigste Anerkennung sicherte Herrn Professor Hein aber wohl die treue Anhänglichkeit seiner zur Tönsheider Großfamilie zusammengewachsene Mitarbeiter jeglicher Provenienz, in deren Herz sich das Charisma seiner Persönlichkeit unauslöschbar eingrub. Für seine Schüler war und blieb er aufgrund seiner beispielhaften Pflichterfüll und Leitfigur, auch wenn viele von diesen infolge der Breitenwirkung seiner Schule selbst in führende Positionen gelangt waren.