Flucht aus Stepen nach Aukrug

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Die Fluchtroute auf Google-Maps
Wappen des Rittergutes Stepen
Militärische Lage am 2. März 1945 in Pommern: Vermutlich der letzte oder vorletzte Tag, an dem das Gebiet östlich der Insel Wollin noch von deutschen Truppen verteidigt werden konnte.
Foto eines anderen Flüchtlingstreck bei Stolp zwischen Lübzow und Freist.
Auf Grund des Ortes ca. 90 Km nördlich von Stepen könnte dieser Treck zeitgleich mit dem den Flüchtenden aus Stepen unterwegs gewesen sein. Auf jeden Fall geben die Bilder einen realistischen Eindruck von den winterlichen Fluchtbedingungen.

Die Flucht aus Stepen nach Aukrug dauerte vom 26. Februar bis zum 3. April 1945. Mitten im Winter fuhren die Flüchtenden aus Stepień (Stepen) über Stare Wierzchowo (Sassenburg), Ugoszcz (Bernsdorf), Białogard (Belgard), Świnoujście (Swinemünde), Anklam, Demmin, Rostock, Bad Doberan, Wismar, Grevesmühlen, Ratzeburg, Lübeck, Bad Segeberg und Neumünster nach Innien. 41 Familien mit 81 Erwachsenen und 120 Kindern und Jugendlichen[1] machten sich auf den Weg, um dem russischen Vormarsch zu entfliehen. Als sie in Innien ankamen, hatten die Flüchtlinge in 37 Tagen ungefähr 580 km[2] mit ihren 16 Wagen zurückgelegt. Die Stepener hatten an ihren Wagen die Schilder mit der Aufschrift „Rittergut Stepen“, von denen ein Exemplar heute im Museum Dat ole Hus ausgestellt ist.

Schlacht um Ostpommern

Der im nächsten Abschnitt folgende Bericht von Anna Pillasch ist historisch noch in die militärische Lage an der Ostfront einzuordnen: Besonders in der ersten Woche bewegte sich der Treck unmittelbar am Frontverlauf der Schlacht um Ostpommern. Bereits am achten Tag der Flucht (5. März) waren die noch kämpfenden deutschen Verbände in zwei Teile zerschnitten, die Rote Armee erreichte die pommersche Ostseeküste. Für Menschen, die sich in der ersten Märzwoche noch in ihren Heimatorten befanden, war der Fluchtweg über Land nach Westen versperrt und verlegte sich nur noch auf Schiffstransporte über Danzig, Gdingen (Gotenhafen) und Stolpmünde.

Das nur 13 Km Luftlinie von Stepen entfernte Szczecinek (Neustettin) wurde in der Nacht nach dem Abmarsch vom 26. auf den 27. Februar 1945 erstmals bombardiert und der Bahnhof am 27. Februar von der sowjetischen Armee eingenommen. Das 150 Km westlich liegende Stargard Szczeciński (Stargard in Pommern) wurde vom 1. bis 3. März durch einen Bombenangriff zu 70 Prozent zerstört und am 4. März eingenommen. Am 1. März erreichte die Rote Armee erstmals östlich von Koszalin (Köslin) die Ostsee, am 5. März wurde Kamień Pomorski (Kammin) auf der Insel Wollin nur 50 Km vor Swinemünde eingenommen. Der Treck aus Stepen muss also spätestens am sechsten Tag (3. März) das 190 Km entfernte Świnoujście (Swinemünde) erreicht haben, was eine Tagesmarschleistung von durchschnittlich fast 32 Km erforderte. Erst auf der Insel Wollin stieß der russische Vormarsch auf energischen Widerstand der Wehrmacht. Die schwere Schiffsartillerie der in Swinemünde stationierten Kampfgruppe stellte eine ernsthafte Bedrohung für die in Küstennähe operierenden sowjetischen Truppen dar. Von diesem Zeitpunkt an dürfte auch für den Treck aus Stepen die unmittelbare Bedrohung durch Kampfhandlungen deutlich abgenommen haben, da Swinemünde erst vier Wochen später am 5. Mai von der Roten Armee besetzt wurde. Vermutlich zeitlich nur knapp entgingen die Stepener dem verheerenden Luftangriff auf Swinemünde am 12. März 1945.

Fluchtverlauf

Am 26. Februar nachts um eins hörten wir[3] vom Sohn des Inspektors, dass alle die notwendigsten Sachen packen sollten. Morgens um 4.30 Uhr fuhren die Wagen vor. Jedes Fuhrwerk hatte einen Fahrer. Zu unserem Wagen gehörten 24 Personen. Ein Franzose war als Fahrer eingeteilt. Alles ging sehr schnell, das Grollen der Front war schon zu hören. Um 7 Uhr hatten wir uns alle auf dem Gut versammelt. Der Gutsbesitzer, Major Piltz[4], übernahm selbst das Kommando. Um 8 Uhr setzte sich unser Treck in Bewegung. Ich sah zum letzten Mal unsere Heimat.

Zuerst wollten wir nur vor den Russen fliehen, und wenn die von der deutschen Wehrmacht zurückgeschlagen würden, wollten wir wieder umkehren und heimfahren. Aber es kam ganz anders. Mit Unbehagen beobachteten wir, dass immer mehr Trecks aus dem Osten gen Westen zogen. Es war schon eine richtige Völkerwanderung. Es hieß, dass die Russen zwei kurze Sätze besonders gut sprechen: „Uhri, Uhri!“ und „Frau, komm!“

Durch die Führung unseres Gutsbesitzers verlief die Flucht reibungslos, er kannte die Gegend, konnte eine Karte lesen und hatte überall in Pommern und Mecklenburg Freunde, auf deren Gütern übernachtet werden konnte. Unser Treck fuhr auf Feldwegen und durch Wälder. Die Pferde mussten öfter bis zum Bauch im Schlamm die schweren Wagen ziehen. Ein Vorteil war, dass die Planwagen des Gutes sehr stabil und wendig waren. Ferner waren Schmiedemeister Meier und Stellmacher Nachtigall dabei. Wenn Not am Mann war, half einer dem anderen. Die Erwachsenen und die größeren Kinder sind die meiste Zeit neben den Fuhrwerken marschiert. Das waren täglich ungefähr 20 km Fußmarsch.

Not und Krieg

Es gab natürlich auch Situationen, wo wir am Verzweifeln waren: Unser Treck lag vier Tage im Wald ohne Wasser und Nahrung für uns Menschen und ohne Futter für die Pferde. Mit drei Frauen machten wir uns auf den Weg ins nahegelegene Dorf, um Wasser zu holen. Den richtigen Weg hatten wir uns gemerkt. Am Ausgang des Waldes lag ein totes Pferd. Hier mußten wir Frauen auf dem Rückweg wieder vorbei, um das Lager zu finden. Aber wir fanden einfach den Eingang des Waldes nicht wieder. Da trafen wir Soldaten und fragten, ob sie das tote Pferd gesehen hätten. Diese hatten es liegen sehen und konnten uns den Weg zeigen. So kamen wir drei verirrten Frauen wieder bei unseren Familien an. Das Wasser war bis auf drei Liter übergeschwappt. Aber einen voll beladenen ausgespannten Wagen hatten wir stehen sehen. Als wir das erzählten, sind die Männer sofort losgezogen, um Korn für die Pferde und gefrorene Hühner für uns Menschen zu holen.

Mit dem Kriegsgeschehen kamen wir immer dann in Berührung, wenn auf dem Rückmarsch befindliche Soldaten hinter den Wagen der Trecks Schutz suchten. Dann wurden wir von den Russen beschossen. Wir fuhren immer wieder durch schützende Waldstücke, und so erreichten wir Mecklenburg. Der Gutsbesitzer wollte in Mecklenburg noch Bekannte besuchen. Er verließ uns Stepener, wollte nach einigen Tagen wieder zum Treck stoßen, ist aber nicht wiedergekommen. Ich bin unserem Gutsbesitzer heute noch dankbar für die gute Behandlung auf dem Gut und für die sichere Führung nach Mecklenburg. Max Bülow übernahm die Führung, und wir zogen weiter nach Schleswig-Holstein. Einige Stepener kannten den Ort Innien aus früheren Zeiten.

Ankunft in Schleswig-Holstein

Ostern 1945 landeten wir in Gadeland. Zum ersten Mal nach fünf Wochen saßen wir wieder auf einer großen Diele an einem großen Tisch und bekamen ein richtiges warmes Essen. Es gab Bratkartoffeln, ein Ei und Milchsuppe. Ich habe dieses Osteressen nie vergessen. Übernachtet haben wir bei diesem Bauern in einer Kälberbox auf Stroh.

Dann fuhren wir weiter über Neumünster, Nortorf, Gnutz bis zur Abzweigung Böken. Hier wurden wir empfangen, und alle bekamen Order, wo sie untergebracht werden sollten. Meine Familie wurde in der Böker Schule einquartiert. Später wurde der eine Klassenraum geteilt, und noch eine Familie mit elf Personen zog ein. Somit waren 18 Personen in dem einen durchteilten Klassenraum untergebracht. Opa Manke, mein Vater, war 83. Er hatte seit dem 18. Lebensjahr auf dem Gut gearbeitet und die Flucht nie verstehen können. Acht Jahre hat er noch mit uns in Böken gelebt, aber seine Heimat immer vermisst.

Heute wohnen noch folgende Familien aus Stepen in Aukrug: Pillasch, Manke, Zell, Pech, Kalies, Priebe, Janitz, Völzke und Affeldt.

Wer sich über Stepen informieren möchte, sollte die beiden Bücher von Walter Mertins „Stepen“ und „Stepen — Alte Bilder, Geschichten, Berichte“ lesen. Etwas ganz Besonderes ist der Bericht von Ruth Kraus, geb. Wehner, „Unsere wundersame Reise ins Pommernland nach Stepen in die unvergessliche Heimat“. Die Autorin hat die alte Heimat vor der Flucht und die Veränderungen des Dorfes bis 1976 so anschaulich beschrieben, dass man beim Lesen das Gefühl hat, Stepen schon von früher zu kennen.

Eine kleine Episode dazu:

Ewald Pech, der im Lazarett Neustettin lag, hatte Kurzurlaub. Am 26. Februar 1945 begann die Flucht der Stepener. Was sollte Ewald tun? Mitfahren war Fahnenflucht! Die Stepener wagten es. Ewald Pech, beinamputiert, wurde sechs Wochen im Wagen versteckt, kam mit nach Schleswig-Holstein. Hier ist er offiziell aus der Wehrmacht entlassen worden.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. 1939 ergab die Volkszählung in Stepen 335 Einwohner – der überwiegende Teil war in der Landwirtschaft tätig, viele davon auf dem Rittergut.
  2. In der Chronik von 1995 werden noch 780 Km genannt, was bei einer Entfernung von 533 Km unwahrscheinlich erscheint. Die zu Fuß zurückgelegte Gesamtstrecke einzelner Personen wird vermutlich deutlich länger gewesen sein.
  3. Überliefert im Chronikbeitrag "Die Fluchterlebnisse von Anna Pillasch", 1995. Anna Pillasch, geb. Manke, verstarb am 7. Februar 2001.
  4. 1919 hatte Major Kurt Piltz den Herrensitz übernommen und bewirtschaftete das Rittergut Stepen bis 1945.