Archiv:Georg Reimer zum 70. Geburtstag
Georg Reimer, Böken, dem Ehrenmitgliede des Kreisvereins für das Museum, zum 70. Geburtstag
von Dr. Harry Schmidt. Erschienen in: Heimatkundliches Jahrbuch 1952 für den Kreis Rendsburg.
Am 7. Februar 1952 wurde ein verdienstvoller Geschichtsforscher unserer engeren Heimat 70 Jahre alt: Der Lehrer Georg Reimer in Böken bei Innien. Als Sohn eines Landarbeiters in Ekenis (Kreis Schleswig) geboren, erhielt er den ersten Unterricht in der Volksschule seines Heimatdorfes. Anschließend genoß er die bis zum 1. Weltkrieg übliche Ausbildung des Volksschullehrers, indem er von 1897 an fünf Jahre lang die Präparandenanstalt in Apenrade und das Seminar in Eckernförde besuchte. Nach dem Militärjahrin Flensburg verwaltete der junge Lehrer mehrere einklassige Schulen, bis er zum 1. April 1904 die Schule in Böken übernahm.
Ihr hat durch mehr als vier Jahrzehnte seine gesamte dienstliche Tätigkeit gegolten. Neben ihr betätigte er sich auf verschiedenen Gebieten. Unter ihnen soll uns hier das wissenschaftliche besonders beschäftigen. Zur Geschichte, die ihn dann nicht wieder losließ, kam Reimer erst verhältnismäßig spât. Als Präparand, Seminarist und junger Lehrer huldigte er naturwissenschaftlichen Interessen. Er betätigte sich als Botaniker und legte ein Herbarium von 900 Pflanzen an, auch sammelte er Käfer und Schmetterlinge. Und dann kam 1905 die Wende. Nach einem Vortrage, den Reimer im Landwirtschaftlichen Verein an der Bünzau über die Flurnamen des Aukrugs, Kirchspiel Innien, gehalten hatte, sagte der Vorsitzende: "Herr Reimer, Se möt uns de Geschichte vun'n Aukrug schriewen!" Reimer hatte wohl gern Geschichte gelernt. Aber er empfand, wie er selbst sich gestand, daß ihm damals zum Heimatforscher jede Voraussetzung fehlte. Das mochte er aber, jung, wie er war, nicht öffentlich bekennen. Darum entgegnete er, um die Teilnehmer an der empfindlichsten Stelle zu treffen: "Dat kost awer veel Geld, un dat heff ick nih!" Doch der großzügige Vorsitzende, Amtsvorsteher Gloy, Innien, versicherte: "För dat Geld sorgt wi!" Da mußte Reimer sich geschlagen geben und sagte zu. Gloy hielt Wort und besorgte Jahr für Jahr ausreichende Beträge für Reisen und sonstige Unkosten.
Und nun begann Reimer mit der Forschung in den heimatlichen Archiven. Zuerst versuchte er sich im Archiv des Klosters Itzehoe, das Helene Höhnk gerade geordnet hatte. 1908 besuchte er zum ersten mal das Staatsarchiv in Schleswig, das er im Laufe der Jahrzehnte immer wieder aufsuchte. Bei der Schilderung der damaligen Verhältnisse erzählt Reimer gern die folgende bezeichnende Episode: 1908 war der Direktor Geheimrat Hille einige Tage als einziger Beamter im Archiv und schleppte eigenhändig für den Benutzer die Aktenbündel heran. "Herr Geheimrat, ich kann das nicht mit ansehen, wie Sie mir jungem Menschen die schweren Aktenpakete heranholen! Kann ich nicht mit Ihnen gehen und das Tragen übernehmen?" "Nein mein Lieber, in das Magazin kommt niemand hinein!".
Neben der Archivarbeit pflügte Reimer in diesen Jahren endlose Büchersendungen aus der Landesbibliothek in Kiel durch. Er wollte vor allem lernen, wie er das von ihm gefundene Aktenmaterial zu benutzen und zu einer Darstellung zu verarbeiten habe. Aber, wie er selbst bekennt, nur keinen berufenen Vertreter der Heimatforschung um Rat und Auskunft fragen! In dem Gefühl der Unsicherheit fürchtete er, daß man seine Unzulänglichkeit erkenne. Das war auch der Grund, daß er das Manuskript für den "Aukrug" niemandem vorlegte und daher die Korrektur seines ersten Werkes allein las. Er meinte, daß man ihn ja verbessern könne, wenn das Buch erschienen sei. Dann störe keine Kritik mehr das Erscheinen.
Und 1913 veröffentlichte er dann sein Erstlingswerk "Geschichte des Aukrugs. Kirchspiel Innien" im Selbstverlag. Es ist ein stattliches Buch von über 200 Seiten. Da es keine Vorarbeiten gab, hat Reimer alles allein geleistet. Die Darstellung ist anschaulich und lebhaft. Stets bemühte der Verfasser sich, die Quellen selbst sprechen zu lassen, und gab so ein ursprüngliches Bild. Ueberall ist die wissenschaftliche Literatur ausgewertet. Alles in allem eine Leistung, für die das Kirchspiel Innien, zumal da eine Uebersicht über die Besitzungen des Aukrugs angefügt ist, dem Autor zu Dank verpflichtet ist.
Nachdem Reimer am 1. Weltkriege vom 2. August 1914 bis zum bitteren Ende teilgenommen hatte, nahm er die schon vorher begonnenen Vorarbeiten für das "Heimatbuch des Kreises Rendsburg" wieder auf. Fast in allen Ferien fuhr er mit der Arbeiterwochenkarte nach Kiel und arbeitete Tag aus, Tag ein von 8 bis 17 Uhr, meistens ohne Unterbrechung, im Staatsarchiv. Das war seine Ferienerholung. Das Heimatbuch, das er mit dem Hauptlehrer Kleen in Westerrönfeld und Paul v. Hedemann-Heespen auf Deutsch-Nienhof herausgab, erschien 1922. Im allgemeinen Teil hat Reimer die Geschichte des Amtes Rendsburg und der Brandgilden beigesteuert. Im topographischen Teil sind sein Werk die Geschichte der Kirchspiele Nortorf, Innien, Schenefeld und Rendsburg-Neuwerk, auch werden ihm die sehr sorgfältig gearbeiteten Orts- und Personenverzeichnisse verdankt.
Von weiteren Veröffentlichungen Reimers seien je eine schul- und familiengeschichtliche genannt: "Propst Callisens Protocoll in Anschung der Schullehrer (1813-1860)" in der Festschrift zur 67. allgemeinen Schleswig-Holsteinischen Lehrerversammlung in Rendsburg 1927 sowie "Die Familien Ratjen/Rathjen aus dem Aukrug" (1936). Ferner bearbeitete er 1923 für die Festschrift St. Martin in Nortorf die Einkünfte der Kirche und ihrer Diener. Daneben erschienen viele Aufsätze in der Tagespresse, so der Landeszeitung, der Heimaterde, den Bildern aus der Heimat, ferner in der Schulzeitung und in der Zeitschrift "Die Heimat".
Verschiedene umfangreiche Arbeiten warten z.T. seit Jahrzehnten auf die Veröffentlichung, so die Schulgeschichte des Kirchspiels Schenefeld sowie die Flurgemeinschaft und Feldaufteilung desselben. Ferner nenne ich "Besitzer der Höfe in Lütjenwestedt von 1540 bis 1939", eine Arbeit, die er im Auftrage des jetzigen Landwirtschaftsministers Sieh durchführte, das Bauernbuch des Kreises Rendsburg, in dem für die Zeit von 1540 bis 1778 die Namen aller Besitzer der einzelnen Höfe des alten Amtes zusammengestellt sind, und schließlich "Mein Dorf". Die Arbeit enthält eine kurze Zusammenfassung der Geschichte Bökens und ist als Beispiel für die Dorfforschung gedacht. Als solches ist sie vom Schulbuchausschuß des Schleswig-Holsteinischen Lehrervereins angenommen, hat aber bisher keinen Verleger gefunden.
Vor einigen Jahren hat Georg Reimer die Herausgabe eines heimatkundlichen Jahrbuchs für den Kreis Rendsburg angeregt, das 1951 zum ersten Male erschien. Er steuerte gleich zwei Beiträge für den ersten Band bei: "Eine große Hochzeit in Böken" (1851) und "Das älteste Einwohnerverzeichnis des Amtes Rendsburg von 1540". Seitdem er im Ruhestand lebt, verfolgt er längst gehegte Pläne, deren Früchte z. T. dem Jahrbuch zugute kommen sollen. Nach wie vor ist die Archivarbeit, durch die immer wieder neue Quellen erschlossen werden, seine Freude. Vor allem macht er unermüdlich Auszüge aus den Amtsrechnungen und sammelt Material über Rendsburg und alle Dörfer des Kreises. Dabei ist es erstaunlich, wie oft es ihm gelingt, in anscheinend so nüchternen Archivalien Goldkörner aufzuspüren, wichtige Nachrichten zur Erkenntnis der politischen, Wirtschafts-, Rechts- und Familiengeschichte zu gewinnen. Auch die Vorgeschichte und die Geschichte der Kunst und des Kunsthandwerks werden von ihm, der seine Funde stets in uneigennütziger Hilfsbereitschaft Gleichstrebenden mitteilt und überläßt, bereichert, desgleichen die Volkskunde und das Wissen um das Volkstum.
Aber Georg Reimer ist ein self made man, um dies Wort einmal für einen Forscher zu verwenden. Ohne die methodische Schulung empfangen zu haben, welche die Universität und die Pädagogische Hochschule ihren Studenten als Rüstzeug für die wissenschaftliche Arbeit des Historikers übermittelt, hat er, ganz auf sich allein gestellt, sich selbst gebildet. Alles hat er, ohne Lehrmeister, ohne Hilfe von anderen, sich selbst erarbeitet.
Die Bahnen, die er einschlug, ging er ohne Führung. Und, ein seltener Fall, dank natürlicher Begabung und unermüdlichem Fleiß gelang es ihm, die Lüken seiner Ausbildung, die niemand schmerzlicher als er selbst empfand, zu schließen, die erforderlichen Kenntnisse sich anzueignen und wertvolle wissenschaftliche Ergebnisse zu erzielen. Trotz aller Erfolge aber blieb er stets der bescheidene Mann und gehörte, ohne je das geringste Aufheben von seiner Tätigkeit zu machen, allem "Betrieb", aller Geschäftigkeit abhold, zu den "Stillen im Lande". Der 70. Geburtstag bietet willkommene Gelegenheit, eine breitere Oeffentlichkeit auf Reimers umfangreiche und gründliche Forschungsarbeit hinzuweisen.
Anläßlich dieses Tages wurden ihm in Ansehung seiner großen Verdienste um die heimatkundliche Arbeit in Wort und Schrift, seine fruchtbare Erziehungsarbeit im Dorf und die Pflege des Heimatgedankens zwei Ehrungen zuteil: Der Kreisverein für das Museum in Rendsburg und der Verein "Die Heimat", dessen Zeitschrift er mehr als 50 Jahre ein regelmäßiger und sachkundiger Mitarbeiter war, ernannten ihn zu ihrem Ehrenmitgliede.
Es wird so oft gefordert, wird aber so selten Wirklichkeit, daß der Lehrer der Vertrauensmann, der Berater, der Führer seines Dorfes sein soll. Georg Reimer ist der Forderung gerecht geworden, weil er seinem Dorfe treu blieb. Er hat es nicht verschmäht, mehr als 4 Jahrzehnte in dörflicher Abgeschiedenheit sein Amt als Erzieher der Jugend auszuüben und seine reiche wissenschaftliche Tätigkeit als Heimatforscher, durch die er den Unterricht immer wieder befruchtete und belebte, zu entfalten. So konnte er in bald 50 Jahren mit dem Dorfe und seinen Bewohnern die engste Verbindung eingehen. Auch an Georg Reimer wurde der Spruch Paul v. Hedemanns wahr:
"Kannst Weitestem folgen, Im Engsten dich freun, Wirst viele geleitend Der Reichste du sein."
Ergänzungen in der digitalen Version (Stand 14. Mai 2021)
- Titelbilder des Jahrbuches und des Heimatbuches ergänzt.