Archiv:Wie erlebten die Aukruger die Zeit 1933 bis 1945?
Wie erlebten Aukruger die Zeit 1933 — 1945?
von Claus Butenschön
Einleitung
Dies soll ein Versuch sein, nach 50 bis 60 Jahren aus Selbsterlebtem und von anderen Wiedergegebenen, sich in die damalige Zeit zu versetzen.
Ich selber war bei der „Machtübernahme" am 30. Januar 1933 gerade 7 Jahre alt und erinnere mich ganz vage an einen Fackelzug durchs Dorf und ein Feuer beim „Sandloch" an der Heinkenborsteler Straße. Dort wurde die schwarzrotgoldene Fahne verbrannt. Man nannte sie auch „de Sempfahn". Die Saarlandabstimmung 1935 verfolgten wir am Radio bei unserer Lehrerin Fräulein Jensen. Nur die wenigsten hatten damals schon einen Volksempfänger zu Hause. Mit 10 Jahren war es selbstverständlich für uns, ins Jungvolk einzutreten und ab 14 Jahren war man Hitlerjunge. Wir waren stolz auf die kurze schwarze Hose, das braune Hemd mit schwarzem Schlips und Knoten. Die Krönung war die dunkle Winterbluse. Der Dienst in der Gemeinschaft ohne soziale Unterschiede machte uns Spaß. Sonnabend nachmittag oder auch schon mal nachts wurde marschiert, Geländeübungen durch geführt oder im Gemeindehaus war Heimatabend. Sport wurde fleißig betrieben, und einmal im Jahr ging es per Fahrrad nach Wasbek zum Sportfest. Der Lohn für möglichst viele Punkte war eine Siegernadel.
Am 20. April, dem Geburtstag des Führers, gab es nach einer kleinen Feierstunde schulfrei. Für die Erwachsenen wurden festliche Abendveranstaltungen durchgeführt. In einem christlichen Elternhaus groß geworden, gab es schon mal Ärger zu Hause, wenn Sonntag am Vormittag Dienst angesetzt war.
Besonderes Erlebnis für uns Jungen war 1939 ein 14tägiges Zeltlager am Brahmsee. Natürlich wurde dorthin marschiert. Das gemeinsame Singen förderte die Kameradschaft. Das Liedgut reichte von „Kein schöner Land" bis „Unsre Fahne flattert uns voraus, unsre Fahne ist die neue Zeit, unsre Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja die Fahne ist mehr als der Tod". Beim Singen dieses Textes und beim „Kriegspielen" dachten wir nicht daran, daß schon einige Jahre später beides für uns von Stalingrad bis Berlin blutige Wirklichkeit werden sollte.
Der Krieg
Als am 01. September 1939 der Krieg ausbrach, sagte mein Vater: „Jung, dat is ni goot un dat geiht ni goot." Er wußte als Soldat des 1. Weltkrieges um die Schrecken des Krieges. Im Sommer 1943 erlebten wir aus der Ferne die ersten Großangriffe auf Hamburg mit ihren verheerenden Folgen. Verstörte und verrußte, von dem Erlebten gezeichnete Obdachlose suchten bei uns Bleibe.
Die Innier Feuerwehr mit Heinrich Strauß als Wehrführer war mit ihrem neuen Fahrzeug dort tagelang zum Retten und Löschen, wie später auch in Kiel und Neumünster. Trotz Mahnung und Warnung des Vaters meldete ich mich um diese Zeit mit vielen Gleichaltrigen noch freiwillig zur Waffen-SS. Eingezogen wurde der Jahrgang 1926 ohnehin, ob freiwillig oder nicht.
Drei Monate Arbeitsdienst waren ausgefüllt mit vormilitärischer Ausbildung und dem Bau von Splitterboxen für Nachtjäger auf einem Flugplatz bei Schwerin. Nach kurzer Rekrutenausbildung von gut 2 Monaten ging es an die Front. Zunächst mein ten wir noch, Helden sein zu müssen, doch dann erlebten wir als 17- und 18jährige das Grauen des Krieges am eigenen Leibe. Viele unserer Jahrgänge sind gefallen, ich selber 1944 als 18jähriger Unterscharführer (Unteroffizier) mit 2 Verwundungen gerade noch davongekommen.
Nach harter englischer Gefangenschaft in Belgien, die wegen der Zugehörigkeit zur Waffen-SS verbunden war mit vielen Verhören und die mit einem amtlichen „nicht schuldig" endete, wurde ich Ende Juli 1946 in die Heimat entlassen.
Die Soldaten der Waffen-SS, von denen jeder dritte gefallen war, wurden mitverantwortlich gemacht für den millionenfachen Mord in den Konzentrationslagern und anderswo. Tatsache ist, daß die Fronttruppen der Waffen-SS damit nichts zu tun hatten, nicht einmal davon wußten. Neben Adolf Hitler trug die politische, schwarz uniformierte SS (Schutzstaffel) Heinrich Himmlers, der SD (Sicherheitsdienst) und die Gestapo die Verantwortung dafür. Das schloß nicht aus, daß bei Kampfhandlungen Unrecht geschehen ist, wie es jeder Krieg auf beiden Seiten mit sich bringt.
Wie konnte es dazu kommen?
Unter dem Eindruck der wirtschaftlich schlechten und politisch unruhigen Zeiten der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre, suchten auch im Aukrug immer mehr Junge und auch Ältere einen Ausweg, indem sie der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) beitraten. Diese versprach den Menschen Arbeit und Brot und eine Befreiung von dem als Demütigung empfundenen Versailler Diktat.
Weltwirtschaftskrise, 6 Millionen Arbeitslose, ruinöse Preise für die Land wirtschaft, die Zerstrittenheit und das Unvermögen der über 30 Parteien, das Land zu regieren, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und die Angst vor dem Kommunismus sorgten dafür, daß Adolf Hitler am 30. Juni 1933, unterstützt von bürgerlich Konservativen, demokratisch gewählter Kanzler wurde. Kurze Zeit später, durch das Ermächtigungsgesetz möglich gemacht, entstand der Einparteienstaat. Die Aukruger reagierten sehr unterschiedlich, von totaler Begeisterung über Zurückhaltung bis zur Resignation oder gar Widerstand, der aber kaum möglich war.
Für den Bürger zählte die Tatsache, daß in kurzer Zeit die versprochene Arbeit für alle da war, die Landwirtschaft auskömmliche Preise erhielt und die Menschen wieder hoffnungsfroh in die Zukunft blicken konnten. Diese Entwicklung wurde u.a. möglich durch die Aktivierung eines bereits bestehenden freiwilligen Arbeitsdienstes, der 1934/35 für alle jungen Männer für ein halbes Jahr zur Pflicht wurde (s. ausführlichen Bericht im Anschluß).
Die schon lange vorher geplanten Autobahnen wurden nun sehr schnell gebaut. Kinderreiche Arbeiterfamilien konnten sich ein Haus bauen. Die Einführung der zweijährigen Wehrpflicht 1935/36 brachte der Wirtschaft zusätzlichen Aufschwung.
Neben der SA (Sturmabteilung aus der Kampfzeit) verstand man es besonders in den Nebenorganisationen, die Menschen an das System zu binden. So wurde in der Reiter-HJ und SA der Reitsport gepflegt, im NSKK konnten besonders die Motorradfahrer ihrem Hobby nachgehen. Die NS-Frauenschaft widmete sich sozialen Bereichen. Die weibliche Jugend war bei den Jungmädchen und später dem BDM (Bund Deutscher Mädchen) organisiert. Einheitlich weiße Bluse mit schwarzem Schlips und Knoten sowie dunkler Rock förderten auch hier das Gemeinschaftsgefühl.
Mariechen Kütemann, damals Reimers, war mit dabei. Diese erzählte, daß sie als 16jährige bei einem Berufswettkampf mit anderen Landessiegern an einem Reichsentscheid in Königsberg, Ostpreußen, teilnahm. Sie denkt noch heute gern daran zurück.
Zu dem im Herbst auf dem Bückeberg veranstalteten Erntedankfest beteiligten sich mehrfach Abordnungen aus dem Aukrug. Auf den Reichsparteitagen in Nürnberg waren auch Aukruger dabei. Der Jubel bei diesen Veranstaltungen unter dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Führer" war echt. Als Nachfolgeorganisation der inzwischen verbotenen Gewerkschaften fungierte die Deutsche Arbeitsfront. Durch Sammelaktionen für die „Deutsche Winterhilfe" warb man für sozial Schwache. Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung sorgten die Rückkehr des Saarlandes, Wiederbesetzung des Rheinlandes und der Anschluß Österreichs dafür, daß immer mehr Menschen, auch im Aukrug, mit dem Staat zufrieden waren. Hinzu kam, daß 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin die ganze Welt dem System huldigte und mit dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 sogar die Eingliederung des Sudetenlandes von England und Frankreich abgesegnet wurde.
Der Ortsgruppenleiter
Aber nicht alle folgten der allgemeinen Stimmung. So erzählt Werner Hauschildt eine fast heitere Begebenheit zum Schmunzeln, wenn der Hintergrund nicht so ernst wäre. Mit einigen Jungen nach Bünzen unterwegs, begegnet ihnen der Ortsgruppenleiter, der hier auch gleichzeitig Amtsvorsteher war. Man grüßte mit dem üblichen „Guten Tag". Daraufhin ermahnte der Parteimann die Jungen „Wüllt ju wull mit ,Heil Hitler' gröten."
Wahlpflicht
Schwerwiegende Folgen sollte ein anderer Fall haben. Matthias Paape aus Homfeld hatte bei einer Wahl seiner Wahlpflicht nicht genügt. (Diese „Wahl" war natürlich nur eine Bestätigung der Politik Adolf Hitlers mit dem in Diktaturen üblichen Ergebnis von über 99% Ja-Stimmen). Aufgrund des Nichterscheinens wurde Matthias Paape zur Rede gestellt. In einer sicher spontanen Überreaktion gab er mehrere Schüsse ab, die aber ohne Folgen blieben. Daraufhin wurde er von der Polizei abgeholt.
Wie ein Neffe berichtet, wurde er in „Verwahrung" gebracht, zunächst nach Neustadt und später nach Neustrelitz.
Anfang 1945 kam er mit vielen anderen NS-Häftlingen auf die „Cap Arcona". Die besondere Tragik liegt darin, daß dieses Schiff in den Wirren der Kampfhandlungen auf der Ostsee von alliierten Bombern versenkt wurde und der größte Teil der Häftlinge ertrank, so auch Matthias Paape.
Polenfeldzug
Der Beginn des Krieges mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen wurde von den Aukrugern als unvermeidliches Schicksal hingenommen. Man tat seine vaterländische Pflicht.
Alle jungen Männer und auch ältere, die 1914 — 1918 schon Soldat gewesen waren, wurden eingezogen. Lebensmittel und Kleidung gab es nur noch auf Marken und Bezugsscheine, alle Fenster mußten verdunkelt werden.
Solange es ohne große Verluste vorwärts ging und einer Siegesmeldung bald die nächste folgte, war für die meisten die Welt noch in Ordnung.1940 wurde im Westen als erster Gefallener aus dem Aukrug Hans Siem gemeldet. 95 Kriegsteilnehmer aus Aukrug sind im Zweiten Weltkrieg gefallen, als vermißt gemeldet oder in Gefangenschaft gestorben.
Gefangene
In der Landwirtschaft ersetzte man die eingezogenen Männer zum Teil durch zivile Fremdarbeitskräfte (Zwangsverschleppte), wie Polen und später auch Russen, Männer und Frauen. Diese waren bei ihrem Arbeitgeber untergebracht. Als Kriegsgefangene waren in den Aukrug-Dörfern Franzosen und Belgier tätig, in Homfeld noch zusätzlich Serben. Die Unterbringung erfolgte in den Dörfern in provisorisch eingerichteten Räumen. In Innien zum Beispiel im ehemaligen E-Werk. Zur Bewachung waren ältere Landsturmmänner eingesetzt, die die Gefangenen morgens zur Arbeit brachten und abends wieder abholten. Obwohl „amtlich" nicht an einem Tisch gegessen werden durfte, war die Behandlung hier auf dem Lande gut.
Dort, wo sich trotzdem persönliche Kontakte ergaben, diese bekannt und amtlich gemeldet wurden, sollen Aukruger sogar ins Gefängnis gekommen sein. Noch heute bestehen vereinzelt persönliche Kontakte.
Der totale Krieg
Inzwischen hatte unsere Wehrmacht fast ganz Europa besetzt, und Aukruger waren vom Nordkap bis nach Afrika dabei. Hier einige Beispiele:
Ernst Wilhelm Rathjen war von Anfang bis zum Ende dabei, wurde als Wachtmeister (Feldwebel) mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Hans Rixen schickte einen Kartengruß mit dem Flugzeug aus dem im November 1942 mit über 200.000 Soldaten eingeschlossenen Stalingrad.
Bei Beendigung des Kampfes Anfang Februar 1943 sind es noch etwa 90.000 ausgemergelte, vom Tode Gezeichnete, die den Marsch in die Gefangenschaft antreten. Nur 6.000 überlebten und sehen erst 1949 die Heimat wieder, zu ihnen gehörte Hans Rixen.
Zwei andere Aukruger, Hans Breiholz und Max Schröder, sind ebenfalls bis nach Stalingrad marschiert und eingeschlossen. Sie werden später als „vermißt" gemeldet.
1942 bekam Heinz Schneede kurzen Heimaturlaub, um seine Verlobte Christine zu heiraten. Diese Kriegstrauung wurde in letzter Minute noch ernstlich in Frage gestellt, weil der Bräutigam nicht in Uniform auf dem Standesamt war. 1945 gerät Heinz Schneede in Kurland in russische Gefangenschaft und kehrte erst 1948 zu seiner Familie zurück.
Lange verlorene Jahre für die Männer „draußen", aber nicht weniger für die Angehörigen daheim: junge Frauen mit ihren Kindern, Bräute, Geschwister, Mütter und Väter, Jahre der Angst und Sorge. Aber mehr noch: Wieviel Tränen wurden geweint um diejenigen, die gar nicht wiederkehrten.
Das Erwachen
Ob das alles gut und richtig war, fragten sich immer mehr. Daß man nicht immer laut sagen durfte, was man dachte, wurde langsam immer mehr Leuten bewußt. Hinter vorgehaltener Hand wurde auch schon mal von Lagern oder gar Konzentrations lagern gesprochen, in die man kommen konnte, wenn man Kritik übte und „zu laut dachte".
Neben den immer häufigeren Meldungen von Gefallenen kam durch die Luftangriffe der Krieg auch dem Aukrug näher. Zunächst nur Fliegeralarm, mal ein abgeschossenes Flugzeug oder wahllos abgeworfene Bomben von den in großer Höhe sichtbaren Bomberflotten.
Herbert Bergmann berichtet, daß er als Soldat auf den Flugplatz in Neumünster abkommandiert wurde zur Löschung und Bewachung eines viermotorigen Bombenflugzeuges, das am alten Meezer Weg abgestürzt war. 4 Besatzungsmitglieder waren tot, zwei sind in Gefangenschaft geraten. Die noch nicht gezündeten Bomben wurden entschärft und dann im Wald vergraben. Richtig ernst wurde es erst, als das Unrecht, das wir anderen Völkern angetan hatten, mit voller Wucht auf unser Land und Volk zurückschlug.
Nach den Ausgebombten kamen ab Februar 1945 die großen Trecks aus Ostpreußen und Pommern auch zu uns in den Aukrug. Zwangseinweisungen gehörten für lange Zeit zum täglichen Leben. Heute können wir uns kaum noch vorstellen, auf wie engem Raum die Familien — meist Frauen, Kinder und Alte — untergebracht waren. Die Männer waren noch Soldat, in Gefangenschaft, gefallen oder vermißt. In den letzten Kriegstagen wurde der Aukrug mit Tieffliegerangriffen auf das Militär, aber auch auf Zivilisten, noch direkt mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert. Obgleich das Ende für fast alle inzwischen abzusehen war und auch ersehnt wurde, hofften örtliche Parteigrößen, sicher auf Befehl von „oben", sogar jetzt noch, durch den Bau von Panzersperren den Gang der Dinge aufhalten zu können.
Kriegsende
Mit der Kapitulation am 8. Mai rückten englische Verbände hier ein und übernahmen das Kommando. Nach Bekanntwerden des millionenfachen Mordes, der in deutschem Namen in fast ganz Europa verübt wurde, kam die Ernüchterung, daß man falschen Propheten geglaubt hatte. Als „gebrannte Kinder" des totalitären Systems versuchten auch im Aukrug die Menschen in den nächsten Jahrzehnten auf demokratischem Wege die politische Entwicklung zu gestalten. Die Lehre aus der schrecklichen Zeit sollte man sich auch noch nach über 50 Jahren immer wieder ins Gedächtnis rufen. Sie sollte Mahnung sein, nicht abseits zu stehen, sondern sich im Rahmen der demokratischen Parteien auch auf örtlicher Ebene zu engagieren.