Archiv:Aukrug vor und nach dem 1. Weltkrieg
Aukrug vor und nach dem 1. Weltkrieg
Obgleich durch die obrigkeitlichen Verschiedenheiten der königlichen und klösterlichen Hoheitsverhältnisse in den einzelnen Dörfern zu dänischer Zeit ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Einwohner nicht gerade gefördert wurde, so befanden sie sich in anderer Hinsicht alle in der gleichen Zwangslage, und das war die Abgeschiedenheit des Aukrugs: unwegsame Heide- und Moorgebiete in Richtung Nortorf und Neumünster, trennendes Bünzau- und Störtal nach Süden, große zusammenhängende Waldungen nach Westen und ein damals unpassierbares Niederungsgelände als Reste eines riesigen eiszeitlichen Staubeckens nach Norden. Kultur- und Handelszentren Neumünster, Rendsburg und Itzehoe waren weit entfernt. Nur eine Abzweigung des Ochsenweges durchquerte das Gebiet in nord-südlicher Richtung und eine Handelsverbindung von Dithmarschen nach Lübeck, die sogen. „Lübsche Trade", streifte es, ohne daß daraus eine wirtschaftliche Belebung ermöglicht werden konnte. Die Holzverschiffung aus dem waldreichen Aukrug auf der Bünzau von Bünzen aus hatte wohl zeitweilig eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung, aber der Charakter einer abseitsliegenden kargen Geestlandschaft konnte dadurch nicht verändert werden.
Die unverhältnismäßig dicht zusammenliegenden Dörfer mußten also wohl oder übel ein gewisses Eigenleben entwickeln und waren aufeinander angewiesen. Sie hatten wenig teil an dem jeweiligen wirtschaftlichen Aufschwung der Zeit, wohl aber immer vollen Anteil an Not- und Kriegszeiten, die über das Land hereinbrachen. Daraus erklärt sich auch der Wechsel in den Besitzverhältnissen. Nicht immer blieb der Hof in langer Generationenfolge in einer Familie. Alte Geschlechter vergingen und neue kamen! In den Häusern hingen die Bilder der dänischen Könige, denn die waren die Landesherren, aber trotzdem empfanden Hufner und Kätner, Knechte und Mägde, Handwerker und Hökerer deutsch und schleswig-holsteinisch.
Sie wollten nicht dänisch sein, aber auch nicht gerne preußisch. Sie wollten auch etwas mitbestimmen, aber nach 1866 kam eine Flut von Verfügungen von oben, die Veränderungen bis ins dörfliche Leben brachten. Man blieb abwartend und begann zu erkennen, wie sehr das königlich-preußische Patent von 1867 den Verlauf der schleswig-holsteinischen Geschichte verändern würde, auch das Leben im Aukrug. Aber man stellte sich nicht abseits, trotz der Enttäuschung über die verwehrte Selbständigkeit. Die Bauern blickten selbstbewußt und aufgeschlossen auf das, was die neue Zeit ihnen bringen werde, die sich ihnen politisch als das deutsche Kaiserreich und wirtschaftlich als ein großer Handelsraum mit neuen Ideen und dynamischer Kraft vorstellte.
Man lernte bald im Aukrug begreifen, daß der Gedanke „Einigkeit macht stark!" für einen landwirtschaftlichen Aufschwung förderlich sei. Fortschrittliche Bauern erkannten, daß manche Schwierigkeiten leichter zu bewältigen und manche Hindernisse besser zu überwinden seien, wenn man bereit sei, sich zu bestimmten Zwecken zusammenzuschließen. Der Genossenschaftsgedanke wurde lebendig, der Raiffeisengedanke begann zu zünden! Es gab vornehmlich im landwirtschaftlichen Bereich bald eine Flut von Genossenschafts- und Vereinsgründungen, so daß am Anfang des Jahrhunderts mehr als 25 Genossenschaften und Vereine im Aukrug zu zählen waren:
- Der landwirtschaftliche Verein an der Bünzau
- Die ländliche Fortbildungsschule
- Die Sparkasse an der Bünzau
- Der erste schleswig-holsteinische Waldverband
- Der landwirtschaftliche Konsumverein
- Die drei Meiereigenossenschaften
- 4 Dreschgemeinschaften
- Wasserleitungsgenossenschaft in Innien
- Wasserleitungsgenossenschaft in Böken
- Viehverwertungsgenossenschaft
- Elektrizitätsgenossenschaft
- Volksbibliothek
- Kuhgilde
- Schweinezucht- und Absatzgemeinschaft
- Ziegenzuchtverein
- Bünzer Ent- und Bewässerungsgenossenschaft
- Mastbrookaugenossenschaft
- Spar- und Darlehnsgenossenschaft
- Männergesangverein
- Düngereinkaufsgenossenschaft
- Hengstgenossenschaft
- Eierverwertungsgenossenschaft
- Bienenzuchtverein
- Telefongenossenschaft usw.
- Schweinegilde
- Freiwillige Feuerwehr
- Wasser- und Bodenverband
- Deutsches Rotes Kreuz
Die ungemein lebendig sprudelnde Antriebsquelle für diese erstaunliche Entwicklung war der „Landwirtschaftliche Verein an der Bünzau". Er konnte aber nur dadurch zur Wirkung gelangen, daß eine unternehmungsfreudige, aufgeschlossene Bevölkerung die Anregungen einer neuen Zeit aufnahm und realisierte. Einige bis in die Gegenwart bedeutsam gebliebene damalige Gründungen seien im weiteren Verlauf etwas eingehender behandelt:
Wasser- und Bodenverband, Meiereigenossenschaften, Männergesangverein, Elektrizitätsgenossenschaft, Deutsches Rotes Kreuz, Schweinegilde, Freiwillige Feuerwehr, Spar- und Darlehnsgenossenschaft.
In den Jahrzehnten des Friedens und des wirtschaftlichen Aufschwungs im neuen Reich söhnten sich die Schleswig-Holsteiner mit der Angliederung an Preußen aus, zumal der Prinz Wilhelm des hohenzollernschen Königshauses 1881 eine holsteinische Prinzessin heiratete und damit dynastische Beziehungen zu den Hohenzollern emotionell wirksam wurden. Hier in der Innier Kirche haben wir von dieser Prinzessin, der späteren Kaiserin Victoria, ja die Bibel geschenkt bekommen. So erklärt es sich auch wohl, daß immer mehr holsteinische Bauernsöhne sich freiwillig zum Eintritt in die preußische Garde-Kavallerie oder -Artillerie meldeten und dort gerne aufgenommen wurden (Hermann Carstens, Otto Blohm, Fritz Witt, Gebrüder Rathjen). Diese erfreuliche Entwicklung wurde dann jäh unterbrochen durch den Beginn des 1. Weltkrieges, der auch von unseren Vorfahren im Aukrug seinen Blutzoll forderte.
Der unglückliche Ausgang mit der anschließenden Inflation und der sofort auftauchenden dänischen Frage brachte Unruhe ins Land und beendete die wirtschaftliche Blütezeit. Zwar bedeutete die Geldentwertung für die Sachwerte besitzende Landwirtschaft zunächst eine Befreiung von alten Verschuldungen, aber dann führte der allgemeine Wirtschaftsrückgang doch zur Verschlechterung der Lage in der Landwirtschaft und damit auch im Aukrug. Es kam zu Konkursen, und der Unwille über die neue demokratisch-republikanische Staatsform wuchs. Wie immer in schlechten Zeiten, so wurden die Steuern und Abgaben als besonders drückend empfunden, und der Zorn der Landleute richtete sich gegen die Finanzämter des Staates. Es kam zur Entrollung der „schwarzen Fahne" der Not und zu gewalttätigen Demonstrationen in Neumünster, an denen auch Bauern aus dem Aukrug beteiligt waren. Der Staat kam ins Wanken, und radikale Strömungen beherrschten die Straße. Die Hitlerbewegung blieb siegreich und errang am 30. Januar 1933 die Macht.
Diese Veränderung wurde auch im Aukrug spürbar. Das Genossenschaftswesen wurde eingeschränkt und manche genossenschaftliche Vereinigung aufgelöst. Bäuerlich-wirtschaftliche Selbstentfaltung war nicht erwünscht, dafür autoritäre, Leitung von oben. Da aber auf der anderen Seite im Zuge der angestrebten Wirtschaftsautonomie gerade die Landwirtschaft besonders zu fördern war, wurden der ländlichen Entwicklung gute Möglichkeiten eingeräumt, die zu einer Verbesserung der bäuerlichen Betriebssituation führten. Feste Preise und gesicherte Abnahme begründeten eine stetige Aufwärtsentwicklung und eine zunehmende Technisierung.
Die Bedürfnisse der Bewohner wuchsen, Handwerk und Gewerbe entfalteten sich. Die Anzahl der Hökereien, d. h. der kleinen Verkaufsläden für Lebensmittel und Kolonialwaren und sonstige Gegenstände des täglichen Verbrauchs nahm zu. In Innien entwickelte sich sogar ein großes Warenhaus unter dem tüchtigen Kaufmann Richard Braasch, das alles führte, was auf dem Lande benötigt wurde, Lebens- und Genußmittel, Textilien, Leder- und Eisenwaren.
So hatte sich eine friedliche kontinuierliche Entwicklung aus dem 19. in das 20. Jahrhundert langsam und unter bedächtigem Festhalten an überkommene Formen vollzogen. Die Grundhaltung des ländlich-bescheidenen Lebenszuschnitts blieb bestehen. Das holsteinische Platt war die alle Bevölkerungsschichten umfassende Umgangssprache und deshalb noch durchaus lebendig. Unsere Aukrugbevölkerung war wohl geistig aufgeschlossen, wie es an der Wirksamkeit des „Landwirtschaftlichen Vereins" deutlich wurde, aber hing auch sehr am Althergebrachten. Die fünf Dörfer hielten eng zusammen, hatten sich in jahrzehntelangem hartnäckigem Ringen 1893 eine eigene Kirchgemeinde gegründet und waren bei ihren geselligen Veranstaltungen im Kriegerverein, Männergesangverein und Turnverein immer beieinander. Auch die etwas ungewohnte autoritäre, fast militärisch anmutende Regierungsart des Nationalsozialismus in den 30er Jahren konnte dieser festgewurzelten ländlichen Lebensform nichts anhaben. Man rangierte sich, paßte sich an, blieb aber bei einer im Kern konservativ-demokratischen Denkart.
Mit Sorgen sah man die Aufrüstung, die bedenklichen militärischen Einmärsche in Österreich, im Sudetenland, in Prag und wurde fast unmerklich in das gewaltige Kriegsgeschehen des 2. Weltkrieges hineingezogen. Wie jede Bevölkerung in jedem Land, so hoffte sie auch im Aukrug auf ein schnelles siegreiches Ende, um gesichert die friedliche Arbeit fortsetzen zu können. Erst allmählich ahnte man, daß keine der vielen wortreichen Prophezeiungen in Erfüllung gehen würde. Der Bombenangriff auf Hamburg 1943 brachte den Schrecken der Vernichtung der Zivilbevölkerung und ihrer Städte in greifbare Nähe und die erste Evakuierung in den Aukrug. Auch die letzten wehrfähigen Männer aus der Landwirtschaft wurden noch eingezogen, und viele mußten noch ihr Leben lassen.