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Die Flucht
Am Treffen der Heimatvertriebenen aus Stepen 1993 in Innien wurde deutlich, daß die Zahl der Teilnehmer von Mal zu Mal geringer wird. Es darf aber nicht sein, daß wir diese schicksalhafte Zeit der Flucht vergessen. Hier der Bericht zweier Frauen aus Pommern über die Flucht.
Anna Pillasch erzählt:
Flucht aus Stepen
Die Flucht aus Stepen dauerte vom 26. Februar bis zum 3. April 1945. Mitten im Winter fuhren wir Stepener Einwohner über Sassenburg, Bernsdorf, Belgard, Swinemünde, Anklam, Demmin, Rostock, Bad Doberan, Wismar, Grevesmühlen, Ratzeburg, Lübeck, Bad Segeberg und Neumünster nach Innien.
41 Familien mit 81 Erwachsenen und 120 Kindern und Jugendlichen machten sich auf den Weg, um dem russischen Vormarsch zu entfliehen. Als wir in Innien ankamen, hatten wir Flüchtlinge ungefähr 780 km mit unseren 16 Wagen zurückgelegt.
Am 26. Februar nachts um eins hörten wir vom Sohn des Inspektors, daß alle die notwendigsten Sachen packen sollten. Morgens um 4.30 Uhr fuhren die Wagen vor. Jedes Fuhrwerk hatte einen Fahrer. Zu unserem Wagen gehörten 24 Personen. Ein Franzose war als Fahrer eingeteilt. Alles ging sehr schnell, das Grollen der Front war schon zu hören. Um 7 Uhr hatten wir uns alle auf dem Gut versammelt. Der Gutsbesitzer, Major Piltz, übernahm selbst das Kommando. Um 8 Uhr setzte sich unser Treck in Bewegung. Ich sah zum letzten Mal unsere Heimat.
Zuerst wollten wir nur vor den Russen fliehen, und wenn die von der deutschen Wehrmacht zurückgeschlagen würden, wollten wir wieder umkehren und heimfahren. Aber es kam ganz anders. Mit Unbehagen beobachteten wir, daß immer mehr Trecks aus dem Osten gen Westen zogen. Es war schon eine richtige Völkerwanderung. Es hieß, daß die Russen zwei kurze Sätze besonders gut sprechen: „Uhri, Uhri!" und „Frau, komm!"
Durch die Führung unseres Gutsbesitzers verlief die Flucht reibungslos, er kannte die Gegend, konnte eine Karte lesen und hatte überall in Pommern und Mecklenburg Freunde, auf deren Gütern übernachtet werden konnte. Unser Treck fuhr auf Feldwegen und durch Wälder. Die Pferde mußten öfter bis zum Bauch im Schlamm die schweren Wagen ziehen. Ein Vorteil war, daß die Planwagen des Gutes sehr stabil und wendig waren. Ferner waren Schmiedemeister Meier und Stellmacher Nachtigall dabei. Wenn Not am Mann war, half einer dem anderen. Die Erwachsenen und die größeren Kinder sind die meiste Zeit neben den Fuhrwerken marschiert. Das waren täglich ungefähr 20 km Fußmarsch.
Not und Krieg
Es gab natürlich auch Situationen, wo wir am Verzweifeln waren: Unser Treck lag vier Tage im Wald ohne Wasser und Nahrung für uns Menschen und ohne Futter für die Pferde. Mit drei Frauen machten wir uns auf den Weg ins nahegelegene Dorf, um Wasser zu holen. Den richtigen Weg hatten wir uns gemerkt. Am Ausgang des Waldes lag ein totes Pferd. Hier mußten wir Frauen auf dem Rückweg wieder vorbei, um das Lager zu finden. Aber wir fanden einfach den Eingang des Waldes nicht wieder. Da trafen wir Soldaten und fragten, ob sie das tote Pferd gesehen hätten. Diese hatten es liegen sehen und konnten uns den Weg zeigen. So kamen wir drei verirrten Frauen wieder bei unseren Familien an. Das Wasser war bis auf drei Liter übergeschwappt. Aber einen vollbeladenen ausgespannten Wagen hatten wir stehen sehen. Als wir das erzählten, sind die Männer sofort losgezogen, um Korn für die Pferde und gefrorene Hühner für uns Menschen zu holen.
Mit dem Kriegsgeschehen kamen wir immer dann in Berührung, wenn auf dem Rückmarsch befindliche Soldaten hinter den Wagen der Trecks Schutz suchten. Dann wurden wir von den Russen beschossen. Wir fuhren immer wieder durch schützende Waldstücke, und so erreichten wir Mecklenburg. Der Gutsbesitzer wollte in Mecklenburg noch Bekannte besuchen. Er verließ uns Stepener, wollte nach einigen Tagen wieder zum Treck stoßen, ist aber nicht wiedergekommen. Ich bin unserem Gutsbesitzer heute noch dankbar für die gute Behandlung auf dem Gut und für die sichere Führung nach Mecklenburg. Max Bülow übernahm die Führung, und wir zogen weiter nach Schleswig-Holstein. Einige Stepener kannten den Ort Innien aus früheren Zeiten.
Ankunft in Schleswig-Holstein
Ostern 1945 landeten wir in Gadeland. Zum ersten Mal nach fünf Wochen saßen wir wieder auf einer großen Diele an einem großen Tisch und bekamen ein richtiges warmes Essen. Es gab Bratkartoffeln, ein Ei und Milchsuppe. Ich habe dieses Osteressen nie vergessen. Übernachtet haben wir bei diesem Bauern in einer Kälberbox auf Stroh.
Dann fuhren wir weiter über Neumünster, Nortorf, Gnutz bis zur Abzweigung Böken. Hier wurden wir empfangen, und alle bekamen Order, wo sie untergebracht werden sollten. Meine Familie wurde in der Böker Schule einquartiert. Später wurde der eine Klassenraum geteilt, und noch eine Familie mit elf Personen zog ein. Somit waren 18 Personen in dem einen durchteilten Klassenraum untergebracht. Opa Manke, mein Vater, war 83. Er hatte seit dem 18. Lebensjahr auf dem Gut gearbeitet und die Flucht nie verstehen können. Acht Jahre hat er noch mit uns in Böken gelebt, aber seine Heimat immer vermißt.
Heute wohnen noch folgende Familien aus Stepen in Aukrug: Pillasch, Manke, Zell, Pech, Kalies, Priebe, Janitz, Völzke und Affeldt.
Wer sich über Stepen informieren möchte, sollte die beiden Bücher von Walter Mertins „Stepen" und „Stepen — Alte Bilder, Geschichten, Berichte" lesen. Etwas ganz Besonderes ist der Bericht von Ruth Kraus, geb. Wehner, „Unsere wundersame Reise ins Pommerland nach Stepen in die unvergeßliche Heimat". Die Autorin hat die alte Heimat vor der Flucht und die Veränderungen des Dorfes bis 1976 so anschaulich beschrieben, daß man beim Lesen das Gefühl hat, Stepen schon von früher zu kennen.
Eine kleine Episode dazu:
Ewald Pech, der im Lazarett Neustettin lag, hatte Kurzurlaub. Am 26. Februar 1945 begann die Flucht der Stepener. Was sollte Ewald tun? Mitfahren war Fahnenflucht! Die Stepener wagten es. Ewald Pech, beinamputiert, wurde sechs Wochen im Wagen versteckt, kam mit nach Schleswig-Holstein. Hier ist er offiziell aus der Wehrmacht entlassen worden.
Else Wendland erzählt:
Else Wendland ist mit ihrer Familie am 27. Februar 1945 mit 50 Leiter-und Kastenwagen, die mit Teppichen und Planen bespannt waren, aus dem Ort Ravenstein geflohen. Nur die Handwerker (Schuster, Schneider) wurden von der Feldgendarmerie zurückgehalten. Der Aufbruch war möglich, da die schon anwesenden Russen betrunken waren. Das Vieh hat man herausgetrieben, und mit einem Pferd vorm Wagen ging es auf die Flucht. Zur Familie gehörten sechs Personen. Ihr Sohn Erwin war drei und seine kleinere Schwester Edelgard anderthalb Jahre alt.
Ein auf dem Hof beschäftigter Pole hat die meiste Zeit den Wagen gefahren. Alle Frauen hatten ihre Fahrräder mitgenommen, was sich als eine gute Sache herausstellte. Sie fuhren neben den Wagen, damit die Pferde entlastet wurden. Wenn es Abend wurde, fuhren sie schon voraus, um als Quartiermacher im nächsten Ort für die Übernachtung alles vorzubereiten. Man bekam so immer ein gutes Quartier.
Die Kinder tranken „Muckefuk", und ihnen ist der Kornkaffee gut bekom men. Es war ein Risiko, die Milch der überall herumlaufenden Kühe zu trinken, da die meisten Kühe Euterkrankheiten hatten. Das größte Problem war, daß die Pferde krank wurden. Sie waren es nicht gewohnt, immer bei der Kälte draußen zu sein, denn auf dem Hof waren sie den ganzen Winter im Stall gewesen. So sind viele Pferde durch Krankheit eingegangen. Familie Wendland schaffte es mit ihrem Pferd bis Groß-Niendorf, da ging es mit ihrem Schwedenfuchs zu Ende. Der Treck aus Ravenstein fuhr weiter bis in die Kropper Gegend.
Da Else Wendland nun kein Pferd mehr hatte, wurde ihr Wagen von verschiedenen Bauern von Ort zu Ort gezogen. In Gnutz war vor der Gastwirtschaft die letzte Station. Von hier wurde sie von Hans Voss mit dem Trecker nach Bargfeld geholt. Hans Voss redete sie zum ersten Mal mit „Heimatvertriebene" an. Unterwegs hatten alle nur von Flüchtlingen gesprochen. Sie landete mit ihrer Familie als erste Flüchtlingsfamilie am Sonnabend vor Ostern, abends um 8 Uhr, beim Bürgermeister Johannes Harder unter den Kastanienbäumen. Weil Johannes Rathjen Leu te brauchte, wurden sie dort auf dem Boden untergebracht. Es war der 31.03.1945.
Vier Wochen sind sie unterwegs gewesen. Einige Tage später kamen auch die Stepener in Bargfeld an. Sie erinnerten sich, man hatte mit denen zusammen im Wald übernachtet. Die Stepener hatten an ihren Wagen die Schilder mit der Aufschrift „Rittergut Stepen".
Reinhold Wendland kam im September 1945 aus der russischen Gefangenschaft, hat bis zu seiner Rente bei der Familie Rathjen gearbeitet.
Ein Haus wurde gebaut. Kinder und Enkel fühlen sich hier im Aukrug zu Hause. Sie haben alle eine neue Heimat gefunden, nicht zuletzt durch die Mithilfe und Toleranz der Einheimischen.